Deutschland

Epidemiologe: "Nach der Pandemie ist vor der Pandemie"

Lesezeit: 7 min
07.11.2021 10:58  Aktualisiert: 07.11.2021 10:58
Wie ist das Management der Corona-Krise in Deutschland zu beurteilen? Was ist gut gelaufen, wo wurden Fehler gemacht? Diese Fragen beantwortet der Epidemiologe Prof. Dr. Timo Ulrichs, der an der Berliner Akkon Hochschule für Humanwissenschaften den Studiengang „Internationale Not- und Katastrophenhilfe“ leitet. 
Epidemiologe: "Nach der Pandemie ist vor der Pandemie"
Wie lange wird es solche Schilder noch geben? (Foto: dpa)

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Dr. Ulrichs, Sie sind sowohl Epidemiologe als auch Experte für Not- und Katastrophen-Hilfe. Wenn Sie auf die vergangenen knapp zwei Jahre zurückblicken: Wie beurteilen Sie Deutschlands Umgang mit der Pandemie? Was ist gut gelaufen, was nicht?

Timo Ulrichs: Ganz grob würde ich sagen, dass wir die Pandemie mittelmäßig gemanagt haben. Nicht so gut wie beispielsweise Finnland, wo viel früher ein effektiver Lockdown stattfand, und als Folge davon die Todesrate um mehr als 80 Prozent geringer liegt als hierzulande (auf 4.730 Einwohner kommt in Finnland, Stand 3. November, ein Toter, in Deutschland einer auf 866 Einwohner). Aber die Bundesrepublik war erfolgreicher als beispielweise Frankreich, wo ein Toter auf 569 Einwohner kommt, als Großbritannien (einer auf 482) sowie als die USA (einer auf 444).

Gut funktioniert hat die Kommunikation: Der Solidaritätsgedanke ist effektiv vermittelt worden. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat sich dann ja auch richtig verhalten, beispielsweise ziemlich konsequent Maske getragen - auf jeden Fall viel konsequenter, als das in anderen Ländern der Fall war. Das lässt sich vielleicht bis zu einem gewissen Grad auf die hierzulande herrschende Mentalität zurückführen: Die Deutschen sind nun mal ein Volk, das sich vergleichsweise bereitwillig an Regeln hält.

Auch die Medien haben sich überwiegend hilfreich eingebracht. Sie haben unter anderem den Alltag auf den Intensivstationen gezeigt – solche Bilder sind wirksam, um den Menschen vor Augen zu führen, wie ernst die Lage war beziehungsweise immer noch ist und welche schrecklichen Auswirkungen eine Infektion nach sich ziehen kann.

Aber natürlich ist auch einiges nicht so gut gelaufen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie das näher erläutern?

Timo Ulrichs: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte immer betont, dass irgendwann „the big one“, also die ganz große Pandemie, kommen würde. Die Frage war nicht ob, sondern wann.

Diese Warnung wurde in den Wind geschlagen. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der – letztendlich ja recht harmlosen – Schweinegrippe von 2009/2010, deren Auswirkungen geringer waren als die so mancher gewöhnlicher Grippe, wie sie regelmäßig vorkommt. Man hat sich vielleicht in dem Glauben gewiegt, ja, wiegen wollen, die Schweinegrippe wäre „the big one“ gewesen.

Aber auch ohne die WHO hätten die zuständigen Stellen gewarnt sein müssen. Der Bundesregierung hat nun mal der ausführliche und detaillierte „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ vorgelegen; darüber hinaus hatte es Bundesländer-übergreifende Katastrophenschutz-Übungen gegeben, was die Verantwortlichen auf die Gefahr hätte aufmerksam machen müssen – solche Übungen finden

ja nicht zum Spaß statt. Und dennoch standen zu Beginn der Pandemie letztes Jahr nicht genügend Masken und Schutzausrüstungen zur Verfügung. Das ist ein Versäumnis, das man den Verantwortlichen in der Politik, auch und gerade auf Bundesregierungs-Ebene, eindeutig ankreiden kann.

Der zweite und folgenreichste Fehler lag jedoch bei den Länderregierungen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Auch da bitten wir um eine nähere Erklärung.

Timo Ulrichs: Die zweite Welle, also die vom Winter 2020, hat die meisten Toten gefordert, circa 70- bis 80.000. Damals hätte man viel früher in den Lockdown gehen müssen, worauf die Bundesregierung – richtigerweise – ja auch drängte. Aber die Länderregierungen stellten sich quer, wogegen der Bund nichts machen konnte – schließlich ist der Seuchenschutz Ländersache, dem Bund fällt lediglich die Rolle als Moderator zu. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung ist an der föderalen Kompetenzregelung beziehungsweise deren Unübersichtlichkeit gescheitert.

