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Nach Merkels Abgang: Macron und Draghi planen neues EU-Machtzentrum

Lesezeit: 3 min
12.11.2021 12:46  Aktualisiert: 12.11.2021 12:46
Seit Draghi in Italien die Regierung übernommen hat, ist eine tiefe Verbindung zu Frankreichs Macron gewachsen. Die beiden planen gemeinsam, das neue Machtzentrum zu werden, sobald Merkel die Bühne verlässt.
Nach Merkels Abgang: Macron und Draghi planen neues EU-Machtzentrum
Schon 2019 war Präsident Macron voller Lob für den damaligen EZB-Chef Draghi. Nun entsteht ein neues Machtzentrum in der EU. (Foto: dpa)

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Im Februar wurde Mario Draghi zum italienischen Ministerpräsidenten ernannt. Seitdem hat der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank ungewöhnlich viel Zeit mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron verbracht, der zu einem der aggressivsten Kämpfer für eine Integration der Europäischen Union geworden ist.

So feierten die beiden Staatsoberhäupter am Abend des 2. September in Draghis 74. Geburtstag hinein. Fast vier Stunden dauerte das Treffen von Draghi und Macron in der Hafenstadt Marseille. Auf einer Terrasse mit Blick auf das Mittelmeer aßen sie zu Abend, und pünktlich um Mitternacht kamen die Kellner mit einer Geburtstagstorte für Draghi, die Macron bestellt hatte.

Das Zweiertreffen ist ein Zeichen für die tiefe Verbundenheit, die nicht erst in den letzten Monaten zwischen den beiden Männern entstanden ist. Und da Bundeskanzlerin Angela Merkel nach 16 Jahren an der Macht zurückzutreten wird, haben Draghi und Macron nun die Chance, die von der Deutschen hinterlassene Lücke zu füllen und mehr Einfluss auf die EU-Politik auszuüben.

Seit Februar hat Draghi schon fast zehn Stunden in bilateralen Treffen mit Macron verbracht, länger als mit jedem anderen Staats- und Regierungschef der Gruppe der 20. Zudem haben sich die beiden informell darauf geeinigt, vor wichtigen Gipfeltreffen miteinander zu sprechen, um ihre Positionen zu koordinieren, wie Bloomberg mit Verweis auf Insider berichtet.

"Draghi und Macron sind in Bezug auf die europäische Integration, einschließlich der Fiskalunion, wirklich einer Meinung", zitiert Bloomberg Nathalie Tocci, eine Gastprofessorin an der Harvard Kennedy School und Direktorin des Instituts für internationale Angelegenheiten in Rom. "Das ist ihre Basis, es nährt die Konvergenz zwischen ihnen. In diesem Punkt könnten sie nach Merkel das neue Machtzentrum werden."

Doch nicht nur im Hinblick auf die europäische Integration, die Draghi und Macron gemeinsam weiter vorantreiben wollen, sondern auch in anderen Bereichen könnten sich die beiden Politiker zum "neuen Machzentrum" in der Europäischen Union entwickeln. Als weitere Beispiele nennt Professorin Nathalie Tocci die grüne Agenda und die Digitalisierung.

Draghi und Macron sind sich einig, dass die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in den kommenden Jahren expansiv bleiben sollte, und sie wollen Merkels Nachfolger, höchstwahrscheinlich den Sozialdemokraten Olaf Scholz, dabei mit ins Boot holen, sagten Regierungsvertreter, die nicht namentlich genannt werden wollen, zu Bloomberg.

In der Außenpolitik hat Draghi Italien wieder zu einer traditionelleren euro-atlantischen Haltung zurückgeführt, was nach Ansicht von Nathalie Tocci, die einst Beraterin der ehemaligen Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Federica Mogherini war, wiederum zu mehr italienisch-französischem Aktivismus führen könnte.

Die Ansichten von Draghi und Macron über China und Russland stimmen ebenfalls überein, und in Bezug auf Libyen nähern sie sich immer mehr an. Bei einem ihrer ersten Treffen hatten sie die Idee, eine Konferenz zu veranstalten, um Möglichkeiten zur Stabilisierung des nordafrikanischen Landes zu erörtern, sagt ein Elysee-Beamter.

