Finanzen

Aktien auf Pump: Immer mehr Anleger versinken in Schulden

Lesezeit: 8 min
06.02.2022 10:30  Aktualisiert: 06.02.2022 10:30
Die zum Kauf von Aktien aufgenommenen Schulden – in der Fachsprache „Margin Debt“ – steigen derzeit auf astronomische Höhen. Wobei sich die Frage erhebt: Wie geht das eigentlich - Aktien auf Pump kaufen? Und daran schließt sich gleich eine weitere Frage an: Droht ein Aktien-Crash? Denn die Geschichte lehrt: Jedem Crash gingen bisher explosiv steigende Margin Debts voraus.
Aktien auf Pump: Immer mehr Anleger versinken in Schulden
In den vergangenen Monaten ist die Risikobereitschaft der Kleinanleger an den US-Börsen massiv gestiegen. (Foto: dpa)

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Wer bei einem Broker ein Konto eröffnet, hat in der Regel die Auswahl zwischen einem „Cash-Konto“ und einem „Margin-Konto“. Im Gegensatz zum Cash-Konto ist es mit einem Margin-Konto möglich, Wertpapiere wie Aktien und Derivate auf Kredit zu erwerben. Der Anleger zahlt dabei nur einen Teil (Margin, auf Deutsch „Einschuss-Zahlung“) der Gesamtsumme aus eigener Tasche. Den Rest des Kapitals stellt der Broker zur Verfügung, wobei ihm die Einschuss-Zahlung als Sicherheit dient. In der Finanzwelt spricht man von einem „Kauf auf Margin(-Kredit)“ oder auch „Margin-Handel“.

Wer ein Finanzprodukt (Aktie, Anleihe, Derivat) teilweise mit Schulden bezahlt, der spekuliert auf den sogenannten „Leverage-Effekt“, arbeitet also mit einem Kredit-Hebel. Wenn das Wertpapier genügend im Wert steigt, hat der Anleger Gewinn gemacht und kann den Kredit inklusive Zinsen locker bedienen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass der Anleger Probleme bekommen kann, wenn das auf Kredit erworbene Finanzprodukt (zu) stark an Wert verliert, statt – wie erhofft – an Wert zu gewinnen.

Tritt ein solcher Wertverlust ein, und zwar in dem Maße, dass die Margin nicht mehr ausreicht, um den Verlust zu decken und die Schulden beim Broker zu begleichen (und der Anleger auch keine Liquidität mehr nachschießen kann), kommt es zum Zwangsverkauf des Wertpapiers durch den Broker – in der Fachsprache „Margin Call“ genannt. Drohende Margin-Calls bei fallenden Kursen können sich selbst verstärkende Abwärtsspiralen auslösen: Wenn der Aktienmarkt stark fällt, kommt es zu einer hohen Zahl an erzwungenen Verkäufen, da viele Anleger aufgrund mangelnder Liquidität ihre Aktien verkaufen müssen (und zwar sowohl die auf Kredit erworbenen als auch unter Umständen regulär erworbene), um die Nachschuss-Forderungen des Brokers zu begleichen.

Margin-Konten bieten nach Auflagen der Finanzmarkt-Regulatoren in der Regel einen Hebel von eins zu eins. Das heißt, die für einen kreditfinanzierten Aktienkauf notwendige Einschuss-Zahlung beträgt 50 Prozent des Gesamtpreises des Aktienpakets. Wer also beispielsweise 10.000 Dollar auf ein Margin-Konto einzahlt, kann damit zusätzlich Aktien im Wert von 10.000 Dollar über einen vom Broker gewährten Kredit erwerben, insgesamt also für 20.000 Dollar.

Im heutigen Niedrigzinsumfeld kann ein Privatanleger bei großen Brokern einen Margin-Kredit für zwei bis drei Prozent Zinsen bekommen. Großkunden mit guten Beziehungen zum Broker können sogar noch bessere Zinssätze auf ihre Margin-Kredite aushandeln, wobei derzeit Zinsen von lediglich einem Prozent möglich sind. Die allerbesten Konditionen gibt es für professionelle Investoren (vor allem Hedgefonds), die über Großbanken Kredite mit bis zu 0,5 Prozent Zinsen bekommen können. Auch die Großbanken selbst sind mit ihren Eigenhandels-Abteilungen häufig mit einem starken Kredithebel am Aktienmarkt unterwegs.

