Deutschland

Deutschland muss zurück zu Schröders Reformen - sonst wird es wieder der kranke Mann Europas

Lesezeit: 6 min
13.11.2021 10:56
Ronald Barazon warnt Deutschland davor, alte Fehler zu wiederholen und mit Milliarden um sich zu werfen.
Deutschland muss zurück zu Schröders Reformen  - sonst wird es wieder der kranke Mann Europas
Welch ein prächtiges Horn! Ein Füllhorn an Geld darf die Bundesregierung, trotz Corona, jedoch nicht über Deutschland ausschütten - dann wäre es mit der wirtschaftlichen Pracht rasch vorbei. (Foto: dpa)

Die deutschen Wirtschafts-Daten für das Jahr 2020 sind kürzlich veröffentlicht worden. Das heißt, die Nebel lichten sich, und man kann die Frage stellen, ob die Aufnahme von rund 250 Milliarden Euro öffentlicher Schulden im Corona-Jahr 2020 angemessen war. Dazu ist zunächst zu sagen: Im Nachhinein ist man immer klüger, und weil man sich noch niemals in solch einer epidemischen Lage befand, gab es keine Erfahrungswerte, die als Handlungsanweisungen hätten dienen könnten. Somit wäre eine nachträgliche Kritik an der Politik wenig hilfreich; allerdings gilt es, die richtigen Lehren aus den Ergebnissen zu ziehen für den Fall, dass man sich erneut mit ähnlichen Problemen konfrontiert sieht. Und die könnten früher einsetzen als bis vor kurzem noch gedacht, da aktuell eine neue Welle der Pandemie für einen starken Anstieg der Infektionen sorgt. Und sich für 2021 die Aufnahme von weiteren 150 Milliarden Schulden abzeichnet.

Eine neue, bisher unbekannte Begründung der Aufnahme von Staatsschulden

Staatsschulden sind differenziert zu beurteilen.

  • Nimmt die öffentliche Hand Fremdmittel auf, um eine Konjunkturschwäche durch staatliche Nachfrage nach Investitionen zu korrigieren, so sind Bedenken kaum angebracht.
  • Nicht nur die Nachfrage kann begründetermaßen gestützt werden, auch das Angebot. So ist beispielsweise die Förderung der Landwirtschaft in Mangelzeiten angebracht.
  • Fragwürdig ist eine Fremdfinanzierung des Konsums, die zustande kommt, wenn der Staat Schulden macht, um Renten und Arbeitslosengelder zu bezahlen. Dafür sind eigentlich die jeweiligen Versicherungen zuständig.
  • In der Corona-Krise entstand eine vierte Variante, die Aufnahme von Krediten und die Begebung von Anleihen, um Umsätze zu bezahlen, die nicht stattgefunden haben, sowie um Arbeitsstunden zu entlohnen, die nicht geleistet wurden. Begründet wurde diese Art der Wirtschaftspolitik durch die Lockdowns und die laufenden Einschränkungen.

Mit den Förderungen wurde eine Scheinwirtschaft aufrechterhalten

Dass hierbei übertrieben wurde, lässt sich beispielsweise an der Tatsache ablesen, dass im Jahr 2020 atypisch wenige Insolvenzen zu verzeichnen waren. Die Zahl ging von den in den Vorjahren üblichen rund 19.000 Firmenpleiten per annum auf knapp 16.000 zurück, während in einer Krise doch eigentlich eine Zunahme naheliegend wäre. Somit erfolgte eine angebliche Wirtschaftsleistung, die es ohne die Förderungen jedoch niemals gegeben hätte.

Zum Vergleich: In Deutschland entsprach der Rückgang der Insolvenzen knapp 16 Prozent. Im Nachbarland Frankreich kam es durch die Förderungen zu einer noch stärkeren Verringerung der Firmenausfälle um 39 Prozent, was zeigt, dass eine noch viel größere Scheinwirtschaft aufrechterhalten wurde.

Doch zurück zu Deutschland. Aufschlussreich ist die Relation der aufgenommenen Schulden von etwa 250 Milliarden Euro zu den entscheidenden Wirtschaftsdaten.

  • Die gesamte im Bruttoinlandsprodukt (BIP) abgebildet deutsche Wirtschaftsleistung betrug 2020 laut der vorläufigen Daten 3.370 Milliarden (3,37 Billionen) Euro und war somit um 4,6 Prozent geringer als der Vergleichswert 2019.
  • Die 250 Milliarden an Schulden entsprechen 8,4 Prozent des BIP. Nun wird es heikel. Nimmt man die 8,4 Prozent als künstlichen Beitrag zum BIP, dann hätte der Rückgang nicht 4,6 Prozent, sondern 13 Prozent betragen.
  • Diese Kalkulation würde wohl zu einem übertriebenen Ergebnis führen, aber man kann davon ausgehen, dass der Einbruch ohne die – wie gesagt, teilweise übertriebenen - Förderungen weit größer ausgefallen wäre als 4,6 Prozent.
  • Auch ist einzurechnen, dass ohne Corona Deutschlands Wirtschaft sicher um circa 1,5 Prozent gewachsen wäre.

