Deutschland

Deutschlands Top-Ökonomen äußern sich zur höchsten Inflationsrate seit 1993

Neun deutsche Top-Volkswirte haben sich zur aktuellen Inflations-Situation geäußert. Einer der Ökonomen fordert deutliche Lohnerhöhungen, um die steigende Inflation auszugleichen.
29.07.2021 16:31
Aktualisiert: 29.07.2021 16:31
Lesezeit: 3 min
Deutschlands Top-Ökonomen äußern sich zur höchsten Inflationsrate seit 1993
Eine schwarz-rot-gold beleuchtete deutsche Euromünze spiegelt sich am Dienstag (24.07.2012) in Schwerin in einer Wasserfläche. (Foto: dpa) Foto: Jens Büttner

Die deutschen Verbraucherpreise sind im Juli so stark gestiegen wie seit 1993 nicht mehr. Waren und Dienstleistungen kosteten durchschnittlich 3,8 Prozent mehr als im Vorjahresmonat, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag zu seiner ersten Schätzung mitteilte. Von Reuters befragte Ökonomen hatten lediglich 3,3 Prozent erwartet. Sie sagten in ersten Reaktionen:

MARCEL FRATZSCHER, DIW:

„Es gibt keinen Grund, Angst vor Inflation zu haben. Die erhöhte Inflation im Vergleich zum Vorjahr war zu erwarten und ist eine gute Entwicklung, denn sie ist letztlich eine Normalisierung der Preise nach einer pandemiebedingt viel zu schwachen Preisentwicklung im vergangenen Jahr. Die Inflation dürfte in den kommenden Monaten hoch bleiben – das ist jedoch temporär der Fall und vor allem das Resultat des Auslaufens der Mehrwertsteuersenkung und des starken Verfalls der Energiepreise im vergangenen Jahr. Eine zu geringe Inflation wäre ein größeres Risiko als eine zu hohe Inflation.“

SALOMON FIEDLER, BERENBERG BANK:

„Der starke Anstieg lässt sich größtenteils durch die Rücknahme der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung erklären, die die Preise in der zweiten Jahreshälfte 2020 gesenkt hatte. Dieser Effekt kann für eine geschätzte Bewegung der Inflationsraten von 1,2 Prozentpunkten zwischen der ersten und zweiten Jahreshälfte verantwortlich sein. Im Jahr 2021 wird die Inflation zudem von einer Reihe weiterer Sonderfaktoren beflügelt, darunter die Einführung einer neuen CO2-Steuer zu Jahresbeginn, die Erholung der Ölpreise, nachdem sie auf dem Krisenhöhenpunkt im Frühjahr 2020 noch deutlich gesunken waren, und Angebotsengpässen bei der Wiedereröffnung der Wirtschaft.“

THOMAS GITZEL, VP BANK:

„Man sollte sich vorläufig an die höheren Teuerungsraten gewöhnen. Der Ausflug über die drei Prozent-Marke dauert länger. Wer nun aber einen nachhaltigen Teuerungsschub daraus ableitet, liegt falsch. Die Reduktion des Mehrwertsteuersatzes von 19 Prozent auf 16 Prozent im zweiten Halbjahr 2020 schlägt nun zu Buche. Die deutsche Bundesregierung hatte zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf die zeitweilige Steuerreduktion gesetzt. Da also Waren des täglichen Bedarfs im Jahresvergleich billiger waren, hat dies unmittelbare Folgen für die Inflationsrate – und zwar im gesamten zweiten Halbjahr 2021. Die Teuerungsraten werden also erst zu Jahresbeginn 2022 fallen – dann jedoch merklich.“

MICHAEL HEISE, HQ TRUST:

„Es sollte niemanden überraschen, wenn die Verbraucherpreise am Jahresende in Deutschland nahe bei fünf Prozent und ohne Mehrwertsteuereffekt bei vier Prozent im Plus liegen. Hinter dem Preisauftrieb stehen starke Verteuerungen verschiedenster Rohstoffe sowie Lieferengpässe bei wichtigen Vorleistungen, die zu langen Lieferzeiten und geringen Lagerbeständen geführt haben. Schon in den kommenden Monaten von einer Überwindung der Produktionsstörungen und der hohen Rohstoffpreise auszugehen, setzt einiges an Optimismus voraus – der Anstieg der Verbraucherpreise wird sich als persistenter erweisen, als es den Zentralbanken und den Finanzmärkten recht wäre. Die Europäische Zentralbank wird ihre sehr moderaten Inflationsprojektionen für 2021 (1,9 Prozent) und für 2022 (1,5 Prozent) aufgrund des beobachtbaren Preisanstiegs in Deutschland und anderen Euro-Ländern wohl anheben müssen.“

FRITZI KÖHLER-GEIB, KFW:

„Zwar sind die Preise in den Bereichen, die besonders stark von den Öffnungen profitieren, deutlich gestiegen, da die Konsumenten jetzt endlich das nachholen können, worauf sie während den Lockdown-Phasen verzichten mussten. Hinzu kommt, dass die Erzeugerpreise im Juni mit 8,5 Prozent so stark stiegen wie zuletzt während der zweiten Ölkrise 1982, was sich auf kurz oder lang im Portemonnaie der Verbraucher bemerkbar machen wird. Allerdings sind die höheren Erzeugerpreise auch vor allem Basiseffekten der wirtschaftlichen Erholung, etwa gestiegene Energie- und Rohstoffpreise geschuldet. Zusätzlich wirkt ab diesem Monat der Sondereffekt der Rückkehr zu den ursprünglichen Mehrwertsteuer-Sätzen im Vorjahresvergleich. Bis Jahresende dürfte dieser Effekt der Haupttreiber der Inflationsentwicklung sein.“