Wenn Frankreich in der ersten Hälfte des Jahres 2022 die halbjährlich wechselnde EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, wird Macron jede Hilfe brauchen, die er bekommen kann. Denn der französische Präsident hat zuletzt einige europäische Staats- und Regierungschefs verprellt, da er die EU bei der Verteidigung und sensiblen Technologien unabhängiger von Washington machen will.

"Die Europäer müssen aufhören, naiv zu sein", sagte Macron. In nicht-öffentlichen Gesprächen mit den Kommissaren hat der von der französischen Regierung ernannte EU-Binnenmarktchef Thierry Breton darauf gedrängt, Nicht-EU-Unternehmen von Industrieallianzen in den Bereichen Halbleiter, Cloud Computing und europäische Verteidigungsfinanzierung auszuschließen oder einzuschränken, wie Bloomberg berichtete.

Macrons Haltung ist seit dem demütigenden Verlust eines riesigen australischen U-Boot-Vertrags im September noch deutlicher geworden. Der Widerstand gegen Macrons Ansatz kommt vor allem aus den Staaten Osteuropas, wo man die USA in der Regel als Schutzschild gegen eine mögliche russische Aggression betrachtet und nur wenig Vertrauen in die Franzosen hat.

Natürlich werden Macron und Draghi die EU-Bühne nicht für sich allein haben, denn Polen ist der wichtigste Akteur im Osten der Union, die Niederlande sind traditionelle Gegner einer lockeren Geldpolitik, und der wahrscheinliche nächste Bundeskanzler Olaf Scholz und seine Koalitionspartner haben vielleicht nicht Merkels Autorität, aber auch sie werden sich auf europäischer Ebene durchsetzen wollen.

Zwar sind die Differenzen zwischen Draghi und Macron im Hinblick auf das Afrika südlich der Sahara erheblich. Ein Diplomat sagte, dass Italiens Widerstand gegen das Verhängen von Sanktionen gegen Mali die Bemühungen der Franzosen erschwere, Druck gegen die dortige Junta aufzubauen. Zudem hätten Macron und Draghi unterschiedliche Ansichten über Äthiopien und Somalia.

Doch insgesamt sind die Beziehungen zwischen Italien und Frankreich derzeit überaus reibungslos, was nicht immer der Fall war. So war die frühere italienische Koalitionsregierung unter der Leitung von Giuseppe Conte, die aus den Wahlen im Jahr 2018 hervorgegangen war, gegen eine stärkere europäische Integration, wie sie Macron vorschwebte.

Luigi Di Maio, der damalige italienische Vizepremier, machte die französische Wirtschaftspolitik für die afrikanische Emigration verantwortlich und traf sich mit Mitgliedern der französischen Protestbewegung der Gelbwesten. Italiens damaliger Innenminister Matteo Salvini stritt beim Thema Migration oft mit Macron und nannte ihn einmal "einen höflichen Jungen, der zu viel Champagner trinkt".

Die Franzosen neigen traditionell dazu, auf die Italiener herabzusehen. Doch das hat sich mit Draghi geändert, so ein Diplomat. Bereits 2019 lobte Macron den Italiener, als er bei der EZB eine Abschiedsrede für ihn hielt. Er lobte Draghis Vision, Ethik und intellektuelle Autorität und verglich ihn mit Konrad Adenauer und dem französischen Politiker Robert Schuman, der als einer der Väter der EU gilt.

Als die beiden sich im Juni in Brüssel persönlich trafen, begann eine neue Verbindung zu entstehen. "Die Tatsache, dass Draghi aus der Wirtschaft kommt, machte es einfacher, in Macron einen natürlichen Partner zu sehen. Draghi sieht die Welt eher aus wirtschaftlicher als aus außenpolitischer Sicht. Für Macron ist das jemand, der nicht nur die Beziehungen wiederherstellen will, sondern auch die nötige Qualifikation mitbringt", so Tocci.


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