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Nicht während der Flüchtlingskrise hat Merkel versagt - sondern in den Jahren danach

Hat Angela Merkel während der großen Krise 2015 wirklich versagt? Nicht unbedingt. Doch danach war die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin miserabel - und ist es bis heute geblieben.
14.11.2021 10:59
Aktualisiert: 14.11.2021 10:59
Lesezeit: 4 min
Nicht während der Flüchtlingskrise hat Merkel versagt - sondern in den Jahren danach
Noch-Bundeskanzlerin Angela Merkel. (Foto: dpa)

In einem Interview mit der Deutschen Welle hat Angela Merkel diese Woche eine bemerkenswerte Beurteilung ihrer Flüchtlingspolitik vorgenommen. Mit „Ja, wir haben das geschafft“, beantwortete die Noch-Bundeskanzlerin die Frage, ob Deutschland den Flüchtlingsstrom von 2015 bewältigt habe. Kritik wollte sie nicht gelten lassen. Zwar sei nicht alles „ideal“ gelaufen, aber insgesamt gäbe es doch viele „wunderbare Beispiele von gelungenen menschlichen Entwicklungen“. So müsse man nur an „Abiturientinnen und Abiturienten“ denken.

Jetzt stellt sich die Frage: Ist sich Merkel der Problematik, die mit dem Zustrom von fast 900.000 Migranten verbunden ist (insgesamt leben derzeit 1,856 Millionen Flüchtlinge in Deutschland, was knapp über der Einwohnerzahl von Hamburg liegt), nicht bewusst? Das würde bedeuten, dass Deutschland von einer Frau regiert wird, die realitätsblind ist, was Zweifel an ihrer Eignung aufwirft. Oder verklärt sie ganz bewusst ihre politische Leistung? Das wäre zumindest charakterschwach.

Tatsache ist: Mit der Aufnahme der Flüchtlinge hat sich die Bundesrepublik eine ganze Reihe von Problemen geschaffen. Das bedeutet nicht, dass Merkels damalige Entscheidung, die Grenze zu öffnen, unbedingt falsch war. Es ist gut möglich, dass es keine gangbare Alternative gab. Und es bedeutet auch nicht, dass in einigen Jahren, in ein paar Jahrzehnten, wir nicht froh sein werden über die zusätzlichen Arbeitskräfte, die damals – als kleine Mädchen und Jungen – in unser Land kamen. Deutschland hat eine Geburtenrate von 1,53 Kindern pro Frau – knapp über 2,0 bedarf es, um die Bevölkerung nicht schrumpfen zu lassen. Befürworter eines allgemeinen Bevölkerungsrückgangs übersehen oft, dass zwar in einigen Bereichen weniger Menschen tatsächlich gleichbedeutend sind mit weniger Bedarf und daher kein Problem darstellen – dass jedoch viele Bereiche der Infrastruktur (beispielsweise das Schienennetz) aufrechterhalten werden müssen unabhängig von der Bevölkerungsgröße. Insofern könnten sich die zusätzlichen Menschen in Zukunft durchaus als Glücksgriff erweisen („wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt“, wie Katrin Göring-Eckhardt, Vorsitzende der Bundestags-Fraktion der Grünen, es ausdrückte).

Aber: Wir befinden uns im Hier und Jetzt. Es zählt, was sich seit 2015 ereignet hat und was derzeit Stand der Dinge ist – und nicht das Jahr 2040 oder gar 2050.

Und da sprechen eine Reihe von Statistiken eine klare Sprache. Dass Flüchtlingsorganisationen, dass Medien, die das links-grüne Milieu bedienen, dass im linken Spektrum verortete Parteien, ja, selbst dass die Evangelische Kirche diese Statistiken ignorieren, kann ich bis zu einem gewissen Grad durchaus nachvollziehen. Aber dass die Kanzlerin über diese Statistiken hinwegsieht, das kann und das will ich nicht akzeptieren.

Ein paar Beispiele: Im Jahr 2019 bezogen zwei von drei erwerbsfähigen Syrern in Deutschland Hartz IV. Ihr Gesamtanteil an allen Hartz-IV-Empfängern betrug mehr als zehn Prozent. Von September 2018 bis August 2019 betrugen die gesamten Hartz-IV-Leistungen 34,9 Milliarden Euro – davon entfielen 6,1 Milliarden (entspricht 17,5 Prozent/ zum Vergleich: der Anteil aller Flüchtlinge an der Gesamtbevölkerung beträgt 2,23 Prozent) auf Menschen aus den acht wichtigsten Asylherkunftsstaaten.

