Seit ihrer Gründung im Jahr 2001 hat die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) ihre Kapazitäten und Mitgliederanzahl erweitert. Die Änderung der iranischen Mitgliedschaft vom Beobachterstatus ohne Stimmrecht zum Vollmitglied im September 2021 bestärkt aus Sicht einiger Beobachter den Ansatz, dass sich die SCO zu einer „Ost-NATO“ entwickelt, die in Konkurrenz zur NATO stehen werde.
Nach der Veröffentlichung der DWN-Analyse „Intermarium: Wie die USA und Russland Europa in Einfluss-Zonen aufteilen“ wurde unser Blatt von einigen unserer Leser auf die Entstehung eines „Warschauer Pakts des Ostens“ hingewiesen. Doch es gibt mehrere Gründe dafür, warum ein derartiges Projekt nicht umsetzbar ist.
Interoperabilität der Waffensysteme ist nicht vorhanden
Die Waffensysteme der NATO-Staaten sind interoperabel. Dazu führt die NATO auf ihrer Webseite aus: „Die Interoperabilitätspolitik der NATO definiert den Begriff als die Fähigkeit der Bündnispartner, kohärent, effektiv und effizient zusammenzuarbeiten, um taktische, operative und strategische Ziele zu erreichen.“ Diese Art der Politik ermöglicht es den NATO-Streitkräften, gemeinsame technische Verfahren und Kommunikationsstrategien umzusetzen, um synchronisiert auf Bedrohungen zu reagieren.
Eine militärtechnische Interoperabilität zwischen Russland, China, Pakistan, Indien, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan und dem Iran ist nicht umfassend gegeben.
Innerhalb der SCO gibt es große geopolitische Verwerfungen. Indien und China stehen sich im Himalaya gegenüber. China und Indien hatten 1962 einen zeitlich sehr begrenzten Krieg um ihre Grenze im Himalaya geführt. Seither gibt es immer wieder Zwischenfälle. Der Grenzverlauf bleibt nach wie vor ungeklärt. Neben der Region des östlichen Kaschmirs (Ladakh) herrscht auch Uneinigkeit über die mehr als 1000 Kilometer weiter östlich liegende Region Arunchal Pradesh, welche unter indischer Verwaltung steht. Den Ausbau einer Straßen- und Eisenbahnverbindung von China über Myanmar bis an den Golf von Bengalen betrachtet Neu Delhi als Bedrohung. Zudem kann nicht ausgeschlossen werden, dass China eine maritime Präsenz im Indischen Ozean ins Leben ruft, um seinen Handelsweg gen Westen zu sichern.
Indien und Pakistan stehen sich in Jammu und Kaschmir und in Afghanistan gegenüber. Die territorialen Streitigkeiten zwischen Islamabad und Neu Delhi können nicht durch einen direkten Konflikt gelöst werden. Stattdessen setzen beide Länder auf eine Strategie der permanenten Unsicherheit. Es ist denkbar, dass Indien und Pakistan im Rahmen eines Stellvertreter-Konflikts in Afghanistan Splittergruppen gegeneinander einsetzen, um möglicherweise die Grenzgebiete des Gegners zu infiltrieren. Militärische Verwirrungen finden im Regelfall entlang der sogenannten „Kontrolllinie (LoC)“ (im Nowshera-Sektor des Grenzbezirks Kupwara, etwa 222 km südwestlich von Srinagar) statt.
Chinas Interessen im Fernen Osten Russlands
Während ein Teil der politischen Literatur und Wissenschaft eine russisch-chinesische Allianz beschwört, sprechen die geopolitischen Realitäten eine andere Sprache. China benötigt Rohstoffe und landwirtschaftliche Flächen, um seine Existenz langfristig untermauern zu können. Die Rohstoffe und landwirtschaftlichen Flächen befinden sich unweit seiner Grenze – nämlich in Ost-Russland (Ferner Osten). Der „BBC“ zufolge lassen sich Tausende von Chinesen in den entvölkerten Gebieten Ost-Russlands nieder, um Siedlungen aufzubauen und das Land zu bewirtschaften. Sie stellen eigentlich einen positiven wirtschaftlichen Faktor dar.
Russlands Besorgnis wird insgesamt durch eine Kombination früherer chinesischer Ansprüche auf Territorien, die Russland im 19. Jahrhundert annektiert hat, und dem Kontrast zwischen dem dünn besiedelten Ost-Russland und den dicht besiedelten chinesischen Grenzregionen, die eine anhaltende chinesische Einwanderung erzeugt haben, geschürt.
Im Sommer 2020 veröffentlichte die russische Botschaft in Peking eine Erklärung zum 160-jährigen Jubiläum der Gründung von Wladiwostok. Dies führte zu einer Antwort des staatlichen Fernsehsenders „China Global Television Network“, wonach Wladiwostok auf dem Land liegt, das durch den „ungleichen Vertrag von Peking“ abgetreten wurde. Haishenwai sei jene chinesische Stadt gewesen, die durch Wladiwostok ersetzt wurde, argumentieren die Chinesen.
