Wie bewerten nun aber Völker anderer Erdteile, mit anderen Traditionen, Wertvorstellungen und historischen Erfahrungen, das militärische Eingreifen der Amerikaner und den rücksichtslosen „Export“ westlicher Vorstellungen?
Vietnam: Als die französische Kolonialmacht nach der Niederlage bei Dien Bien Fu ihre Kolonien in Indochina nicht mehr halten konnte, bat sie die USA, ihre Rolle zu übernehmen. Die Amerikaner rechtfertigten den Krieg, den sie schließlich in dem kleinen südostasiatischen Staat Vietnam führten, mit dem „Kampf gegen das Vordringen des Kommunismus“. Nach jahrelanger Bombardierung, Vergiftung der Wälder und verlustreichen Kämpfen mussten sie sich fluchtartig zurückziehen, weil der Freiheitswille eines kleinen Volkes stärker war als die hochtechnisierte Armee des mächtigsten Landes der Welt.
Iran: Als der demokratisch gewählte Präsident Mohammad Mossadegh sich weigerte, der britischen Kolonialmacht mehr von den Rohölgewinnen abzugeben, bat Winston Churchill die Amerikaner, Mossadegh zu stürzen und durch den Shah Mohammad Reza Pahlavi zu ersetzen. Mossadegh wurde mit brutalen Geheimdienstmethoden abgesetzt, aber schließlich musste das von Washington eingesetzte Schah-Regime fluchtartig weichen. So ähnlich geschieht es in diesen Tagen auch in Libyen, in Syrien, im Irak und in Afghanistan. Das militärische Eindringen der Amerikaner wird in diesen Ländern nicht als Befreiung empfunden, sondern als das Eindringen einer fremden Kultur.
In Lateinamerika besteht mit einer spanisch- und portugiesisch-sprachigen katholischen Kultur ein spürbarer Gegensatz zu der angelsächsisch-protestantischen Kultur der USA. Die Nordamerikaner werden von den Lateinamerikanern wegen ihrer Erfolge und ihres Reichtums vielleicht beneidet, aber mit dem Spott- beziehungsweise Schimpfwort „Gringos“ bedacht und alles andere als sonderlich geliebt. In Südamerika, das die USA zu ihrem „Hinterhof“ erklärten, verfolg(t)en sie eine besonders skrupellose Machtpolitik. Nach dem mit militärischen Mitteln erzwungenen Regierungswechsel in Guatemala im Jahr 1954 folgte keine Periode der Freiheit, sondern eine lange Zeit der Militärdiktatur in dem kleinen Land. Noch grausamer war der Regimewechsel in Chile mit der Ermordung des demokratisch gewählten Präsidenten Allende und der darauf folgenden brutalen Militärdiktatur von Pinochet. Als in Kuba die Revolutionsarmee Fidel Castros siegreich in Havanna einzog und das von den USA gestützte Batista-Regime fliehen musste, ging ein Aufschrei des Jubels durch ganz Südamerika. Von dem berühmten Schriftsteller Garcia Marques wird das lebhaft beschrieben. Ähnlich war es bei dem Sieg der Sandinisten in Nicaragua nach der Niederschlagung des grausamen, USA-hörigen Samoza-Regime. In Brasilien wurde die Regierung von Lula da Silva mit falschen juristischen Beschuldigungen gestürzt, ähnlich geschah es in Bolivien mit dem charismatischen indigenen Präsidenten Evo Morales.
Aber auch in Europa führten die USA einen Regimewechsel herbei – die Maidan-Proteste in der Ukraine konnten wir im Fernsehen beobachten. Kenner der Situation in der Ukraine wussten, dass die Ost-Ukraine russisch-sprachig ist und nicht von Russland-feindlichen Politikern aus Kiew regiert werden will, und dass die Krim ohnehin zu Russland gehört. Der gewählte Präsident Janukowitsch versuchte einen Kompromiss in der schwierigen Situation. Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstützte im Auftrag der EU als westlichen Wunschkandidaten des Putsches den Boxer Vitali Klitschko. Von amerikanischer Seite war der US-hörige Russenhasser Jazenjuk vorgesehen. Man erinnert sich an das Telefongespräch der Ukraine-Beauftragten der USA, Victoria Nuland: „I think, Klitsch is not the right man, our man is Jatze! Fuck the EU!“ Deutlicher kann nicht erkennbar sein, dass die Putsch-Präsidenten in verschiedensten Staaten nicht von dem betreffenden Volk, sondern von den Politikplanern der USA ausgewählt und eingesetzt werden.
