„Ninotschka“ ist ein Film von Ernst Lubitsch mit Greta Garbo aus dem Jahr 1939, der – obzwar vor 82 Jahren gedreht und in Frankreich spielend – auf perfekte Weise die aktuellen Verhältnisse und die Entwicklungen in China widergibt. Was in dem Film über das Russland der Sowjet-Zeit ausgesagt wird, könnte heute nämlich auch im Reich der Mitte geschehen: Drei Beamte sind beauftragt, den konfiszierten Schmuck einer russischen Fürstin in Paris zu verkaufen, um die kommunistische Kasse zu füllen. Die Drei, Buljanoff, Iranoff und Kopalski, nützen die Gelegenheit jedoch, um das schöne Leben in Frankreich zu genießen. Daraufhin entsendet Moskau eine äußerst regimetreue Kommissarin, die die Lebenskünstler auf Linie bringen soll. Nachdem sie anfangs noch streng und asketisch ist, beginnt Ninotschka nach einer Weile, das westliche Leben zu schätzen, verliebt sich in den feschen Grafen Leon und bleibt schließlich nach einigen Turbulenzen im Westen.
Neue Säuberungen sollen die Macht des Zentralkomitees der KPC sichern
Die kommunistische Volksrepublik verfolgt eine Politik, die in Peking als „Marxismus chinesischer Prägung“ bezeichnet wird. Diese Formel besagt, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPC) allein und ohne Widerrede das Land regiert und auch auf internationaler Ebene überall, wo China aktiv ist, das letzte Wort hat, dem alle gehorchen müssen. Die Formel „chinesischer Prägung“ impliziert, dass das Land global agiert, Firmen in den entwickelten Industriestaaten kauft, das weltumspannende Transportnetz „Neue Seidenstraße“ betreibt, ein ebenfalls globales Stromnetz plant und in Afrika riesige Agrarflächen bewirtschaftet. Im Verständnis der KP Chinas ist es immer „der Staat“, „das Land“, also China, das alle Aktivitäten durchführt – der einzelne Mensch ist nur ausführendes Organ. Und selbstverständlich obliege dem Zentralkomitee der Partei die Kontrolle sämtlicher Aktivitäten dieser ausführenden Organe (man könnte auch sagen: Marionetten), so der unerschütterliche Glaube der KPC.
Die Realität sieht anders aus. Die Eroberung der Welt durch Übernahmen und das Schaffen von Abhängigkeiten wird von Menschen durchgeführt, die selbstverständlich froh sind, wenn sie weit weg von den Partei-Kontrolleuren ihres Heimatlandes das Leben in New York, Paris oder Berlin genießen können. Mit anderen Worten: Das Ninotschka-Syndrom lauert überall. Es ist also nur schlüssig, wenn der Präsident und Parteivorsitzende Xi Jinping beim kürzlich abgehaltenen Festakt zur Feier des 100jährigen Bestehens der KPC Disziplin von den Genossen einforderte. Diese Aufforderung scheint aus Sicht der Machthaber auch dringend nötig: Es macht sich nämlich im Lande liberales Gedankengut auf aufmüpfige Weise breit. Diejenigen, die im Ausland die Interessen des Reichs der Mitte vertreten beziehungsweise durchgesetzt haben, tragen ihre im Westen angenommenen Gewohnheiten in die Heimat und stellen den absoluten Partei-Gehorsam in Frage. Und so kündigte Xi in seiner Rede neuerliche Säuberungen an, die die Allmacht des Zentralkomitees sichern sollen.
Mit der Keule des Korruptionsverdachts werden Tausende ihrer Posten enthoben
Wie in China üblich, waren in die Festrede geschickt Botschaften eingebaut: „Wir müssen die Organisation der Partei straffen; wir müssen hart arbeiten, um hochrangige Funktionsträger zu bekommen, die moralisch integer und professionell kompetent sind, der Stärkung der Partei verpflichtet bleiben, die Integrität hoch halten, die Korruption bekämpfen, alle Elemente und Viren herausreißen, die die fortgeschrittene Natur der Partei und ihre Reinheit und Gesundheit gefährden.“ Diese Warnung richtete sich an alle Abweichler, die aufgrund ihres beruflichen Erfolgs und sozialen Aufstiegs meinen, eigenständig handeln zu können. Der Hinweis auf die Korruption ist entscheidend: Xi hat seit seinem Machtantritt im Jahr 2013 zehntausende Funktionäre mit Hilfe von Korruptionsverfahren von ihren Posten entfernt.
