Politik

Putins wankelmütige Impf-Strategie: Muss er sich einer Macht beugen, die stärker ist als er?

In Sachen Impfen und Impfzwang fährt Putin einen ziellosen Zickzackkurs. Warum das so ist, analysiert DWN-Kolumnist Ernst Wolff.
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avtor
01.08.2021 09:00
Lesezeit: 5 min
Putins wankelmütige Impf-Strategie: Muss er sich einer Macht beugen, die stärker ist als er?
Steht unter Druck: Wladimir Putin. (Foto: dpa)

Wladimir Putin gilt auch bei seinen Gegnern als besonnener Politiker, der sich vor allem in Krisenzeiten nicht so leicht erschüttern lässt und schon gar nicht zu überstürztem Handeln neigt.

Umso überraschender erscheint seine abrupte Kehrtwende in der Corona-Politik. Hatte er sich zu Weihnachten noch damit gebrüstet, dass man in Russland den besten Impfstoff der Welt besitze, Lockdowns nicht nötig seien und die Pandemie bis zum Herbst besiegt sein werde, so verfolgte er in den vergangenen Wochen einen politischen Zickzackkurs, den man von ihm nicht gewöhnt ist.

Mitte Juni ließ er seinen Sprecher Dmitri Peskow bei seinem Treffen mit US-Präsident Biden in Genf noch verkünden, über eine Impfpflicht werde „noch nicht gesprochen“. Gleichzeitig aber erlebten die Bewohner des Großraums Moskau eine gewaltige Überraschung.

Mindestens sechzig Prozent der Belegschaft müssen geimpft werden

Dort griff Bürgermeister Sergej Sobjanin, ein treuer Gefolgsmann Putins, mit aller Härte durch und führte die obligatorische Impfung ein, und zwar nicht nur in der russischen Hauptstadt, sondern in der gesamten Region mit ihren etwa zwanzig Millionen Einwohnern.

Die Impfung wurde zunächst für alle, die in ihren Berufen Kontakt mit Kunden, Gästen, Patienten oder Schülern haben, angeordnet. Unternehmen im Bildungssektor, in der Gastronomie, im Gesundheitswesen, im Einzelhandel oder im Nahverkehr wurden verpflichtet, mindestens sechzig Prozent ihrer Belegschaft impfen zu lassen.

Mittlerweile haben die Angestellten die erste Spritze mit den russischen Impfstoffen Sputnik V, EpiVacCorona, Covivak oder Sputnik Light erhalten; die zweite wird bis zum 15. August folgen. Dienstleistern, die die geforderte Quote nicht erfüllen, drohen Strafzahlungen und sogar die Schließungen derjenigen Filialen, deren Belegschaft nicht ausreichend durchgeimpft ist.

Einundzwanzig weitere russische Regionen haben das Impf-Ultimatum inzwischen übernommen, und Putin-Sprecher Peskow machte vor Kurzem klar, dass ein Ende der Kampagne nicht in Sicht ist. „Menschen ohne Immunität und ohne Impfung können nicht überall arbeiten“, sagte er und ließ keinen Zweifel daran, dass man in Zukunft auch vor weiteren Verschärfungen nicht zurückschrecken wird.

Putins Wankelmut und die russische Abneigung gegen Impfungen

Hatte Putin sich zunächst weitgehend zurückgehalten, so hat er sich inzwischen selbst mehrfach öffentlich zum Thema geäußert. Seine Worte zeigen allerdings alles andere als eine klare Linie.

Anfang des Jahres rief er die Bevölkerung im Fernsehen auf, sich impfen zu lassen. Zwar habe es schon immer Menschen gegeben, die Impfungen grundsätzlich ablehnten, so Putin, doch solche Impfskeptiker seien "nicht nur in unserem Land, sondern auch im Ausland" zahlreich. Er fordere die Russen daher auf, nicht "auf Leute zu hören, die davon nichts verstehen und Gerüchte verbreiten“, sondern ermahnte sie, den Experten zu vertrauen.

Ende Mai distanzierte er sich von der Idee einer Impfpflicht und nannte die Zwangsimpfung "unzweckmäßig und unmöglich". Die russischen Bürger müssten zwar verstehen, dass sie sich "einer sehr ernsten und sogar tödlichen Gefahr" aussetzten, wenn sie auf das Vakzin verzichteten, aber es sei nicht Aufgabe des Staates, sie zur Impfung zu nötigen.

Nach dem Gipfeltreffen im Juni schwenkte er jedoch um und verteidigte die verpflichtenden Impfungen zumindest auf regionaler Ebene. Er sei zuversichtlich, dass dadurch die jüngste Corona-Welle ausgebremst und ein landesweiter Lockdown verhindert werden könnten. Er wolle so verhindern, dass ganze Unternehmen schließen müssten und Menschen ihre Arbeit verlieren würden.

Beim russischen Volk ist Putins Wankelmut nicht gut angekommen. Seine Zustimmungswerte haben den tiefsten Stand seiner Amtszeit erreicht. Das verwundert kaum, denn die Impfskepsis in Russland ist groß, Umfragen zufolge lehnen sechzig Prozent der Russen eine Impfung rundheraus ab. Bisher haben sich nur 14 Prozent der Bevölkerung zweifach impfen lassen.

Warum also macht es sich Putin nicht einfach und gibt dem Druck aus dem Volk nach?

Der Druck des digital-finanziellen Sektors auf die Politik

Der Grund hierfür dürfte in dem Erdrutsch der globalen Machtverhältnisse in den vergangenen eineinhalb Jahren liegen, der das Gesicht der Welt von Grund auf verändert hat. Die Maßnahmen, die gegen die Ausbreitung von Covid-19 getroffen wurden, haben den Trend zur Konzentration von Geld und Macht in immer wenigeren Händen nämlich in einem nie dagewesenen Ausmaß beschleunigt, und zwar weltweit. Größter Profiteur dieser Entwicklung ist der digital-finanzielle Komplex.

