Politik

Der Pan-Turkismus erwacht wieder zum Leben: Türkei und zentralasiatische Turkstaaten schließen gemeinsames Bündnis

Lesezeit: 4 min
26.12.2021 09:08
Die Turkvölker schließen sich zusammen. Ihr stärkstes Mitglied: Die Türkei. Die Großmächte müssen sich jetzt positionieren.
Der Pan-Turkismus erwacht wieder zum Leben: Türkei und zentralasiatische Turkstaaten schließen gemeinsames Bündnis
Von links nach rechts: Ilham Aliyev, Präsident von Aserbaidschan, Nursultan Nasarbajew, Präsident von Kasachstan, Sooronbaj Scheenbekow, Präsident von Kirgistan, Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, Schawkat Mirsijajew, Präsident von Usbekistan, und Viktor Orban, Präsident von Ungarn, beim Gipfel des Kooperationsrates der turksprachigen Staaten am 3. September 2018 in Tscholponata, Kirgistan. (Foto: dpa)
Foto: Uncredited

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Ich erinnere mich noch lebhaft an meine erste Reise in die Türkei im Jahr 1993. Nachdem die Sowjetunion zwei Jahre zuvor zusammengebrochen war, erhielten wir Kirgisen Zugang zu einer Welt, die wir uns bis dahin nur in unseren Gedanken ausmalen konnten. Wir alle hatten türkische Verwandte irgendwo im Westen, zu denen wir jedoch aufgrund der langen Trennung den Kontakt verloren hatten.

Für uns war die Reise eine emotionale Angelegenheit, und auf türkischer Seite gab es eine ähnliche emotionale Reaktion: Die Türkei war der erste Staat, der die Unabhängigkeit meines Landes und der anderen zentralasiatischen Sowjetrepubliken anerkannte.

Als ich damals auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul ankam, ging ich auf ganz gewöhnliche Türken zu und versuchte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Zu meiner Enttäuschung verstanden wir uns nicht. Mir wurde klar, dass - trotz der Ähnlichkeit vieler Elemente unserer jeweiligen Sprachen - die Unterschiede in der Aussprache sowie die vielen persischen, arabischen und lateinischen Wörter, die Teil des modernen Türkisch geworden waren, mich daran hinderten, mich mit diesen Menschen frei zu verständigen. Trotz einer gemeinsamen Kultur und gemeinsamer Traditionen hatte die Geschichte die türkischsprachigen Menschen nicht nur geografisch und sprachlich, sondern auch im Wesen getrennt.

Doch in den 30 Jahren seit der Unabhängigkeit der ehemals sowjetischen Turkstaaten hat eine allmähliche kulturelle Annäherung stattgefunden, und die Großmächte nehmen dies zunehmend zur Kenntnis. Der jüngste Schritt wurde auf einem Gipfel in Istanbul im November vollzogen, als sich die sieben Mitglieder des „Kooperationsrats der turksprachigen Staaten“ – Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, die Türkei und Usbekistan sowie Ungarn und Turkmenistan als Beobachter – in Organisation der Turkstaaten (OTS) umbenannten.

Die OTS erstreckt sich über 6.149 Kilometer von Ungarn bis Kirgisistan, hat eine Gesamtbevölkerung von über 170 Millionen und nennt ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von über 1,3 Billionen Dollar ihr Eigen. In Istanbul verkündeten die versammelten Staats- und Regierungs-Chefs, dass ein Bündnis, das auf tiefen Wurzeln, Verwandtschaft, Brüderlichkeit und politischer Solidarität beruht, die Zusammenarbeit in den Bereichen wirtschaftliche Entwicklung, Handel und Investitionen vorantreiben wird. Die Länder verpflichteten sich darüber hinaus, der Stärkung ihrer kulturellen und humanitären Beziehungen besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Im wirtschaftlichen Bereich werden sich die OTS-Mitglieder auf die Verbesserung der Verkehrskorridore zwischen Zentralasien, dem Kaukasus und der Türkei konzentrieren, die die kürzesten und wirtschaftlichsten Routen zwischen China und Europa darstellen. Hier kann sich die geografische Lage der Organisation von unschätzbarem Wert erweisen.