Der Bundestag hat dann schließlich eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Aber zu spät, erst im Frühjahr 2021, als die zweite Welle schon über Deutschland hinweggefegt war.

Generell ist zu kritisieren, dass viele Maßnahmen getroffen wurden, die zu Lasten der jungen Generation gingen. Um die Alten zu schützen, war es sicherlich richtig, am Anfang Schulen und Kitas zu schließen. Um den Kindern wieder soziale Kontakte zu ermöglichen, hätte man anschließend aber alles daran setzen müssen, diese Einrichtungen sicherer zu machen, zum Beispiel mit geeigneten Lüftungsanlagen. Das ist jedoch versäumt worden – wie überhaupt die psychologischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen der Pandemie und der gegen sie gerichteten Maßnahmen, vor allem von der Bundesregierung, sträflich vernachlässigt wurden. Man schaute immer nur gebannt auf die epidemiologischen Zahlen, die Kollateralschäden wurden ignoriert.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Derzeit wird von einer vierten Welle gesprochen. Glauben Sie, dass wir die bekommen werden?

Timo Ulrichs: Ja, wir werden eine vierte Welle bekommen. Man könnte von einer „Pandemie der Ungeimpften“ sprechen – eine Pandemie, die übrigens völlig unnötig ist, weil ja genug Impfstoffe zur Verfügung stehen. Viele Menschen werden erkranken mit dem Risiko, dass diese Erkrankung einen tödlichen Verlauf nimmt. Natürlich nimmt das für eine erneute starke Ausbreitung des Virus´ notwendige Reservoir an Ungeimpften angesichts der steigenden Zahl an Geimpften kontinuierlich ab, aber eben nicht in dem Maße, wie es notwendig wäre, um eine erneute Welle zu verhindern. In Portugal sind mittlerweile 98 Prozent der Erwachsenen durchgeimpft, dort ist die Pandemie besiegt. Hierzulande ist das jedoch leider noch nicht der Fall. Darum rate ich auch – ganz besonders älteren Menschen – zur Drittimpfung.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Gefährlichkeit von Corona hinweisen: Tuberkulose, HIV und Malaria fordern pro Jahr im Schnitt jeweils zwischen 1,2 und 1,8 Millionen Todesopfer. Durch Corona sind innerhalb von weniger als zwei Jahren etwas mehr als fünf Millionen Menschen ums Leben gekommen – wobei die Dunkelziffer da noch nicht eingerechnet ist. In den USA wurde kürzlich die Marke von 675.000 Toten überschritten; das sind so viele, wie durch die Spanische Grippe in den Jahren 1918/19 insgesamt zu beklagen waren (wobei die Vereinigten Staaten damals circa 100 Millionen Einwohner hatten, heute sind es rund 330 Millionen – Anm. d. Red.).

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Polarisierung in unserer Gesellschaft nimmt immer mehr zu. Auch beim Thema „Corona“ stehen sich die Lager teilweise unversöhnlich gegenüber. Sie haben selbst auf eine Reihe von Zusammenhängen hingewiesen, hinsichtlich der man unterschiedlicher Meinung sein kann.

Timor Ulrichs: Natürlich ist das so. Ich möchte da nur auf den Ausspruch des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble hinweisen, der in einem Interview sagte: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

Darüber kann man natürlich diskutieren. Ein Mediziner wie ich sieht das möglicherweise anders als ein Jurist oder ein Philosoph. Grundsätzlich gilt: In vielen Bereichen muss abgewogen werden, sind Entscheidungen zu treffen. Nicht nur in Krisen wie jetzt der Pandemie: So werden auch in „normalen“ Zeiten beispielsweise Gesetze und Verordnungen hinsichtlich des Rauchens beschlossen, an dem laut Statistik pro Jahr 140.000 Deutsche sterben. Man kann natürlich versuchen, bestimmte Entscheidungen auf der Grundlage von mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu treffen, etwa: Wieviel Schaden würde diese Entscheidung anrichten, wieviel Schaden die Alternative? Wobei zum einen klar ist, dass solche Modelle die Realität nur begrenzt darstellen können. Und zum anderen, dass man immer wieder an einen Punkt gelangt, an dem nicht objektive Fakten, sondern moralische Erwägungen und normative Kriterien die Basis für die zu treffende Entscheidung darstellen.

