Deutschland

„Sonst läuft das Ganze aus dem Ruder“: Wirtschaft warnt vor drastischer Verschärfung des Fachkräftemangels

Vertreter aus Handwerk und Wirtschaft schlagen Alarm: Werden nicht schnell zehntausende Ausbildungsplätze mit jungen Leuten besetzt, wird die Versorgung der Bevölkerung zunehmend erschwert.
08.01.2022 16:43
Aktualisiert: 08.01.2022 16:43
Lesezeit: 3 min
„Sonst läuft das Ganze aus dem Ruder“: Wirtschaft warnt vor drastischer Verschärfung des Fachkräftemangels
Eine Auszubildende im 3. Lehrjahr zur technischen Produktdesignerin klettert durch das Drehgestell eines 50 Meter hohen Krans. (Foto: dpa) Foto: Andreas Arnold

Die deutsche Wirtschaft warnt vor einer massiven Verschärfung des Fachkräftemangels in den kommenden Jahren. „Der Höhepunkt des Fachkräftemangels kommt erst noch“, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sagte der dpa: „Der Fachkräftemangel bleibt ein Topthema für die deutsche Wirtschaft und für unsere Wettbewerbsfähigkeit in den kommenden Jahren. Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung.“ Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer sagte der dpa: „Nur mit beruflich qualifizierten Fachkräften des Handwerks sind die Klimaschutzziele, die Energieeffizienzziele, die E-Mobilität, der Ausbau der Ladesäulen und der Infrastruktur möglich.“

Potenziale im eigenen Land nutzen

Allein im Handwerk blieben jedes Jahr um die 18 000 Ausbildungsplätze unbesetzt, welche die Betriebe gerne besetzen würden. Es fehlten Bewerberinnen und Bewerber, nicht die Plätze. „Es hätte in den vergangenen zehn Jahren die Möglichkeit gegeben, rund 200 000 junge Leute mehr zu Fachkräften zu machen, wenn auf allen Ausbildungsplätzen, die unsere Betriebe angeboten haben, auch tatsächlich Jugendliche eine Ausbildung gemacht hätten.“ Vor der Pandemie habe der Fachkräftebedarf im Handwerk nach Schätzungen bei mindestens einer Viertel Million gelegen.

Der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks sprach sich für eine Fachkräfteinitiative aus. „Wir müssen alles daran setzen, so rasch wie möglich tatsächlich die Wende hinzubekommen zu mehr Wertschätzung der beruflichen Ausbildung, aber auch ganz konkret hin zu mehr jungen Menschen, die sich für den beruflichen Ausbildungsweg entscheiden. Diese Wende muss schon deshalb ganz schnell gelingen, damit wir nicht in eine Situation geraten, in der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr ausreichend mit handwerklichen Dienstleistungen und Produkten versorgt werden können.“

Der entscheidende Hebel, um die Fachkräftelücke zu schließen, bleibt es, in Deutschland mehr junge Menschen zu qualifizierten Fachkräften auszubilden. Deshalb gehöre die berufliche Bildung als höchste Priorität in den Fokus politischen Handelns. „Wir brauchen einen Bewusstseinswandel in diese Richtung“, der müsse im Jahr 2022 kommen. „Sonst läuft das Ganze aus dem Ruder“, sagte der Handwerkspräsident.

Qualifizierte Zuwanderung gefordert

„Beruflich qualifizierte Fachkräfte anzuwerben, die unsere Wirtschaft hier am Laufen halten, das ist ein weiterer Weg“, sagte Wollseifer. Bislang habe sich die Anwerbung zu sehr auf den akademischen Bereich konzentriert. „Sich auch um beruflich Qualifizierte zu bemühen, das haben wir nicht ausreichend gemacht. Aber auch wenn wir unsere Anstrengungen hier jetzt zu Recht verstärken, werden wir es nach meiner Einschätzung nicht schaffen, innerhalb von kurzer Zeit Zehntausende fachlich qualifizierte Leute pro Jahr nach Deutschland zu holen.“

Arbeitgeberpräsident Dulger sagte: „Die ersten Jahrgänge der Babyboomer gehen schon in Rente.“ 2025 komme die „demografische Wende“ mit voller Wucht. Dann komme der Punkt, an dem mehr Menschen in Rente gehen als auf den Arbeitsmarkt nachrücken. Dann explodierten die Beiträge oder die Steuern.