China erhebt laut „Global Security“ Ansprüche auf etwa ein Viertel Ost-Russlands. „Diese Ansprüche machen etwa neun Prozent des russischen Territoriums aus. Der russische Ferne Osten umfasst einen Teil Sibiriens sowie die große Pazifikküste und den Hafen von Wladiwostok. Die Küstengebiete sind am dichtesten besiedelt. Der Ferne Osten Russlands ist mit 6,9 Millionen Quadratkilometern riesig (…) Die Region Fernost umfasst 40 Prozent des russischen Territoriums und weniger als sechs Prozent der russischen Bevölkerung. In der Region gibt es viele Marine- und Raketenstützpunkte sowie Häfen, die die günstigste Möglichkeit bieten, Waren aus dem Rest Russlands in den Fernen Osten zu transportieren. Die Transsibirische Eisenbahn allein kann die Bevölkerung und Wirtschaft des Fernen Ostens nicht ernähren (…) Sensationelle russische Presseberichte warnten Anfang der 1990er Jahre, dass Millionen Chinesen Ostrussland in wenigen Jahrzehnten überrennen würden (…) Der Kreml steht vor einem fundamentalen Widerspruch zwischen seinen politischen Zielen und der wirtschaftlichen Realität: Er will seine Bevölkerung östlich des Urals als Bollwerk gegen China und Abgang in den Pazifik erhalten, doch trotz großer Entwicklungspläne sind die wirtschaftlichen Anreize für das Leben in der Region nicht existent.“
Was ebenfalls nicht bedacht wird: Das chinesische Projekt zur „Neuen Seidenstraße“ stellt eine Gefahr für die Eurasische Wirtschaftsunion (EEU) dar. Während Russland die Hauptrolle innerhalb der EEU spielt, müsste das politische und wirtschaftliche Zepter im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“ an China übergeben werden.
Die US-Denkfabrik „Carnegie Endowment“ berichtet: „Obwohl China für Russland immer wichtiger wird, wird Moskaus globale Außenpolitik immer noch stark von seinen Beziehungen zu den USA und Europa bestimmt. Die russisch-chinesische Partnerschaft ist kein Bündnis. Handelsbeziehungen führen nicht zu einer vollständigen wirtschaftlichen Integration. Russische Führungspersönlichkeiten erkennen, dass die größte geopolitische Herausforderung des Landes im 21. Jahrhundert im Osten liegt. Ohne Sibirien und die Pazifikküste würde Russland, wie es die Welt seit über 350 Jahren kennt, nicht mehr existieren. Das Land würde im Wesentlichen auf Moskau reduziert und würde einer anderen Ukraine ähneln.“
Die Manöver, die Russland und China gemeinsam durchführen, sollen ein Zeichen für gute militärische Beziehungen setzen. Doch eine Erhöhung der Interoperabilität auf der taktischen Ebene ist nicht zu beobachten. Wahrscheinlicher ist, dass die USA, die EU, Russland und die Türkei in einer späteren Phase an einem Strang ziehen werden, um Chinas Macht direkt oder über den iranischen Hebel zu begrenzen. Politiker, die in Moskau, Brüssel, Berlin, Washington oder Ankara anders denken, dürften alsbald eines Besseren belehrt werden, weil die geopolitischen Realitäten, die nicht ideologisch betrachtet werden dürfen, entscheidend sind.
China benötigt den Iran, um seinen Energiedurst zu stillen
Der Iran ist darauf bedacht, chinesische Investitionen anzuziehen, um seine Wirtschaft anzukurbeln. China will den Iran als Sprungbrett in den energiereichen Nahen Osten nutzen, um gleichzeitig von den Erdgas- und Erdölressourcen des Irans zu profitieren. Der Iran stellt für die Chinesen in gewisser Weise den Heiligen Gral dar, mit dem sie ihren Energiedurst löschen könnten. Doch je mehr sich der Iran China zuwendet, desto größer wird der Druck der USA auf den Iran ausfallen. Eine militärische Kooperation zwischen China und dem Iran würde sich bestenfalls auf den Export von chinesischen Waffen an die Regierung in Teheran erstrecken. Hinzu könnten vielleicht militärische Modernisierungsprogramme kommen. Allerdings weiß Peking nur zu genau, dass das Aufrüsten des Irans eine massive Aufrüstung Taiwans und der Anrainerstaaten des Südchinesischen Meeres nach sich ziehen würde. Weitere Schritte könnten folgen.
China würde sehr gerne alles auf eine Karte setzen, um den Iran für seine wirtschaftlichen und politischen Zwecke einzubinden. Doch das werden die Politikmacher in Peking nicht tun. Je mehr China auf den Iran als Dreh- und Angelpunkt seiner Außenpolitik setzt, desto größer wird der Druck in Taiwan, im Südchinesischen Meer und über Indien ausfallen. Auch an dieser Stelle erkennt man sehr schlechte Ausgangsbedingungen für die Schaffung einer „Ost-NATO“.
Fazit: Eine gemeinsame politische oder militärische Linie der SCO-Staaten ist nicht zu erkennen. Trotzdem kann das Forum sehr wohl dazu genutzt werden, um alte Konflikte möglichst schnell einzudämmen, bevor sie eskalieren.
Die SCO ist faktisch gesehen ein diplomatisches Forum – aber ohne eine effektive militärische Komponente.