Auch die potenzielle künftige Zusammenarbeit der OTS-Staaten im Energiebereich ist von erheblichem geopolitischem Gewicht. Vier der sieben Mitglieder – Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Aserbaidschan – verfügen über bedeutende Kohlenwasserstoff-Reserven. Und die Türkei positioniert sich als Drehscheibe für die Lieferung von Energie-Ressourcen aus Russland und dem Kaukasus nach Europa.

Es ist kein Geheimnis, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Türkei zu einem zentralen regionalen Akteur machen will. Um dieses Ziel zu erreichen, könnte das Land eines von drei Modellen verfolgen: den Pan-Islamismus, den Neo-Osmanismus oder den Pan-Turkismus. Mit dem Pan-Islamismus haben die Türken in Saudi-Arabien und dem Iran ernsthafte Konkurrenten. Der Neo-Osmanismus ist keine realistische Option, weil die Türkei ihren Einfluss in ihren ehemaligen europäischen und asiatischen Gebieten verloren hat. Aber wenn es um den Pan-Turkismus geht, hat das Land keine Konkurrenten. So hat die Türkei kürzlich ihre besonderen Beziehungen zu Aserbaidschan gefestigt, indem sie das Land in seinem Krieg mit Armenien um Berg-Karabach im Jahr 2020 aktiv unterstützt hat.

Bisher gibt es jedoch keine Anzeichen dafür, dass die Türkei versucht, die türkische Welt zu dominieren, und selbst wenn sie es wollte, verfügen die zentralasiatischen Staaten über einen zu großen geopolitischen Handlungsspielraum. Da die Region heute Spielwiese für drei Weltmächte ist – Russland, China und die Vereinigten Staaten –, können die Zentralasiaten diese gegeneinander ausspielen.

Alle Staaten bauen Partnerschaften auf, um ihre innen- und außenpolitischen Prioritäten zu fördern. Und da die zentralasiatischen Länder Wert auf ihre multisektorale Ausrichtung legen, werden sie nicht all ihre Diplomatie auf nur eine Karte setzen. Stattdessen werden sie weiterhin mit Russland aus historischen Gründen, mit China wegen wirtschaftlicher Investitionen und mit den USA aus Sicherheitsgründen zusammenarbeiten.

Erdoğan, im Grunde seines Herzens ein Realist, ist sich dessen zweifellos bewusst und wird nicht versuchen, die anderen türkischen Länder ausschließlich im Sinne der Türkei umzuorientieren. Er spielt um mehr regionalen Einfluss, nicht unbedingt um die alleinige Führung.

Russland scheint diese Realität anzuerkennen und könnte sogar eine Vollmitgliedschaft in der OTS anstreben. Außenminister Sergej Lawrow hat bereits gesagt: „Ich sehe keine Probleme, wenn wir dieser Organisation beitreten.“ Und die Stärkung der Zusammenarbeit zwischen den ehemaligen sowjetischen Turkstaaten und der Türkei könnte auch die bilateralen Beziehungen der Türkei zu Russland stärken. Einige spekulieren sogar, dass sich die Türkei entschließen wird, zusammen mit Kasachstan und Kirgisistan der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion beizutreten (Usbekistan hat Beobachterstatus), anstatt zu versuchen, einer Europäischen Union beizutreten, die ihr die Tür verschlossen hat.

