Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was bedeutet der Ausstieg aus der Atomkraft für die Energiesicherheit Deutschlands?
Manfred Haferburg: Ich gebe Ihnen mal ein paar Zahlen: Den allergrößten Teil unserer Primärenergie gewinnen wir aus Kohle, Gas und Atomkraft. Zu unserem Primärenergieverbrauch zählt alles, ob Sie nun ein Auto betanken, eine Zentralheizung aufdrehen oder mit einem Aufzug fahren. Elektrischer Strom macht dabei nur etwa 25% unseres Primärenergieverbrauchs aus. Unsere Primärenergie gewinnen wir zur Zeit zu jeweils circa einem Drittel aus Öl und aus Kohle (und zwar aus Stein- sowie aus Braunkohle) zu etwa 23,5% aus Gas und zu etwa 6% aus Atomkraft. Wind- und Sonnenenergie zusammen steuern hingegen nur etwa 5% zu unserer Primärenergie bei. Etwa die Hälfte des Gases, das wie gesagt etwa 23,5% unseres Primärenergieverbrauchs abdeckt, beziehen wir aus Russland. Ähnlich verhält es sich mit der Steinkohle, beim Öl ist es etwas weniger. Das bedeutet, dass wir etwa ein Drittel unseres gesamten Primärenergieverbrauchs mit Rohstoffen aus Russland abdecken. Und wenn das jemand unterbinden sollte, dann Gnade uns Gott.
Während Kohle-, Gas- und Atomkraftwerke bezahlbare Technologien darstellen, die auch die Grundlast unseres Stromnetzes gewährleisten können, streben Herr Habeck und Herr Scholz deren vollständige Substitution durch sogenannte „erneuerbare Energien“ an. Aus zweien davon, nämlich aus Kohle und Atomkraft, sind wir bereits so gut wie ausgestiegen. Darüber hinaus hat Wirtschaftsminister Habeck eine Arbeitsgruppe gebildet, die den Gasausstieg vorbereiten soll. Damit würde eine weitere grundlastfähige Technologie aus Deutschland verbannt. Wenn wir uns vor Augen führen, dass Wind- und Sonnenenergie zusammen nur etwa 5% zu unserer Primärenergie beisteuern, wird klar, dass wir erst 5% des Weges, den Herr Habeck und Herr Scholz beschreiten wollen, zurückgelegt haben, während 95% noch vor uns liegen. Aber wie hat der ehemalige Bundespräsident Gauck gesagt, ich zitiere sinngemäß: „Für die Freiheit können wir auch ein bisschen frieren und können auch mal für ein paar Jahre eine Delle in unserer Lebensqualität hinnehmen.“ Ich hingegen plädiere dafür, vor dem Hintergrund dieser Tatsachen auch weiter Kernenergie zu nutzen. Allerdings scheint das aus politischen Gründen unrealistisch zu sein.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Von den Kritikern der Atomenergie wird ins Feld geführt, dass der Betrieb von Kernkraftwerken nicht sicher sei. Wie ist es bei Ihnen? Können Sie ruhig schlafen?
Manfred Haferburg: Ich bin seit über 40 Jahren in der Kernkraftindustrie tätig und lebe nun in einem Land, nämlich in Frankreich, wo ich ruhig schlafen kann. Denn mir ist es wichtig, dass der Strom zuverlässig fließt, was in Frankreich der Fall ist. Angst vor Kernkraft habe ich nicht. Wir haben weltweit jetzt ungefähr 12.000 Reaktorjahre hinter uns mit den 450 Kernkraftwerken, die es gibt bzw. gegeben hat. Ich habe da mal eine Daumenrechnung vorgenommen: Bisher gab es, bezogen auf diese 12.000 Jahre, zwei sogenannte größte anzunehmende Unfälle. Der eine in Tschernobyl und der andere in Fukushima. Denn bei dem Störfall in dem Reaktor von Three Mile Island in Pennsylvania im Jahr 1979 wurde ja kaum Radioaktivität freigesetzt.
Wenn Sie die Anzahl der Menschen, die durch einen Energieträger zu Tode gekommen sind, weltweit in Relation zu einer erzeugten Terawattstunde setzen, ergibt sich folgendes Bild: Bei der Kohle wären es dreißig, beim Öl zwanzig, bei der Biomasse fünf, beim Erdgas drei, bei Wind, Wasser, Solar und Geothermie 0,2 und bei der Kernenergie 0,1 Tote pro erzeugter Terawattstunde. Statistisch gesehen ist also die Kernenergie, und Tschernobyl und Fukushima sind hier mit eingerechnet, bisher die sicherste Energieform, die es gibt.
