Chinas Immobilien-Sektor boomt seit Jahren und macht mit 3,75 Billionen US-Dollar mittlerweile ein Viertel des chinesischen Bruttoinlandsproduktes aus. Seit einigen Wochen kämpft er jedoch mit immer größeren Problemen.
Im Zentrum der Krise steht der in Shenzhen angesiedelte Konzern „Evergrande“, dessen Schuldenlast auf mittlerweile mehr als 300 Milliarden US-Dollar angewachsen ist, was seinen Kurs an der Börse innerhalb von nur acht Monaten um über achtzig Prozent fallen ließ.
In der vergangenen Woche befürchteten viele Beobachter einen Crash wie den am US-Häusermarkt, der 2006 den Auftakt zur Weltfinanzkrise bildete. Da Evergrande nicht in der Lage war, 83,5 Millionen US-Dollar an Zinsen für eine fünfjährige Anleihe und 36 Millionen US-Dollar für eine weitere Anleihe zu zahlen, sprachen viele bereits von einem neuen Lehman-Brothers-Moment für die Weltwirtschaft.
Tatsächlich kam es sowohl in Europa als auch in den USA zu erheblicher Unruhe unter Investoren. Der Dow Jones, der Nasdaq und auch der DAX gaben zeitweise kräftig nach, doch der Crash blieb letztendlich aus, da die chinesische Regierung nach langem Zögern eingriff.
Damit sind die Probleme aber keinesfalls ausgestanden, denn die Möglichkeit eines Zahlungsausfalls schwebt weiterhin wie ein Damoklesschwert über Evergrande. Laut der Financial Times muss der Konzern bis zum Jahresende weitere 850 Millionen Dollar an Zinszahlungen leisten.
Wer ist Evergrande?
An seinem Jahres-Umsatz von fast 70 Milliarden gemessen ist Evergrande das zweitgrößte Immobilien-Unternehmen in China. Es entwickelt und verkauft Wohnungen hauptsächlich für Bürger mit höherem und mittlerem Einkommen. Obwohl der Konzern seinen Sitz in der Millionenstadt Shenzhen hat, ist die Holdinggesellschaft auf den Cayman Islands eingetragen.
Evergrande wurde 1996 in Guangzhou gegründet, beschäftigt etwa 123.000 Angestellte und hat einen Marktanteil von circa vier Prozent. Die phänomenale Entwicklung des Konzerns spiegelt sich auch in der Karriere seines Gründers Hui Ka Yan wider: Das Wirtschaftsmagazin Forbes kürte Hui 2017 mit einem Vermögen von 45 Milliarden Dollar zum reichsten Chinesen, er durfte beim Nationalen Volkskongress der regierenden Kommunistischen Partei auftreten, und sein Fußballklub war in der chinesischen Super-League sechs Jahre lang die unumstrittene Nr. 1.
Doch das Wachstum der chinesischen Immobilienbranche, der Hui seinen kometenhaften Aufstieg zu verdanken hat, war und ist alles andere als gesund. Es beruht zum einen auf staatlichen Konjunkturmaßnahmen und zum anderen auf dem Einsatz von geliehenem Geld, das zu einem großen Teil aus dem größten Schattenbankensektor der Welt und darüber hinaus von risikobereiten ausländischen Kreditgebern stammt.
Evergrande hat das Spiel mit geliehenem Geld sogar noch weitergetrieben, indem es sich durch das Frisieren seiner Bücher zusätzliche Regierungsgelder und darüber hinaus zur Finanzierung des Tagesgeschäftes sogar Kredite von den eigenen Angestellten beschafft hat.
Außerdem müssen Immobilienkäufer Evergrande-Objekte bereits bei Vertragsabschluss bezahlen, so dass das Geld für den Konzern immer schon vor der kostenintensiven Bauphase vorhanden ist.
Auf diese Weise hat man künstliches Wachstum erzeugt, die ständig zunehmenden Probleme übertüncht und sie so lange vor sich hergeschoben, bis sie unlösbare Dimensionen angenommen haben.
Es geht um viel mehr als den Immobiliensektor
Nach Aussage des Wall-Street-Journal-Kolumnisten James Mackintosh bildet „Evergrande die chinesische Wirtschaft in Miniatur“ ab. Tatsächlich sind es vor allem zwei Merkmale, die Chinas Wirtschaft und die aktuellen Probleme maßgeblich prägen.
Zum einen hat das Land die zentralistischen Strukturen aus der Zeit der Planwirtschaft übernommen und genießt damit gegenüber allen westlichen Wirtschaften einen erheblichen Wettbewerbsvorteil, denn es gibt ein viel engeres Zusammenspiel zwischen Staat und Großunternehmen. Zum anderen hat sich nach dem Übergang zum Kapitalismus im Gefolge des Tian‘anmen-Massakers von 1989 ein Schattenbankensystem entwickelt, das den großen Konzernen eine fast unbegrenzte Kreditaufnahme ermöglicht.
