Weltwirtschaft

KREISS ANALYSIERT: Armut und Hunger haben während der Pandemie massiv zugenommen - Unruhen drohen

Lesezeit: 3 min
06.01.2022 09:13
Die Preise für Lebensmittel sind im letzten Jahr im Zuge der Anti-Corona-Maßnahmen massiv gestiegen. Unruhen sind nicht mehr auzuschließen - nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch hier in Europa. Das hätten gravierende Folgen nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch die Wirtschaft und die Finanzmärkte.
KREISS ANALYSIERT: Armut und Hunger haben während der Pandemie massiv zugenommen - Unruhen drohen
Die Preise für Lebensmittel sind massiv gestiegen - darunter leiden die Armen in den Entwicklungsländern, aber auch in der entwickelten Welt. Geht die Entwicklung so weiter, drohen auch in Europa Unruhen. (Foto: dpa)

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Zunehmende Ungleichverteilung

Der alle zwei Jahre erscheinende „World Inequality Report“ („Bericht zur weltweiten Ungleichheit“) stellte am 7. Dezember vergangenen Jahres fest, dass die weltweite Ungleichverteilung durch die Lockdowns dramatisch zugenommen habe und sich heute wieder auf dem sehr hohen Niveau von Anfang des 20. Jahrhunderts, „dem Höhepunkt des westlichen Imperialismus“, befinde.[1] Wörtlich heißt es: „Seit 1995 hat der Vermögensanteil, der auf Milliardäre entfällt, von ein auf über drei Prozent zugenommen. Diese Zunahme wurde während der Covid-Pandemie verschärft. In der Tat war 2020 der stärkste Vermögensanstieg von Milliardärs-Vermögen in der Geschichte.“[2] Die untere Hälfte der Erdbevölkerung besitzt demnach gerade mal ein Fünfzigstel, also zwei Prozent des globalen Vermögens, die oberen zehn Prozent ziemlich genau drei Viertel (76 Prozent). Nach Zahlen der Allianz-Versicherung gehören 41 Prozent der Netto-Finanzvermögen den obersten ein Prozent, den obersten 10 Prozent 84 Prozent.[3] Die Covid-Politik hat demnach zu einer massiven Zunahme der ökonomischen Macht einer zahlenmäßig kleinen Elite der Erdbevölkerung geführt.

Erhöhung der Lebensmittelpreise

Am 2. Dezember 2021 veröffentlichte die FAO, die „Food and Agricultural Organization“ (Ernährungs- und Landwirtschafts-Organisation) der Vereinten Nationen in ihrem monatlich erscheinenden Bericht über die weltweiten Preisentwicklungen der Lebensmittel, dass die Preise im November 2021 um 27 Prozent höher lagen als im November 2020.[4] Verglichen mit den durchschnittlichen Lebensmittelpreisen der sechs Jahre von 2015 bis 2020 (Indexstand 95,3) waren die Lebensmittelpreise im November 2021 (Indexstand 134,4) um 41 Prozent höher als in den sechs Jahren zuvor.[5] Eine Teuerung von 41 Prozent: Das ist viel Geld für die ärmeren Schichten der Bevölkerung, vor allem in den Entwicklungsländern, aber durchaus auch für die Unterschichten in den Industrieländern. Die Lockdown-Politik hat also zu sprunghaft steigenden Lebensmittelpreisen geführt, was unmittelbar und massiv die Unterschichten benachteiligt. Grundnahrungsmittel sind heute nominal und real so teuer wie fast noch nie in der Nachkriegszeit.

Anstieg der Unterernährung

Im Oktober 2021 erschien der Welthunger-Index 2021.[6] Demnach stieg 2020 „nach Jahrzehnten des Rückgangs“ erstmals wieder die weltweite Verbreitung von Unterernährung stark an, und zwar von etwa acht Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 2019 (640 Millionen Menschen) auf ungefähr zehn Prozent (800 Millionen Menschen) im Jahr 2020, also ein Anstieg um etwa ein Fünftel oder fast 160 Millionen Menschen.[7] Bis November 2021 sind die Preise für Grundnahrungsmittel gegenüber dem Durchschnittspreis 2020 um 37 Prozent gestiegen.[8]

Bereits in einem kürzlich (Januar 2021) erschienen Bericht schätzte Oxfam, dass durch Corona beziehungsweise durch die gegen die Pandemie gerichteten Maßnahmen Ende 2020 mindestens 6.000 Menschen zusätzlich pro Tag an Hunger gestorben sein dürften.[9] Viele davon dürften Kinder gewesen sein. Im September 2020 sagte der damalige Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU): "An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr Menschen sterben als am Virus".[10] Ein wahres Wort. 2021 dürfte es angesichts der stark gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel und der zunehmenden Armut nicht besser geworden sein.

Was kommt auf uns zu?

Möglicherweise drohen 2022 hungerbedingte Unruhen wie 2007 während der Tortilla-Krise in Mexiko[11] oder Aufstände wie der Arabische Frühling ab 2010, der durch Zorn über stark gestiegene Grundnahrungsmittelpreise mit ausgelöst wurde, und die ganze Region in hohem Maße veränderte.[12]

Diese besorgniserregenden sozialen Entwicklungen treffen auf einen historisch einzigartig hohen Schuldenberg. Der IWF berichtete am 15. Dezember 2021, dass die weltweiten Schulden 2020 dramatisch angestiegen seien und mit 226.000 Milliarden US-Dollar (das sind 226 Billionen!) beziehungsweise 256 Prozent des Weltsozialprodukts einen neuen Rekord aufgestellt hätten.[13] Das heißt, die Verantwortung wurde in die Zukunft verschoben; wir haben zu Lasten der nächsten Generation gelebt – sie soll unsere Schulden eines Tages zurückzahlen.

Ich möchte dieses Szenario auf keinen Fall heraufbeschwören, sehe mich aber in der Pflicht, vor ihm zu warnen: Falls es aufgrund der weltweit zunehmenden Ungleichverteilung, steigender Lebensmittelpreise und wachsenden Hungers 2022 zu Unruhen, Protesten und Aufständen in größerem Umfang kommen sollte, könnte dies schnell Rückwirkungen auf die internationalen Finanzmärkte haben und auch beziehungsweise gerade in unserem reichen Europa eine Finanz- und Wirtschaftskrise auslösen.

[2] “Since 1995, the share of global wealth possessed by billionaires has risen from 1% to over 3%. This increase was exacerbated during the COVID pandemic. In fact, 2020 marked the steepest increase in global billionaires’ share of wealth on record”.

[6] Oktober 2021, Welthunger-Index, S.8: www.globalhungerindex.org/pdf/de/2021.pdf

[9] oxfamilibrary.openrepository.com/bitstream/handle/10546/621149/bp-the-inequality-virus-250121-en.pdf “It was estimated that at least 6,000 people would die every day from COVID-19-related hunger by the end of 2020.”

                                                                            ***

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de


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