Das heißt, man hat mit den 250 Milliarden Euro nicht nur sinnvolle Hilfe geleistet, sondern zum Teil auch eine Scheinwirtschaft aufrechterhalten. Diese Feststellung gilt für alle EU-Länder, die mit Milliarden-Aufwand die Folgen der Epidemie bekämpft haben. Der Erhalt einer Scheinwirtschaft geht zu Lasten der produktiven Wirtschaft, sodass die Gesamtwirtschaft leidet. Langfristig müssen die produktive Wirtschaft und die Privathaushalte die Finanzierung der Scheinwirtschaft über höhere Steuern und Abgaben ausgleichen. Steuern und Abgaben in ausreichender Höhe können allerdings in der Regel nicht in ausreichender Höhe erhoben werden. Die Folge: Durch das zusätzliche Geld, das in den Wirtschaftskreislauf gepumpt wurde, kommt es zur Geldentwertung, zur Inflation. Fakt ist: Die Preise lagen in den Euro-Ländern diesen Oktober bereits um über 4,1 Prozent höher als im Oktober 2020, in Deutschland dürfte im laufenden Monat November die Inflationsrate sogar fünf Prozent erreichen.

Zur Orientierung: Frankreich hat 2020 zusätzliche Schulden von rund 210 Milliarden Euro gemacht, das sind über neun Prozent des BIP, das deutlich kleiner ist als das deutsche. Zudem hatte Deutschland in den vergangenen Jahren einen ausgeglichenen Staatshaushalt verzeichnet und keine zusätzlichen Schulden aufgenommen. Die Wirtschaft war weiter gewachsen, sodass die Staatsschuldenquote in Relation zum BIP auf unter 60 Prozent gesunken war. 2020 dürfte die Quote allerdings auf 70 Prozent angestiegen sein. Frankreich, das auch in den Vorjahren Defizite verzeichnet hatte, musste Ende 2020 eine Staatsschuldenquote von etwa 116 Prozent des BIP ausweisen.

Man kann also zu dem Schluss kommen, dass sich Deutschland die 250-Milliarden-Aktion leisten konnte und auch mit weiteren 150 Milliarden im laufenden Jahr nicht in eine Schuldenkrise geraten wird. Schließlich steht das Land mit einer Schuldenquote in Relation zum BIP von 70 Prozent noch weit besser da als viele andere. Doch sind die Fragen zu stellen,

  • wieso sich Deutschland in dieser guten Lage befindet?
  • ob es richtig ist, so großzügig Subventionen zu verteilen, Umsatz- und Gewinnausfälle zu ersetzen sowie mit Kurzarbeitszahlungen Arbeitslosigkeit zu verhindern?
  • in welchem Ausmaß Hilfe notwendig ist, und inwieweit die Subventionen ein Faulbett schaffen, aus dem heraus die diversen Akteure die Herausforderungen des Marktes nicht mehr annehmen?

Der Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich ist aufschlussreich

Warum ist Deutschland so viel besser aufgestellt als Frankreich? Die Antwort ergibt sich aus der Entwicklung der vergangenen zwanzig Jahre. Zur Jahrtausendwende, wenige erinnern sich noch daran, galt Deutschland als der „kranke Mann Europas“ mit einer hohen Arbeitslosigkeit, einer wenig dynamischen Wirtschaft und einem wachsenden Schuldenberg. Die Korrektur erfolgte unter der Regierung Gerhard Schröder, Bundeskanzler von 1998 bis 2005, mit einem drastischen Reformprogramm, das vor allem die folgenden beiden großen Wirtschafts-Bremsen ad Acta legte:

  • Die Renten wurden verringert, und der frühe Abgang in die Rente war nicht mehr attraktiv.
  • Der Arbeitsmarkt wurde durch eine Senkung der Arbeitslosengelder sowie durch eine Lockerung des Kündigungsschutzes flexibler gestaltet.

Diese verschiedentlich als „brutal“ bezeichneten Änderungen löste einen Leistungsdruck aus, der in den nachfolgenden Jahren aus dem „kranken Mann“ die Lokomotive der europäischen Wirtschaft machte. Schröder verlor die Wahl 2005 als Reaktion auf den Reformdruck, doch seine Nachfolgerin Angela Merkel konnte fünfzehn Jahre lang von seinen Maßnahmen profitieren. Deren Folgen waren nämlich, dass Deutschland eine der niedrigsten Arbeitslosenraten in Europa verzeichnete, der Staatshaushalt von hohen Steuereinnahmen profitierte, die Staatsquote sank, die Schulden auf knapp unter 60 Prozent des BIP sanken und das Land zum Exportweltmeister mit jährlichen Handelsbilanzüberschüssen von mehr als 200 Milliarden Euro wurde. Selbst im Krisenjahr 2020 wurde ein Handelsbilanzüberschuss von 180 Milliarden Euro erzielt.