Von 2015 bis 2017 stiegen die versuchten und vollendeten Straftaten gegen das Leben (Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, etc.) von 2.721 auf 2.971 (eine Zunahme von 250). Die Zahl der Taten mit Beteiligung von Zuwanderern stieg von 233 auf 447 (eine Zunahme von 214). Das heißt, ohne Zuwanderer hätte die Zunahme 36 Taten betragen. In Prozent ausgedrückt: Die Gesamt-Zunahme betrug 9,18 Prozent. Zuwanderer waren für eine Zunahme von 7,86 Prozent verantwortlich; Nicht-Zuwanderer waren für eine Zunahme von 1,32 Prozent verantwortlich.

Wenn Frau Merkel sich beharrlich weigert, solche Statistiken zur Kenntnis zu nehmen, befeuert sie die weitere Spaltung des Landes, die ohnehin schon groß genug ist. Sie bestärkt diejenigen, die jegliche Problematisierung der Zuwanderung als rechte Hetze diffamieren, wie sie auch diejenigen ermutigt, die auf Zuwanderung mit nichts anderem als mit dumpfem Hass reagieren.

Merkel ist an der Entwicklung selbstverständlich nicht alleine schuld. 2015 war es in unserem Land en vogue, sich auf die Brust zu klopfen und selbstgerecht als Gutmensch zu inszenieren. Verheerend und für das gedeihliche Zusammenleben langfristig schädlich war damals vor allem der Eifer, mit der die Neuankömmlinge als Lösung des Fachkräftemangels hingestellt wurden. Einheimischen Hartz-IV-Empfängern und Arbeitslosen wurde damals im Grunde gesagt, sie seien weniger qualifiziert und für den Arbeitsmarkt weniger zu gebrauchen als Menschen, die der deutschen Sprache nicht bis kaum mächtig waren und aus Ländern stammten, in denen das Ausbildungsniveau weit unter dem des in Deutschland Üblichen lag. Wobei in diesem Zusammenhang mit Fachkräftemangel häufig nicht der Bedarf an Mitarbeitern mit abgeschlossener Ausbildung gemeint war, sondern der Mangel an Akademikern. Ich kann mich erinnern an eine Presskonferenz in einem Seniorenheim, in dem es um den Fachkräftemangel ging (die Flüchtlingskrise hatte gerade ihren Anfang genommen). Ob vielleicht die Flüchtlinge zu Altenpflegern ausgebildet werden könnten, wollte eine Journalistin von der Heimleitung wissen. „Nein“, erhielt sie zur Antwort, das seien so gut wie alle Akademiker, „die sind auf der Suche nach Stellen für Studierte“.

Aussagen solcher Art und die ihnen zugrunde liegende Weltsicht waren und sind es, die – vor allem bei vom Glück weniger begünstigten Deutschen – die Ablehnung von Flüchtlingen geschürt haben und immer noch schüren.

Um auf die Kanzlerin zurückzukommen: Sie ist – wie schon gesagt – für solche Auswüchse nicht alleine verantwortlich. Sie muss sich allerdings ankreiden lassen, dass sie Flüchtlingspolitik nach Öffnung der Grenzen immer unter dem Aspekt der Wiederwahl gesehen hat. Besonders deutlich wird das beim Versäumnis der Einrichtung eines Integrationsministeriums. Das wäre dringend notwendig gewesen, um die Eingliederung der Neuankömmlinge mit aller Macht voranzutreiben. Doch das hätte möglicherweise bei der Wahl Stimmen derjenigen gekostet, die darin eine institutionalisierte Willkommenskultur gesehen hätten. Es hätte aber gleichzeitig auch Stimmen derjenigen kosten können, die eine solche Einrichtung vor allem als Instrument zur Gängelung der Flüchtlinge interpretiert hätten. Die einen wollten kein Fördern, die anderen kein Fordern – dabei wäre das die einzig richtige Methode gewesen, die Flüchtlingskrise zu einem guten Ende zu führen – für die Neuankömmlinge selbst, aber auch für das sie aufnehmende Land.

Die endgültige Beurteilung von Merkels Handeln während der großen Krise von 2015 wird erst in größerem zeitlichen Abstand möglich sein, vielleicht werden sich die Historiker nie abschließend einig werden. Ich wage jedoch vorherzusagen, dass sie über Merkels Flüchtlingspolitik nach 2015 kein positives Urteil fällen werden.

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