Auch gegen terroristische Angriffe sind Kernkraftwerke gut gerüstet. Nehmen Sie zum Beispiel die Attacke auf den Superphénix, den Prototypen eines Atomkraftwerks in Frankreich. Im Jahr 1982 feuerte ein Schweizer Ökoterrorist fünf RPGs, also Panzerabwehrgranaten, auf den Sicherheitsbehälter der kurz vor Inbetriebnahme stehende Anlage. Die haben da nicht einmal einen Kratzer verursacht. Sie müssen sich das so vorstellen: So ein Sicherheitsbehälter, auch Containment genannt, besteht außen aus Stahlbeton, der über einen Meter dick ist. Dahinter ist ein Meter nichts und dann kommt noch eine fünf Zentimeter starke Eisenhülle, und erst dann kommt die Anlage selbst, die aber ebenfalls noch recht robust ist. Auch die ganzen Hilfssysteme, Notstromdiesel und Kühlketten sind alle gebunkert. Der Aufwand, der in einem Kernkraftwerk im Sinne der Sicherheit betrieben wird, ist wirklich enorm. Allerdings will ich nicht verleugnen, dass Kernkraftwerke, so wie andere Industrieanlagen auch, keinesfalls Schauplatz von Kriegshandlungen sein sollten. Aber auch hier müsste ein Kernkraftwerk gezielt mit bunkerbrechenden Waffen angegriffen werden, um einen größeren Atomunfall herbeizuführen. Ich glaube aber kaum, dass so etwas Gegenstand militärischer Überlegungen ist. Denn schließlich würden dann ja auch die eigenen Truppen nuklear kontaminiert.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Bleibt allerdings das ungelöste Problem der Endlagerung.
Manfred Haferburg: Auch dieses Problem wird meiner Meinung nach überschätzt. Selbst in der Nähe von Tschernobyl, wo bei der Reaktor-Katastrophe 1986 ja sehr viel Radioaktivität freigesetzt worden ist, blüht wieder das Leben. Hirsche, Bären und Wölfe streifen da durch die Wälder, und die Gegend ist bei vielen Russen inzwischen ein beliebter Urlaubsort. Die Halbwertzeit für verschiedene Elemente wie beispielsweise Cäsium – das am meisten verbreitet wurde – beträgt circa 36 Jahre. Die Hälfte davon ist also bereits weg.
Was die Endlagerung von Brennstäben anbelangt, so könnte sich die deutsche Verlegenheitslösung, die Brennstäbe erst einmal zwischen- und nicht endzulagern, im Nachhinein als Glücksgriff erweisen. Denn Kernreaktoren der nächsten Generation könnten die zwischengelagerten Brennstäbe, nachdem sie entsprechend bearbeitet wurden, verbrennen. Wenn wir beispielsweise eine Flotte von Dual- Fluid-Reaktoren bauen würden, könnten wir mit dem deutschen Atommüll Deutschland für 350 Jahre mit Strom versorgen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was sind das für Reaktoren, die da in Planung sind?
Manfred Haferburg: Zunächst einmal: Die aktuellen Leichtwassergenerationen der vierten Generation, wozu auch der europäische Druckwasserreaktor zählt, sind technologisch weitestgehend ausgereizt. Das sind Reaktoren, die mit normalem Wasser gekühlt werden, welches gleichzeitig die Neutronen so abbremst, dass sie Uran 235 spalten können. Daher verbrennen sie den Brennstoff – Uran 235 – nur zu 2%, da der Rest Uran 238 nicht durch sie spaltbar ist. Dieses „Resturan“ fällt als Atommüll an. Derzeit befinden sich weltweit über 50 dieser Reaktoren im Bau.
Die Reaktoren der nächsten Generation hingegen werden keine Leichtwasser-, sondern sogenannte schnelle Reaktoren sein, die landläufig als schnelle Brüter bezeichnet werden. Sie können andere Spaltstoffe, z.B. Uran 238 oder Thorium, das häufiger vorkommt als Uran, zu 100 % verbrennen. Zu dieser neuen Reaktorgeneration gehören Thorium-Flüssigsalz-Reaktoren oder auch der Dual-Fluid-Reaktor, der ja in Deutschland entwickelt wurde. Diese Reaktoren sind zudem inhärent sicher. In ihnen kann es zu keiner Kernschmelze kommen, weil der Kern im normalen Betrieb bereits geschmolzen ist. Diese neuen Reaktoren haben eine Leistungsausbeute, welche die der herkömmlichen Reaktoren um das Vielfache übertrifft. Sie haben also eine enorm hohe Energiedichte und sind zudem viel kleiner.