In Frankreich wurde oft und viel über die Notwendigkeit diskutiert, Reformen nach dem deutschen Vorbild umzusetzen. Allerdings gelang es keiner Regierung, sich gegen die Gewerkschaften und die öffentliche Meinung durchzusetzen. Wie stark der Widerstand gegen eine Rentenreform und eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes in der Bevölkerung ist, haben zuletzt die Demonstrationen der „Gelben Westen“ 2018 und 2019 gezeigt. Diese Bewegung ging spontan, ohne Organisation durch eine Interessenvertretung, aus dem Verlangen vieler Franzosen hervor, auf die Unterstützung des Staates zurückgreifen zu können. Das Ergebnis: Die geschilderte hohe Staatsverschuldung sowie eine deutlich geringere Wirtschaftsleistung von 34.000 Euro pro Kopf im Jahr 2019 gegenüber 40.000 in Deutschland unter Einrechnung der schwächeren Ergebnisse in den neuen Bundesländern. Frankreich leidet darüber hinaus unter einem chronischen Handelsbilanzdefizit – 2019 betrug das Minus 57 Milliarden, 2020 sogar 65 Milliarden Euro.

Verabschiedet sich Deutschland vom Prinzip der strengen Geldpolitik?

Der Vergleich der beiden großen Volkswirtschaften der EU zeigt deutlich, welche dramatisch unterschiedlichen Konsequenzen eine lockere und eine strenge Finanzpolitik haben. Betrachtet man nun die Geldschwemme, die die deutsche Politik im Jahr 2020 in Gang gesetzt hat, so erinnert dies an die Zeiten vor dem Jahr 2000, als auch in Deutschland das staatliche Füllhorn die Politik bestimmte. Kehrt nun Deutschland zu diesem Prinzip zurück, so bedeutet dies nichts Gutes, weder für die nationale noch für die europäische Wirtschaft. Finanzminister und somit Architekt der Geldschwemme war im Jahr 2020 Olaf Scholz, der in Kürze Bundeskanzler wird. Grundsätzlich vermittelt Scholz den Eindruck eines Realisten und Pragmatikers, sodass die Zeichen nicht unbedingt eine lockere Geldpolitik erwarten lassen. Allerdings ist Scholz SPD-Politiker und steht unter dem Druck vieler Parteigenossen, die die Reformen des SPD-Kanzlers Schröder bis heute als unsozial kritisieren und die positiven Auswirkungen auf die Folgejahre nicht zur Kenntnis nehmen (wollen). Scholz wird es schon aus diesem Grund nicht leicht haben, sich als legitimer Schröder-Nachfolger zu profilieren.

Außerdem wird er Regierungschef zu einem ungünstigen Zeitpunkt:

  • Die Corona-Epidemie hat einen neuen Höhepunkt erreicht, weswegen die Bevölkerung weitere Hilfen vom Staat erwartet.
  • Die Forcierung der alternativen Energieträger hat in Deutschland für Energie-Höchstpreise gesorgt und treibt das Land phasenweise, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, in eine schmerzhafte Importabhängigkeit. Übrigens: Die ungenügende Stromproduktion in Deutschland belastet ganz Europa.
  • Außerdem trifft Scholz auf Rahmenbedingungen, die es 2000 nicht gab. So haben die EU-Regularien in der jüngeren Vergangenheit für eine Behinderung des Bankwesens und somit für eine Kreditbremse gesorgt, die jeden Aufschwung hemmt.
  • Ebenfalls von der EU durchgesetzt wurden zahllose Regeln, die alle Unternehmen belasten.
  • Diese Flut an Vorschriften bekommt nun durch den aktuell umgesetzten „Green Deal“ eine starke Ausweitung, die in ihren Dimensionen noch gar nicht abzuschätzen ist.
  • Innerhalb der EU spielen die blockierenden Kräfte in Polen und Ungarn eine unrühmliche, aber äußerst spürbare Rolle.
  • Das Verhältnis zu Russland, das unter Schröder besonders gut war, steht unter Druck.
  • Die Weltmachtansprüche Chinas sind omnipräsent und in Deutschland besonders spürbar: Das erfolgsverwöhnte Exportland hat gegenüber China ein deutliches Handelsbilanzdefizit aufzuweisen.

Es wird nicht leicht sein, die Lehren aus der klugen Schröder´schen Wirtschaftspolitik umzusetzen, jetzt, da das Land unter dem Joch von Corona ächzt. Nicht zuletzt, weil in der Bevölkerung in dieser Situation der Ruf nach Vater Staat immer lauter ertönen wird. Dass Deutschland auch abgesehen von den volkswirtschaftlichen Themen vor großen Herausforderungen steht, erkennt man an einem markanten Ereignis: Im September wurden fast so viele Model 3 von Tesla wie VW-Golf verkauft. Der Exportweltmeister darf sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen – sonst wird er rasch wieder der kranke Mann, der er niemals wieder sein wollte.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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