Beide Faktoren zusammen haben dazu geführt, dass Chinas Wirtschaft in den vergangenen drei Jahrzehnten rasant gewachsen und mittlerweile nach den USA zur zweitstärksten der Welt geworden ist. Wie sehr die zentralistischen Strukturen der Regierung helfen, in Krisenzeiten tief in das Geschehen einzugreifen, hat sich in der Krise von 2015 gezeigt.
Damals hat die chinesische Regierung den Börsensturz mit viel drastischeren Mitteln bekämpft als es im Westen möglich wäre. Zahlreiche Unternehmen wurden kurzerhand von der Börse genommen, große Unternehmen per Dekret vom Aktienhandel ausgeschlossen, Leerverkäufe verboten, uneinsichtige Broker ins Gefängnis gesteckt.
Seit 2015 hat sich das Gesicht der Weltwirtschaft allerdings entscheidend gewandelt. Sowohl der Finanzsektor als auch der Digitalsektor sind in nie dagewesener Weise gewachsen und verfügen heute nicht nur über viel mehr Geld, sondern auch über viel mehr Macht als damals.
Der Machtkampf im Hintergrund: Kommunistische Partei versus Wirtschaftsführer
Damit hat ein Prozess eingesetzt, der das Verhältnis zwischen der Kommunistischen Partei (KP) Chinas, die das Land seit der Revolution von 1949 diktatorisch beherrscht, und der Wirtschaft immer stärker zugunsten der letzteren verändert.
Diese Verschiebung des Machtverhältnisses aber wollen Xi Jinping und seine Gefolgsleute nicht hinnehmen. Um auch weiterhin fest im Sattel zu bleiben, haben sie vor einiger Zeit eine Art Feldzug gegen ihre neuen Konkurrenten begonnen.
Erstes Opfer in diesem Kampf war offensichtlich Jack Ma, der Gründer des Internet-Giganten Alibaba. Ma ist nicht nur einer der reichsten Männer seines Landes, sondern auch ein auch im Westen bestens vernetzter Unternehmer und zudem ein Young Global Leader des von Klaus Schwab geführten Weltwirtschaftsforums. Sein Kaltstellen durch die KP hat dazu geführt, dass die Kurse der großen chinesischen Digital-Unternehmen an der Börse eingebrochen sind.
Wie es aussieht, ist nun Hui Ka Yan ins Visier der (noch) allmächtigen KP-Führung geraten. Zwar sind die Probleme, die zu den Evergrande-Turbulenzen geführt haben, systemischer Natur, aber der Auslöser, der zu den Verwerfungen der vergangenen Tage und Wochen geführt hat, geht eindeutig auf die KP China zurück.
Deren Funktionäre in der Finanzbehörde haben nämlich neue Vorschriften erlassen, die als "drei rote Linien" bezeichnet werden: Sie haben über Nacht verfügt, dass das Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten nicht mehr als 70 Prozent betragen dürfen, dass das Verhältnis von Nettoverschuldung zu Eigenkapital unter 100 Prozent liegen muss und dass die Barmittel mindestens so hoch zu sein haben wie die kurzfristigen Schulden.
Den Verfassern dieser Verordnungen muss klar gewesen sein, dass Evergrande, dessen Geschäftsmodell auf dem kontinuierlichen Zufluss von Geld und der Erwartung eines weiteren Anstiegs der Wohnungspreise beruht, kein einziges dieser drei Kriterien erfüllen würde. Das heißt: Es handelt sich um einen gezielten Angriff der Politfunktionäre auf den Konzern.
Wie wird es weitergehen?
Die Attacke durch die KP China wird mit Sicherheit nicht die letzte sein, doch für die Funktionäre drängt die Zeit. Das chinesische Finanzsystem ist überaus fragil und wird, ebenso wie das globale Finanzsystem, nicht mehr lange zu halten sein.
Aus diesem Grund treibt Chinas Regierung ihr wichtigstes Projekt, die Einführung des digitalen Zentralbankgeldes, mit aller Macht voran – in der Hoffnung, so über chinesische Zentralbank Kontrolle über die Wirtschaft behalten zu können.
Ob das gelingen wird, werden die kommenden Wochen und Monate zeigen. Auf jeden Fall entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass das Schicksal des chinesischen und damit auch des globalen Finanzsystems zurzeit vom Kurs einer Partei abhängt, die sich in ihren Statuten auf Karl Marx und Friedrich Engels beruft.