Allerdings sind kreditfinanzierte Aktienkäufe nicht jedem Anleger zugänglich. Als Kleinanleger bekommt man nicht einfach so ein Margin-Konto. Vorher muss man explizit angeben, dass man Erfahrungen mit komplizierten Finanzprodukten hat, sich den Risiken des Margin-Handels bewusst ist und das private Vermögen eine bestimmte Grenze (meistens um die 50.000 Dollar) überschreitet. Außerdem haftet man mit seinem Vermögen, falls die Verluste auf dem Margin-Konto so groß werden, dass auch der Verkauf sämtlicher Wertpapiere auf diesem Konto nicht ausreicht, um die Schulden beim Broker zu begleichen.

Kredit-Hebel am Terminmarkt

An den Terminmärkten ist der Margin-Handel hingegen völlig normal. Die an diesen Märkten gehandelten Derivate sind Zukunfts-Geschäfte, die sich auf einen bestimmten Basiswert (zum Beispiel den Preis einer Aktie, eines Aktienindex´ oder eines Rohstoffs) beziehen – im Prinzip sind sie Wetten auf die Preisentwicklung dieses Basiswerts. Die meisten derivativen Finanzprodukte verfügen über einen Kredithebel. Bei Terminkontrakten braucht es häufig nur eine mehr oder weniger große Einschuss-Zahlung als Sicherheit für den Broker – diese reicht von gerade mal fünf Prozent bis hin zu 60 Prozent, je nach Finanzprodukt, Risikobewertung des Anlegers durch den Broker und regulatorischen Vorgaben.

Wer nun beispielsweise mit einer Margin von zehn Prozent einen Silber-Terminkontrakt abschließt über 1.000 Unzen im Wert von 23.000 Dollar (aktueller Preis einer Silberunze von 23 Dollar mal Tausend), wer also 2.300 Dollar investiert hat, der kann, wenn der Silberpreis zum vereinbarten Liefertermin gestürzt ist, beispielsweise auf 20 Dollar pro Unze, in Schwierigkeiten geraten. Er würde ja nur 20.000 Dollar erhalten (aktueller Preis einer Silberunze von 20 Dollar mal Tausend), müsste also den Verlust der bereits gezahlten 2.300 Dollar verkraften und zusätzlich dem Broker noch 700 Dollar erstatten (23.000 Dollar minus erhaltene 20.000 minus angezahlte 2.300 gleich 700 Dollar).

Höchststände bei den Krediten der US-Broker

Auch wenn die Kreditaufnahme bei der Finanzierung von Aktien- und Derivate-Geschäften professioneller Markteilnehmer wie Hedgefonds und Großbanken in der Regel im Verborgenen stattfindet (außerbörslicher Handel oder auch OTC-Handel genannt), so existieren doch recht aussagekräftige Daten, die zumindest einen klaren Trend anzeigen. Jeden Monat veröffentlicht die US-Wertpapieraufsicht FINRA die Höhe der Margin-Schulden in den Büchern der von der FINRA regulierten Broker. Demnach sind die (zum Stand Oktober 2021) offenen Margin-Kredite bei den US-Brokern auf ein neues Allzeithoch von 936 Milliarden Dollar angestiegen (entspricht etwas mehr als vier Prozent des US-Bruttoinlandsprodukts von 2021, auch das ist ein Rekord-Niveau).

Innerhalb der letzten zwei Jahre sind die Margin-Kredite der US-Broker um fast 70 Prozent gestiegen. Besonders erhellend ist eine Betrachtung der jährlichen Änderung der Margin-Schulden, die zuletzt mit bis zu über 300 Milliarden Dollar auffällig hoch ausfiel.

Wenn man den Saldo aus den Margin-Schulden und den Guthaben auf Margin- und Cash-Konten bildet, ergeben sich laut FINRA Rekord-Nettoschulden von 450 Milliarden Dollar (Stand: Oktober 2021), wobei ein Großteil davon aus Aktien-Geschäften stammen dürfte.

Die Anleger setzen mit massivem Kredithebel auf steigende Kurse

Alle Charts zeigen letztlich dasselbe: Eine solch hohe Risikobereitschaft der Anleger ist im 21. Jahrhundert bisher unerreicht. Man sieht hier deutlich den Effekt der historisch exzessiven Geldschwemmen durch die Zentralbanken infolge der Coronakrise – das in riesigen Mengen neu gedruckte Geld wandert teilweise in die Finanzmärkte. Auch macht sich das zahlreiche Aufkommen von Neobrokern wie „Robinhood“ bemerkbar, die jungen Menschen das Spekulieren am Aktienmarkt schmackhaft machen, sie im Grunde mit Versprechen auf das schnelle Geld ködern – und viele in Schulden stürzen. Eine ansteigende Margin Debt spricht normalerweise für eine höhere Risikobereitschaft der Anleger beim Spekulieren auf steigende Kurse. Die überaus hohe Risikobereitschaft der Kleinanleger kann ohne Absicherung schnell in einen Teufelskreis führen.