Die Lockdowns und die Einschränkungen, die im Zuge der Krankheitsbekämpfung verhängt wurden, haben dafür gesorgt, dass die Macht der IT-Konzerne und einiger Finanzinstitutionen ins Unermessliche gewachsen ist. Die Marktkapitalisierung der fünf größten Digitalkonzerne Apple, Google-Mutter Alphabet, Microsoft, Facebook und Amazon liegt zurzeit bei sagenhaften 8,8 Billionen Dollar, allein die beiden größten Vermögensverwalter der Welt, BlackRock und Vanguard, verwalten zusammen 16,2 Billionen Dollar.

Russlands Bruttoinlandsprodukt (die Summe aller produzierten Waren und aller erbrachten Dienstleistungen) lag dagegen im Jahr 2020 bei ganzen 1,5 Billionen Dollar und damit unter dem Wert von Apple (2,1 Billionen Dollar), Google-Mutter Alphabet (2,1 Billionen Dollar), Microsoft (1,9 Billionen Dollar) und Amazon (1,7 Billionen Dollar).

Die genannten Konzerne verfügen aber nicht nur über unendlich viel mehr Geld als der russische Staat. Sie haben auch mehr Macht, denn sie beherrschen den globalen Datenfluss, dem sich auch Russland nicht entziehen kann. Sie liefern zum Beispiel die Technologie, auf der das internationale Zahlungssystem Swift basiert, oder stellen wie Microsoft die Cloud (Azur), auf der der wichtigste Finanzrechner Welt, das Datenanalysesystem Aladdin des FED- und EZB-Beraters BlackRock, seine Informationen speichert.

Der digital-finanzielle Sektor macht vor Grenzen nicht halt

Das Wachstum und die Macht dieser Konzerne sind in den vergangenen achtzehn Monaten förmlich explodiert. Die Lockdowns haben Finanzdienstleistern, der Pharma-Industrie, dem Onlinehandel, den Internetplattformen und der digitalen Unterhaltungsindustrie nie gekannte Gewinne eingebracht, deren Einfluss auf den Rest der Gesellschaft in historisch einmaligem Ausmaß vergrößert und ihnen in ihrer Gesamtheit mehr politische Macht verschafft als jemals zuvor.

Es gibt heute auf der ganzen Welt keine einzige Regierung mehr, die es sich leisten könnte, sich dem Diktat des digital-finanziellen Komplexes zu entziehen. Das gilt nicht nur für die Staaten des Westens, sondern auch für den gesamten Osten, einschließlich China und Russland.

Gerade in China sehen wir, wie sehr die Digitalindustrie das gesamte Land beherrscht und wie sehr sie die Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19 für sich genutzt hat. Für Russland bedeutet das: Selbst, wenn Wladimir Putin es wollte, könnte er sich auf keinen Fall auf Dauer diesen Interessen widersetzen, denn Russland ist keine Insel, sondern über seine Wirtschaft sowohl mit dem Westen als auch mit dem Fernen Osten eng verknüpft.

Warum die Impfkampagne mit allen Mitteln vorangetrieben wird

Im vergangenen Jahr stand der digital-finanzielle Komplex vor einem riesigen Problem: Das Finanzsystem drohte nach 1998 und 2008 ein weiteres Mal einzubrechen. Da diesmal noch höhere „Rettungsgelder“ als zuvor nötig waren, die Menschen aber vor allem in der Eurokrise mitbekommen hatten, dass es sich bei ihrer Vergabe um eine gigantische Verteilung von unten nach oben handelte, suchte man händeringend nach einer Ausrede.

Wie ein Geschenk des Himmels kam da der weltweite Lockdown, der die Weltwirtschaft im März/April 2020 zum Stillstand bracht und das Finanzsystem erschütterte. Die Wirtschafts- und Finanzkrise wurde umgehend zur „Corona-Krise“ erklärt, und alle weiteren Maßnahmen wurden mit der Verhinderung der Ausbreitung eines Virus begründet.

Doch die Zeit ist nicht stehengeblieben, und die Situation im globalen Finanzsystem ist heute prekärer denn je, denn die Rettungsmaßnahmen haben einen kritischen Punkt erreicht: Die globalen Zinsen sind bei null angekommen und die notwendigen Summen haben die Billionengrenze überschritten. Jedes weitere Rettungsgeld wird also direkt zur Anheizung der bereits heftig einsetzenden Inflation beitragen. Um dieses Problem zu lösen, arbeitet der digital-finanzielle Komplex mit Hilfe der Zentralbanken unter Hochdruck an einer Lösung – der Schaffung von digitalem Zentralbankgeld. Dessen Einführung aber braucht Zeit, und die muss überbrückt werden, ohne dass der digital-finanzielle Komplex an Macht einbüßt.

Genau hier kommt die weltweite Impfkampagne ins Spiel: Sie sorgt dafür, dass die Menschen in Angst verharren, die Digitalkonzerne ihre Macht weiter ausbauen, die Pharma-Industrie weiter riesige Gewinne einfahren (die EU hat gerade zwei Milliarden Dosen bestellt) und die Finanzinstitute die Abschaffung des Bargeldes weiter vorantreiben können.

Es ist ganz egal, ob man heute Angela Merkel, Joe Biden, Xi Jinping oder Wladimir Putin heißt - an den Hebeln der Macht bleibt in unserer Zeit nur, wer sich dieser Agenda beugt, und zwar ohne Wenn und Aber.

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Ernst Wolff, 69, befasst sich mit der Wechselbeziehung zwischen internationaler Politik und globaler Finanzwirtschaft.

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