Fazit
Wir kommen zurück auf die eingangs gestellte Frage, ob die Außenpolitik der USA von den Idealen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung geleitet wird – also von den Prinzipien der Gleichheit der Menschen sowie von der Freiheit der Völker, ihre Regierung selbst zu bestimmen -, oder doch eher von den geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der US-Eliten.
Für die erste Forderung nach gleicher Rechtsstellung der Menschen ohne Ansehen der Rasse ist das Bemühen der staatlichen Organe der USA unverkennbar, jede Form von Rassismus zu überwinden. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung beruhen auf der starren Beharrlichkeit vieler Menschen, an ihren gewohnten Urteilen und Empfindungen festzuhalten. Die richtigen Gesetze zur Überwindung des Rassismus sind da, und sie werden in den meisten Fällen auch angewandt.
Die zweite Forderung betrifft das Recht der Völker, eine schlechte Regierung abzusetzen, und eine andere zu wählen. Hier ist eindeutig zu sehen, dass die USA mit der irrigen Begründung der moralischen Überlegenheit den Völkern mit anderen Kulturen und geschichtlichen Entwicklungen nicht das Recht der eigenen Wahl der Regierungsform zubilligen, wenn dadurch ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen berührt werden könnten. Beim Sturz des chilenischen Präsidenten Allende nahm der damalige Nationale Sicherheitsberater Henry Kissinger kein Blatt vor den Mund: „Wir können einem unvernünftigen Volk nicht zubilligen, eine marxistische Regierung zu wählen!“
Als der Irak mit wirtschaftlichen Sanktionen in die Knie gezwungen wurde, starben dort eine halbe Million Kinder an Hunger. Die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright sagte dazu: „Der Preis war es wert!“
Die propagandistische Rechtfertigung zum Regierungssturz mit verdeckten Geheimdienstmethoden war immer die Warnung vor „kommunistischen“ Tendenzen der ungeliebten Regierung. Oft handelte es sich jedoch um Regierungen, die die Absicht verfolgten, die sozialen Verhältnisse im Land zu bessern – doch das interessierte die Amerikaner nicht.
Für uns Deutsche beziehungsweise uns Europäer ist die entscheidende Frage, ob wir bis in alle Zukunft die USA als unsere alleinige Schutzmacht zur Erhaltung „westlicher Werte“ betrachten wollen. Und wollen wir ihre Kriege, die dem Auswechseln von ungeliebten Regierungen und der Ausdehnung des NATO-Machtbereiches dienen, mit verlogenen moralischen Begründungen mitmachen? Wir sollten begreifen, dass es sowohl kleineren Völkern als auch Russland und China überlassen bleiben sollte, unter welcher Regierungsform sie sich Fortschritt, Sicherheit und Glück erhoffen. Die Erwartung, der Westen könne mit den „erprobten“ Methoden auch die Regierungen in Russland und China auswechseln, ist irrsinnig. Äußerst rasche Anerkennungen von mit USA-Unterstützung eingesetzten Putsch-Präsidenten - wie in der Vergangenheit Jazeniuk in der Ukraine, Guaido in Venezuela oder Jeanine Anez in Bolivien - durch die deutsche Rgierung sollten in Zukunft erst reiflich erwogen werden, weil sie katastrophale Folgen zeitigen können (wie allein ein rascher Blick in die Ukraine belegt).
Der allzu feste Glaube, wir seien als „Westen der Werte“ immer die „Guten“, macht blind und dumm, weil man nicht mehr die Argumente der Anderen hören will, sondern sie allzu rasch als „Propaganda“ abtut. Angesichts der Tatsache, dass nicht nur die USA eine hochgerüstete Supermacht sind, sondern Russland und China ebenfalls, wäre es leichtgläubig, dass wir Deutschen mit einer kleinen Aufstockung unseres NATO-Beitrages an der Seite der USA die beiden anderen in die Knie zwingen könnten. Kompromisse zwischen drei Gleichberechtigten zu finden, erfordert allerdings Politiker, die den Frieden als Ziel vor Augen haben, und nicht die imperiale Machterweiterung eines einzigen Akteurs.
Die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vorgebrachten Gedanken könnten als Leitsterne dienen. Sie betonen die Entscheidungsfreiheit der Völker, nicht die Vorherrschaft eines einzigen Staates gegenüber allen anderen - und das ist etwas, was man in den USA überhaupt nicht gerne zur Kenntnis nimmt.
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