Auch das Militär darf die Allmacht der Partei nicht in Frage stellen
Auffallend war auch eine besondere Botschaft an die militärische Führung, die durch die konsequent betriebene Aufrüstung an Bedeutung gewonnen hat und nun glaubt, auch über Macht und Einfluss zu verfügen: „Wir werden umfassende Maßnahmen ergreifen, um die politische Loyalität unserer Streitkräfte zu verbessern, um sie durch Reformen und Technologie und durch Training von kompetentem Personal zu stärken, und wir werden die Armee gesetzeskonform verwalten.“ Gesetzeskonform verwalten heißt im Klartext, „die Armee dem Willen des Zentralkomitees der Partei“ zu unterwerfen.
Eine bestimmte Gruppe von Akteuren an die Kandare zu nehmen, ist jedoch noch essentieller für Xi Jinping.
Erfolgreiche Unternehmer werden in das Partei-Korsett gepresst
Eine besondere Gefahr für seine - von der Partei auf Lebenszeit bestätigte - Allmacht bilden offenbar die Spitzen der erfolgreichen Unternehmen. Daher verschwinden immer wieder in kurzen Abständen Milliardäre von der Bildfläche, von denen manche plötzlich handzahm und parteitreu wieder auftauchen, manche aber auch überhaupt nie wieder in der Öffentlichkeit gesehen werden. Dies geschah mit dem Hedge-Fonds-Manager Xu Xiang, dem Beteiligungs-Unternehmer Xiao Jianhua sowie mit Jack Ma, dem superreichen Gründer von „Alibaba“. Diese Praxis ist schon seit Jahren zu beobachten. Vor kurzem bekam die Disziplinierung der erfolgreichen Unternehmer allerdings eine neue Dimension: Jetzt werden die großen Firmen daran gehindert, auf den internationalen Kapitalmärkten aktiv zu sein, Aktien zu verkaufen oder Anleihen zu emittieren.
Aktuell befindet sich die Firma „Didi“, die mit Uber vergleichbar ist und 300 Millionen Kunden in China und vielen anderen Ländern hat, im Visier der chinesischen Behörden. Didi ist vor kurzem in New York an die Technologie-Börse Nasdaq gegangen und konnte durch den Verkauf von Aktien 4,4 Milliarden Dollar aufnehmen. Die chinesischen Regulatoren hatten Didi im Vorfeld aufgefordert, den Börsengang zu verschieben, doch weigerte sich das Unternehmen, diesem Wunsch zu folgen. Jetzt hat Didi ein Verfahren wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit am Hals mit der Begründung, dass die US-amerikanische Börsenaufsicht nun Kontrollrechte hat und somit die Gefahr bestehe, dass die Daten der Didi-Kunden in den USA landen. Die App-Stores in China mussten die Didi-App aus ihrem Angebot bereits entfernen.
Der Fall Didi ist nur der Start. Die chinesische Behörde für Cyber-Sicherheit hat bereits angekündigt, dass sie gegen weitere Firmen vorgehen werde, die bereits auf den internationalen Kapitalmärkten aktiv wurden oder Börsengänge planen. Die Unternehmen sollen ihren Geldbedarf bei den staatlich kontrollierten Banken decken.
Die Ein-Kind-Politik und „Urbanes China“ zeitigen katastrophale Folgen
Die Unruhe beschränkt sich allerdings nicht auf Chinesen mit Auslandserfahrung, hochrangige Offiziere und reiche Geschäftsleute. Die Unruhe hat mehr oder weniger die ganze Gesellschaft erfasst – und das aus gutem Grund.
- Die viele Jahrzehnte betriebene Ein-Kind-Politik hat vorwiegend zur Abtreibung von weiblichen Föten geführt. Somit sind heiratsfähige Frauen selten. Der kürzlich erfolgte offizielle Wechsel zur Zwei-Kind-Politik wird sich erst in zwanzig Jahren auswirken. Derzeit stehen die Familien der männlichen Heiratskandidaten noch schwer unter wirtschaftlichem Druck – schließlich sind die Frauen in der Minderzahl und darum heißt begehrt. Um die Familie der Frau zu überzeugen, muss der Bräutigam eine eigene Wohnung vorweisen können. Wohnungen sind in China jedoch sehr teuer, und so müssen die Eltern des Heiratskandidaten - zusätzlich zu den eigene hohen Wohnkosten - eisern sparen und langfristige Kredite aufnehmen, um ihrem Sohn eine Heirats-Chance zu eröffnen.
- Überhaupt sind die hohen Wohnungspreise ein Kernproblem Chinas. Mietwohnungen sind verpönt, alle wollen eine Eigentumswohnung. Um diese finanzieren zu können, brauchen die Haushalte generell mehr Geld, und dieser Umstand treibt die Lohnforderungen in die Höhe, denen die Arbeitgeber angesichts der rasch wachsenden Wirtschaft und der damit einhergehenden starken Nachfrage nach Arbeitskräften nachgeben müssen.