Die Margin Debt und der breit gefasste US-Aktienindex S&P 500 weisen einen recht engen Zusammenhang auf (siehe Abbildung unten). Eine explosiv ansteigende Margin-Debt gilt zudem als solider Frühindikator für einen Crash, was mit Blick auf das aktuelle Rekordniveau böse Vorahnungen zulässt.

Vor einem Crash steigen die Margin-Schulden immer massiv an. Wenn dann aufgrund von ersten Kursrückgängen die Anleger beziehungsweise ihre Broker die Wertpapier-Kredite abbauen müssen, um Liquidität aufzubauen und die Margin-Calls zu bedienen, kommt durch erste Abverkäufe eine Kettenreaktion in Gang, wodurch der Kurssturz noch beschleunigt wird – eine Abwärtsspirale entsteht, die umso stärker ausfällt, je größer das aufgebaute Kartenhaus der Margin-Kredite ist. Interessanterweise kommt der Crash manchmal fast synchron zum Abbau der Margin-Kredite, manchmal aber auch erst verzögert. In letzteren Fall ist häufig der Schulden-Abbau die Initialzündung für den Crash gewesen.

In einer sogenannten „Katastrophen-Hausse“ – die Phase exzessiver Kurssteigerungen vor einem monumentalen Einbruch – gibt es so gut wie immer Privatanleger, die den Profis die Aktien teilweise sogar unter Einsatz von Margin-Krediten zu Höchstständen abkaufen, weil sie entweder noch schnell in den Markt kommen wollen (in der Fachsprache: „Fear of missing out“), oder weil sie schon einige spektakuläre Gewinne erzielt haben und jetzt umso mehr alles auf steigende Kurse setzen. Eine solche binäre Wette ist selten eine gute Idee, aber die Finanzmarkt-Geschichte zeigt, dass sich dieses Muster kontinuierlich wiederholt.

Allerdings sollte man vorsichtig sein und die oben dargestellten ziemlich synchronen Chartverläufe nicht als unter allen Umständen problematisch ansehen: Eine anschwellende Margin Debt ist ein häufig notwendiges, aber eben nicht hinreichendes Kriterium für einen Crash – es gibt auch Phasen, in denen die ausstehenden Margin-Kredite äußerst hoch sind, ohne später einen Kurs-Einbruch auszulösen (in obiger Darstellung erkennt man das zum Beispiel in der Phase von 2014 bis 2016). In den letzten Monaten zum Beispiel war der S&P 500 trotz explodierender Margin-Schulden relativ stabil.

Manchmal treiben nicht die Wertpapier-Kredite die Kurse, sondern umgekehrt. Logischerweise sind bei steigenden Kursen in einem Bullenmarkt die Cash-Reserven der Investoren größer, und es ist einem solchen Umfeld generell einfacher und beliebter, Aktien auf Pump zu kaufen, während in einem fallenden Markt die schon beschriebenen Abwärtsspiralen entstehen. Bei hohen Kursen fallen natürlich auch die aufgenommenen Margin-Kredite höher aus als bei niedrigen Kursen. Die Informationen zur Höhe der Margin-Kredite gelangen außerdem erst verzögert an die breite Öffentlichkeit, denn die Zahlen zur Margin Debt werden von der FINRA erst mit einer Verspätung von zwei bis drei Monaten bekanntgegeben.

Fed: Hohe Risikobereitschaft wird zum Problem

In ihrem letzten Finanzstabilitätsbericht warnt derweil die US-Zentralbank Federal Reserve vor einem zu großen Kredithebel insbesondere bei jungen Aktienanlegern. „Der durchschnittliche Verschuldungsgrad jüngerer Privatanleger ist mehr als doppelt so hoch wie der aller Anleger, wodurch diese Kleinanleger potenziell anfälliger für starke Schwankungen der Aktienkurse sind [...]“.

„Darüber hinaus wird diese Anfälligkeit noch verstärkt, da die Anleger jetzt zunehmend Optionen einsetzen, die oft die Hebelwirkung erhöhen und Verluste verstärken können“, so die Fed weiter.

Außerdem wird vor einem sich entladenden systemischen Risiko gewarnt: „Es könnte zu einem potenziell destabilisierenden Ergebnis kommen, falls die erhöhte Risikobereitschaft der Privatanleger rasch auf ein moderateres Niveau zurückgeht", heißt es in dem Bericht.

Eines erwähnt die Fed allerdings nicht, das muss an dieser Stelle betont werden: Dass ihre Niedrigzinspolitik zu einem verstärkten systemischen Risiko am Aktienmarkt beiträgt – dass also die Fed selbst, die ja eigentlich für Stabilität sorgen soll, die mögliche Katastrophe mit auf den Weg bringt.

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Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.



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