China seinerseits hat bis jetzt zur neuen türkischen Union eisern geschwiegen. Aber die Global Times, eine Zeitung, die unter der Schirmherrschaft der Kommunistischen Partei Chinas erscheint, veröffentlichte kürzlich einen Kommentar über die OTS, der die Befürchtungen der chinesischen Regierung zum Ausdruck gebracht haben könnte. „Diese Organisation“, so die Zeitung, „könnte den Aufstieg eines extremen Nationalismus fördern, der ethnische Konflikte verschärfen und die regionale Stabilität und Sicherheit beeinträchtigen könnte.“

Weiter fügte sie hinzu:

„Es gibt zudem unbegründete Behauptungen, dass die Uiguren in der autonomen Region Xinjiang der gleichen ethnischen Gruppe angehören wie die Türken. [...] China sollte wachsam bleiben gegenüber der Ausbreitung des Pan-Turkismus und des Pan-Islamismus, die die Organisation der Türkischen Staaten mit sich bringen könnte.“

Die Notlage der uigurischen Minderheit, einer türkischen Volksgruppe in der Provinz Xinjiang, ist für China unbestreitbar ein heikles Thema. Doch wenn die OTS dazu dient, die regionalen Wirtschaftsbeziehungen zu stärken und zu vertiefen und damit die Neue Seidenstraßen-Initiative des chinesischen Präsidenten Xi Jinping zu unterstützen, wird sie wahrscheinlich über Chinas Vorgehen in Xinjiang ein Auge zudrücken.

Der Westen hingegen hat sich bisher kaum zur OTS geäußert. Aber da das eurasische Schachbrett im Zuge des zunehmenden Wettbewerbs zwischen den Großmächten immer mehr an Bedeutung gewinnt, wird er wahrscheinlich nicht mehr lange schweigen.

Übersetzung: Andreas Hubig

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

Dschoomart Otorbajew war von 2014 bis 2015 Premierminister von Kirgisistan. 

Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Die Edelmetallmärkte

Wegen der unkontrollierten Staats- und Unternehmensfinanzierung durch die Zentralbanken im Schatten der Corona-Krise sind derzeitig...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Konfliktlösung ohne Gericht: Verbraucherschlichtung als Chance für Ihr Business
27.04.2024

Verabschieden Sie sich von langwierigen Gerichtsverfahren! Mit dem Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) senken Sie Ihre Kosten,...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Krieg in der Ukraine: So ist die Lage
27.04.2024

Wegen Waffenknappheit setzt der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, auf Ausbau der heimischen Rüstungsindustrie, um sein Land...

DWN
Finanzen
Finanzen Hohes Shiller-KGV: Sind die Aktienmärkte überbewertet?
27.04.2024

Bestimmte Welt-Aktienmärkte sind derzeit sehr teuer. Diese sind auch in Indizes wie dem MSCI World hoch gewichtet. Manche Experten sehen...

DWN
Finanzen
Finanzen EM 2024 Ticketpreise explodieren: Die Hintergründe
27.04.2024

Fußball-Enthusiasten haben Grund zur Freude: Es besteht immer noch die Chance, Tickets für die EM 2024 zu erwerben. Allerdings handelt es...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Deutschland als Unternehmensstandort: Zwischen Herausforderungen und Chancen
27.04.2024

Trotz seines Rufes als europäischer Wirtschaftsmotor kämpft Deutschland mit einer Vielzahl von Standortnachteilen. Der Staat muss...

DWN
Immobilien
Immobilien Deutschlands herrenlose Häuser: Eine Chance für den Markt?
27.04.2024

Herrenlose Immobilien - ein kurioses Phänomen in Deutschland. Es handelt sich hier um Gebäude oder Grundstücke, die keinen...

DWN
Finanzen
Finanzen Reich werden an der Börse: Ist das realistisch?
27.04.2024

Viele Anleger wollen an der Börse vermögend werden. Doch ist das wahrscheinlich - oder wie wird man tatsächlich reich?

DWN
Politik
Politik DWN-Kommentar: Deutsche müssen über Abschiebungen diskutieren - mit aller Vorsicht
26.04.2024

Liebe Leserinnen und Leser, jede Woche gibt es ein Thema, das uns in der DWN-Redaktion besonders beschäftigt und das wir oft auch...