Die neue Bundesregierung müsse die Verfahren für eine gezielte und qualifizierte Fachkräftezuwanderung vereinfachen, beschleunigen und bürokratische Hürden abschaffen, sagte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. „Wir brauchen ein funktionierendes Gesetz, das qualifizierte Zuwanderung ermöglicht und das aber auch einen Apparat vorhält, wo Bewerber zu jeder deutschen Botschaft im Ausland hingehen können und sagen können: An wen kann ich mich wenden, ich bin qualifiziert und möchte gerne nach Deutschland einwandern, um mir und meiner Familie eine gute Zukunft ermöglichen zu können.“

DIHK-Präsident Adrian sagte: „Der Fachkräftemangel zieht sich mittlerweile wie ein roter Faden durch die Wirtschaft.“ Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) rechne bis Ende des Jahrzehnts mit einem demografisch bedingten Rückgang um drei bis vier Millionen Arbeitskräfte. „Da ist die Frage: Wie können wir gegensteuern? Wir wollen uns natürlich stark engagieren um die duale Ausbildung noch besser zu gestalten und junge Menschen in einen Ausbildungsberuf hineinzubringen.“

Er wünsche sich auch mehr Maßnahmen zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, so Adrian. „Wir haben da bereits Fortschritte gemacht. Aber wir haben immer noch eine im europäischen Vergleich hohe Teilzeitquote bei den Frauen.“ Bei der Einwanderung von Fachkräften wäre eine fünfstellige Zahl pro Jahr bei den besonders gesuchten beruflich Qualifizierten schon gut. Dazu müsse Bürokratie abgebaut werde, es gebe immer noch zu große Hürden etwa bei der Visavergabe.

Völlig unklar bleibt, ob die Zuwanderung entsprechend Qualifizierter nach Deutschland überhaupt eine tragfähige Lösung ist. Denn die entsprechenden Facharbeiter fehlen dann ihren Herkunftsländern, auf deren Kosten sie auch ausgebildet wurden. Fraglich ist auch, ob sich überhaupt genügend Bewerber finden - schließlich müssten diese über entsprechende Deutschkenntnisse verfügen oder diese erst erlernen. Was passiert außerdem, wenn die zugewanderten Fachkräfte arbeitslos werden oder Probleme mit der Integration haben?

Angesichts dieser Fragen erscheint eine konsequente Förderung und Nutzung heimischer Potenziale erfolgversprechender zu sein.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Kunstmarkt: Familienangelegenheiten im Auktionshaus Lempertz - und was Unternehmer davon lernen können
09.05.2025

Lempertz in Köln ist das älteste Auktionshaus der Welt in Familienbesitz. Isabel Apiarius-Hanstein leitet es in sechster Generation. Erst...

DWN
Immobilien
Immobilien Wohnquartiere als soziale Brennpunkte: Armut, Migration und Überalterung – Ghettobildung nimmt zu
09.05.2025

Armut, Migration, Wohnungsmangel, Überalterung und Einsamkeit: Immer mehr Wohnquartiere in Deutschland sind überfordert. Eine neue Studie...

DWN
Finanzen
Finanzen Commerzbank-Aktie auf Rekordkurs nach starkem Quartalsgewinn – und nun?
09.05.2025

Die Commerzbank-Aktie hat zum Start in den Börsenhandel am Freitag zugelegt – und im Handelsverlauf ein neues Jahreshoch erreicht. Das...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft EU schlägt zurück: Diese US-Produkte stehen nun im Visier von Brüssel
09.05.2025

Die Europäische Kommission hat eine umfassende Liste von US-Produkten veröffentlicht, auf die im Falle eines Scheiterns der Verhandlungen...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Daimler-Sparprogramm: Was plant Daimler Truck in Deutschland?
09.05.2025

Der Nutzfahrzeughersteller Daimler Truck strebt an, seine Wettbewerbsfähigkeit in Europa zu erhöhen und hat sich mit dem...

DWN
Panorama
Panorama Endlos-Hitze droht im Sommer: Wetterextreme betreffen jüngere Generationen erheblich stärker
09.05.2025

Endlos-Hitze droht im Sommer - diese Schlagzeile geistert an diesem Freitag durch die Medien. Klar ist, dass die Folgen der globalen...

DWN
Technologie
Technologie Datenfalle USA: Warum viele Unternehmen in Gefahr sind - ohne es zu merken
09.05.2025

Viele Unternehmen übertragen täglich Daten in die USA – und merken nicht, dass sie damit in eine rechtliche Falle tappen könnten. Das...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Chinas Exporte überraschen - Fokus auf die USA
09.05.2025

Trotz des anhaltenden Handelskonflikts mit den Vereinigten Staaten sind Chinas Exporte überraschend robust geblieben. Der Außenhandel mit...