Ich möchte noch auf etwas anderes hinweisen, nämlich das sogenannte Präventionsparadox. Es besagt, dass eine präventive Maßnahme, die für die Gesamtheit der Bevölkerung einen hohen Nutzen abwirft, dem Einzelnen oft nur wenig bringt - und umgekehrt. Im Hinblick auf die Bekämpfung von Corona ist das Verständnis dieses Prinzips sehr hilfreich. Darüber hinaus tendieren Menschen dazu, das Negative zu sehen. So auch hinsichtlich der Pandemie: Betont werden die Einschränkungen, die Nachteile, die mit ihrer Eindämmung einhergehen. Die Vorteile dagegen werden übersehen – und man verzichtet wohlweislich darauf, sich das Szenario vor Augen zu halten, mit dem wir konfrontierte wären, wenn wir keinerlei Maßnahmen gegen Corona getroffen hätten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was können wir aus den Ereignissen, die hinter uns liegen, aus dem Umgang mit Corona, aus den Fehlern, die gemacht wurden, lernen?

Timor Ulrichs: Ganz klar: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.

Wir können in keiner Weise vorhersehen, wann wir wieder von einer schlimmen Pandemie heimgesucht werden. Möglicherweise erst in 50 Jahren – vielleicht aber auch schon bald. Tatsache ist, dass wir lange keine schwere Grippe-Epidemie mehr hatten. Es gibt die Vogelgrippe, die vor rund einem Jahrzehnt Indonesien schwer zusetzte. Die Überlebens-Chance für Betroffene beträgt 50 Prozent – offensichtlich kein Wert, der dazu angetan ist, die Krankheit auf die leichte Schulter zu nehmen. Es ist notwendig, hier rasch einen Impfstoff zu entwickeln.

Angesichts dieser Risiken muss man das Auftauchen von Corona – so hart das auch klingen mag – im Nachhinein möglicherweise sogar als ein notwendiges Übel betrachten. Oder anders ausgedrückt: Es war vielleicht der Weckruf, den wir benötigt haben. Corona hat uns gelehrt, besser mit einer Pandemie umzugehen. Und zwar sowohl in wissenschaftlich-medizinischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die gesellschaftliche und politische Planung und Vorbereitung.

Ich bin auf jeden Fall dagegen, Gesetze zu verschärfen. Wir haben viele Einschränkungen erlebt, und wir sollten der Politik keinen Blanko-Scheck für Eingriffe in die Freiheitsrechte geben. Aber wir haben erlebt, wie aufgrund unserer föderalen Struktur der Bund nicht in der Lage war, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Sollten wir wieder in eine ähnliche Lage kommen, stünde es dem Bund in meinen Augen gut an, energischer darauf zu drängen, Kompetenzen übertragen zu bekommen. Und noch besser wäre es, wenn sich die Bundesländer jetzt schon, also vor Beginn der nächsten – potentiellen – Pandemie, dazu bereitfänden, bei Ausrufung eines nationalen Notstands ihre Kompetenzen auf den Bund zu übertragen.

Weiterhin müssen wir unser Gesundheitssystem so ausbauen und mit den notwendigen Ressourcen ausstatten, dass es auch in einer größeren Krise noch seine Funktion aufrechterhalten kann. Und wir sollten es zur gängigen Praxis machen, alle zwei bis drei Jahre länderübergreifende Katastrophenschutz-Übungen durchzuführen.

Und last but not least sollten wir üben, wie wir die Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur auch während einer Krise – wenn beispielsweise viele Kräfte wegen Krankheit und/oder Tod ausfallen – sicherstellen können.

Wichtig ist, dass das während der Corona-Pandemie Gelernte im Laufe der Zeit nicht wieder dem Vergessen anheimfällt. Darum wäre es sinnvoll, die betreffenden Gesetze da, wo es sinnvoll ist, bereits jetzt zu ändern beziehungsweise anzupassen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Dr. Ulrichs, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zum Interviewpartner: Prof. Dr. Dr. Timo Ulrichs (Jg. 1971) hat sowohl in Medizin als auch in Public Health (Öffentliches Gesundheitswesen) promoviert. Er ist Leiter des Studiengangs „Internationale Not- und Katastrophenhilfe“ an der von der Johanniter-Unfall-Hilfe getragenen Berliner „Akkon Hochschule für Humanwissenschaften“, wo er den Lehrstuhl für „Globale Gesundheit und Entwicklungszusammenarbeit“ innehat. Zu den Stationen seiner beruflichen Laufbahn zählen das Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie, die Berliner Charité sowie das Bundesgesundheitsministerium, wo er als Referent unter anderem für Seuchenschutz und die Influenzapandemieplanung zuständig war. Darüber hinaus ist er seit 2001 an wissenschaftlichen Kooperationsprojekten in Osteuropa beteiligt, insbesondere in Russland, Georgien und der Republik Moldau.



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