CHRISTOPH SWONKE, DZ BANK:

„Derzeit kommen mehrere Gründe zusammen, weshalb die Preise so stark anziehen. Der Rohölpreis liegt rund 70 Prozent über dem Niveau vom Vorjahr. Das sorgt für eine deutliche Verteuerung beim Tanken und Heizen. Außerdem schlägt die Rücknahme der temporären Mehrwertsteuersenkung nun voll zu. Auch die von der Pandemie besonders stark betroffenen Dienstleistungsbranchen wie Gastronomie, Hotellerie oder auch Friseure verlangen höhere Preise, um Versäumtes nachzuholen. Die aktuelle Entwicklung ist also vor allem auf Nachholeffekte zurückzuführen. Der Trend der hohen Preise dürfte sich im weiteren Jahresverlauf sogar noch verstärken – Inflationswerte über vier Prozent sind möglich. Im kommenden Jahr wird sich die Entwicklung aufgrund des Auslaufens der Basiseffekte vermutlich aber umkehren.“

JENS-OLIVER NIKLASCH, LBBW:

„Ein herber Anstieg, viel stärker als gedacht. Da fallen die Effekte aus der Wiederanhebung der Mehrwertsteuer und die Basiseffekte aus den Energiepreisen zusammen. Voraussichtlich haben wir damit noch nicht einmal den Höchstwert der Inflation im laufenden Jahr gesehen. Andererseits haben wir aufgrund der Pandemie kein wirkliches Inflationsklima, für das wir insbesondere kräftige Lohnerhöhungen sehen müssten. Viele Argumente sprechen daher weiterhin dafür, dass mit Beginn des kommenden Jahres die Inflationsraten wieder rasch fallen dürften.“

FRIEDRICH HEINEMANN, ZEW:

„Der erwartete starke Anstieg der Inflation hat begonnen. In den nächsten Monaten dürfte Deutschland den stärksten Inflationsschub seit drei Jahrzehnten erleben. Die aktuelle Inflation ist eine Folge der Pandemie und ihrer weltweiten ökonomischen Verwerfungen. Eine über viele Monate aufgestaute Nachfrage trifft derzeit auf ein immer noch begrenztes globales Güterangebot. Hinzu kommen höhere pandemiebedingte Kosten vieler Dienstleister und für Deutschland die Spätfolgen der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung vor einem Jahr, die jetzt zu einer höheren Inflation führen. Auch wenn etliche dieser Effekte nur vorübergehender Natur sind, darf man die Folgen und Risiken des starken Inflationsanstiegs nicht verharmlosen.“

RALPH SOLVEEN, COMMERZBANK:

„Die Inflationsrate in Deutschland ist im Juli von 2,3 Prozent auf 3,8 Prozent gesprungen und hat damit die Erwartungen deutlich übertroffen. Zu einem beträchtlichen Teil ist dies auf den Basiseffekt der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung vor einem Jahr zurückzuführen. Aber insbesondere bei den Warenpreisen hat sich auch der unterliegende Preisauftrieb zuletzt deutlich verstärkt. Wegen der anhaltenden Engpässe bei vielen Vorprodukten dürfte sich dieser Trend vorerst fortsetzen. Für eine auch längerfristig spürbar über zwei Prozent liegende Inflationsrate müssten allerdings auch die Löhne anziehen, wofür es bisher noch keine Anzeichen gibt.“

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Bundesbank: Deutsche Exportwirtschaft verliert deutlich an globaler Stärke
14.07.2025

Die deutsche Exportwirtschaft steht laut einer aktuellen Analyse der Bundesbank zunehmend unter Druck. Branchen wie Maschinenbau, Chemie...

DWN
Immobilien
Immobilien Gebäudeenergiegesetz: Milliardenprojekt für 1,4 Billionen Euro – hohe Belastung, unklare Wirkung, politisches Chaos
14.07.2025

Die kommende Gebäudesanierung in Deutschland kostet laut Studie rund 1,4 Billionen Euro. Ziel ist eine Reduktion der CO₂-Emissionen im...

DWN
Politik
Politik EU plant 18. Sanktionspaket gegen Russland: Ölpreisobergrenze im Visier
14.07.2025

Die EU verschärft den Druck auf Moskau – mit einer neuen Preisgrenze für russisches Öl. Doch wirkt die Maßnahme überhaupt? Und was...

DWN
Technologie
Technologie Datenschutzstreit um DeepSeek: Deutschland will China-KI aus App-Stores verbannen
14.07.2025

Die chinesische KI-App DeepSeek steht in Deutschland unter Druck. Wegen schwerwiegender Datenschutzbedenken fordert die...

DWN
Finanzen
Finanzen S&P 500 unter Druck – Sommerkrise nicht ausgeschlossen
14.07.2025

Donald Trump droht mit neuen Zöllen, Analysten warnen vor einer Sommerkrise – und die Prognosen für den S&P 500 könnten nicht...

DWN
Politik
Politik Wenn der Staat lahmt: Warum die Demokratie leidet
14.07.2025

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnt eindringlich vor den Folgen staatlicher Handlungsunfähigkeit. Ob kaputte Brücken,...

DWN
Politik
Politik Fluchtgrund Gewalt: Neue Angriffe in Syrien verstärken Ruf nach Schutz
14.07.2025

Trotz Versprechen auf nationale Einheit eskaliert in Syrien erneut die Gewalt. Im Süden des Landes kommt es zu schweren Zusammenstößen...

DWN
Finanzen
Finanzen Altersarmut nach 45 Beitragsjahren: Jeder Vierte bekommt weniger als 1300 Euro Rente
14.07.2025

Auch wer sein Leben lang gearbeitet hat, kann oft nicht von seiner Rente leben. Dabei gibt es enorme regionale Unterschiede und ein starkes...