- Das mittlerweile deutlich gestiegene Lohnniveau ist bereits mit Beträgen vergleichbar, die etwa in Slowenien oder Portugal gezahlt werden, und es steigt weiter an. Es war aber das niedrige Lohnniveau, was den Ausschlag zur Verlagerung vieler Produktionsbetriebe aus Europa und den USA nach China gab. Dieser Vorteil der chinesischen Volkswirtschaft verflüchtigt sich nun - und so muss die Volksrepublik fürchten, dass Produktionen zur Gänze oder zumindest teilweise zurück in den Westen wandern.
Die hohen Wohnungspreise sind übrigens nicht zuletzt auch die Folgen einer verfehlten Politik (merke: Chinas Politik ist eben doch nicht so durchgehend vorausschauend und perfekt in der Planung, wie im Westen oft gedacht wird). Unter dem Motto „Urbanes China“ wurde seit der Jahrtausendwende systematisch die Verlagerung der Bevölkerung in die Städte forciert. Man wollte eine Gesellschaft schaffen, die in das Zeitalter der Industrie und der Dienstleistungen passt. Obwohl enorm viel gebaut wurde und wird, ist das Wohnungsangebot jedoch nicht groß genug, um die Preise zu drücken.
Das riesige Reich der Mitte ist von Nahrungsmittel-Importen abhängig
„Urbanes China“ hat die chinesische Landwirtschaft in die Krise getrieben. Das ehemalige Agrarland ist heute von Importen abhängig. Für die Einfuhr von Nahrungsmitteln musste China im vergangenen Jahr 170,8 Milliarden Dollar aufwenden, mit weiteren Steigerungen ist zu rechnen. Aktuell versucht die Kommunistische Partei einen Sanierungsplan für die marode Landwirtschaft umzusetzen und fördert den Aufbau von Großbetrieben. Gleichzeitig wird auch die Urbanisierung zurückgefahren. Allerdings ist die Korrektur der verfehlten Politik der vergangenen rund zwanzig Jahre nur schwer umzusetzen. Die ehemaligen Bauern wohnen nun in Wohnblöcken, oft Tür an Tür mit den Nachbarn aus dem verlassenen Dorf, und haben sich an die neuen Verhältnisse (das heißt den erhöhten Komfort, ohne die vertrauten menschlichen Beziehungen aufgeben zu müssen) gewöhnt. Die alten Gemeinden gibt es meist nicht mehr, und die von der Regierung derzeit forcierten Großbetriebe mit digital gesteuerter Hochtechnologie bieten keine sehr attraktiven Perspektiven für ehemalige Bauern.
Es ist für Xi alles andere als leicht, das Schreckgespenst einer angeblichen Bedrohung aus dem Ausland glaubhaft an die Wand zu malen
Chinas Präsident hat somit eine ganze Reihe an sozialen Krisen zu meisten, was zeigt, wie brüchig die Weltmacht (die sich dem Ausland gegenüber nur allzu gern als alles dominierendes Kraftzentrum präsentiert) in Wirklichkeit ist. Wie in Diktaturen üblich, werden in derartigen Phasen Bedrohungen aus dem Ausland erfunden, gegen die sich das Volk geeint mit der Politik zur Wehr setzen müsse. Und so verkündete Xi bei der 100-Jahr-Feier der KPC: „Wer immer versuchen will, China zu attackieren, zu unterjochen, wird auf eine große Stahlmauer, geschmiedet von 1,4 Milliarden Chinesen, stoßen!“
Da derzeit jedoch China von niemandem bedroht wird, verwies Xi auf den Opium-Krieg von 1840, der eine der übelsten Aktionen in der Geschichte des englischen Kolonialismus war: Ein britischer Unternehmer hatte Opium nach China gebracht, wodurch eine Gesundheitskrise entstand. Kaiser Daoguang ließ das Opium beschlagnahmen und ersuchte die britische Regierung, den Handel zu stoppen. Das Gegenteil geschah: Großbritannien führte zur Aufrechterhaltung des Opium-Händlers gegen das militärisch schwache Kaiserreich einen Krieg, der mit der vernichtenden Niederlage des Reichs der Mitte endete und es für die Dauer von rund hundert Jahren zu einer Art Kolonie des Westens degradierte.
Xi muss also schon 180 Jahre in der Geschichte zurückgehen, um seine 1,4 Milliarden Landsleute zu überzeugen, dass sie unter Führung der KPC geeint gegen einen ausländischen Feind antreten müssen und angesichts dieser Bedrohung die sozialen Krisen vergessen mögen. China selbst ist in den Worten von Xi ein friedliches Land: „Die chinesische Nation trägt keine aggressiven oder hegemonialen Züge in ihren Genen.“ Dass das Riesenreich seit Jahren eine Welteroberung mit wirtschaftlichen Mitteln betreibt und das zweitgrößte Militärbudget der Welt sein Eigen nennt – das erwähnte der chinesische Machthaber allerdings nicht.