Ein Dual-Fluid-Reaktor mit einer Leistung von 1000 Megawatt ist nicht viel größer als ein Kleinwagen der Sorte „Smart“. Die Leistung solcher Reaktoren lässt sich nach Bedarf skalieren. Das sind mitnichten Papierreaktoren. Zwei solcher natriumgekühlten Schnellen Brüter mit 600 und 800 MW laufen in Bielojarsk, 50 Kilometer von Jekaterinburg entfernt. Und in China startet in Wuwei ein Thorium-Flüssigsalz-Reaktor. Auch ist bereits die gesamte russische Eisbrecher- und U-Bootflotte nukleargetrieben, wenn auch mit kleinen Leichtwasserreaktoren. Und das Tschukotische Inselnetz in Sibirien wird seit einem Jahr von zwei kleinen Reaktoren von je 35 MW auf einem schwimmenden KKW namens „Akademik Lomonossow“ versorgt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Ressourcen benötigt man für den Bau eines Kernkraftwerkes?
Manfred Haferburg: Ich illustriere das mal anhand eines aktuellen EPR-Kraftwerkes. Eine solche Anlage läuft mit einem europäischen Druckwasserreaktor, der damals noch von der deutschen Siemens und der französischen Areva gemeinsam entwickelt wurde. Wir sprechen hier von dem modernsten Leichtwasserreaktor weltweit. Siemens ist aus dem Projekt ja inzwischen ausgestiegen, nun bauen die Franzosen es allein weiter. Ein solcher Reaktor erzeugt eine Leistung von ungefähr 1.500 Megawatt, soviel wie etwa 1.500 oder 2.000 Windräder. Der Bau eines solchen Kraftwerks kostet, wenn alles glatt läuft und es nicht zu Bau- und Genehmigungsverzögerungen kommt, etwa fünf Milliarden Euro. Für einen Reaktorblock benötigen Sie die Fläche von ein paar Fußballfeldern, mehr nicht. Wichtig ist, dass Sie die Anlage kühlen können, und dazu benötigen Sie Wasser. Das bedeutet, dass Sie das Kraftwerk an einem Fluss oder besser noch am Meer bauen sollten, um die nötige Kühlung gewährleisten zu können. Sonst müssen Sie Kühltürme bauen, aber auch die müssen ja befüllt werden, und auch das geht am besten an einem Fluss oder am Meer. Solche Rückkühltürme - die inzwischen gesprengt wurden - gab es beispielsweise beim AKW Philippsburg. Viele französische Kernkraftwerke hingegen verzichten auf Kühltürme und müssen dann im Sommer bei Niedrigwasser ihre Leistung drosseln. Denn die Aufwärmspannen eines solchen Flusses sind gesetzlich geregelt, da die Biosphäre ja keinen Schaden nehmen darf. Für den Bau eines solchen Kernkraftwerkes benötigen Sie etwa 100.000 Tonnen Stahl-Beton. Zum Vergleich: Ein einziges Windrad Typ E-126 der Firma Enercon wiegt 7.000 Tonnen, das Fundament davon dreieinhalbtausend Tonnen, wobei die Hälfte davon Stahl ist. Und von diesen Windrädern bräuchten Sie etwa 1.500 Stück, um ein Kernkraftwerk zu substituieren. Vorausgesetz, es weht genug Wind.
Die Reaktoren der nächsten Generation werden dann noch mit deutlich weniger Material auskommen, weil sie viel kleiner sind.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wäre für eine Renaissance der Atomkraft in Deutschland genug wissenschaftliches Know-How und ausgebildetes Personal vorhanden?
Manfred Haferburg: Leider nein. Die Atomkraft-Technologie ist im Zuge der Energiewende aus Deutschland abgewandert. Viele Ersatzteile für die noch laufenden Anlagen müssen wir aus dem Ausland importieren. Früher waren wir auch in der Lage, Druckbehälter zu bauen. Das haben wir verlernt. Wir müssten sie aus Japan, aus Südkorea oder aus Russland importieren. Siemens, das früher einmal Turbinen für Kernkraftwerke gebaut hat, hat diese Sparte abgestoßen. Auch vieles andere, wie die für ein Kernkraftwerk erforderlichen Generatoren, Transformatoren und Pumpen können wir in Deutschland nicht mehr herstellen.
Als gravierend dürfte sich auch der sogenannte Fadenriss, der nach dem ersten Atomausstiegsbeschluss im Jahr 2000 propagiert wurde, herausstellen. Damit ist gemeint, dass man die Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen verboten und an den Universitäten für Kernphysiker wichtige Fachrichtungen abgeschafft hat. Es wächst kaum noch Nachwuchs nach. Um Schicht- oder Kraftwerksleiter eines Kernkraftwerkes zu werden, brauchen Sie eine staatliche Lizenz. Und der Weg dahin ist äußerst mühsam. Ich musste seinerzeit dreißig mündliche Prüfungen bei staatlichen Stellen bestehen, bevor ich Oberschichtleiter werden konnte. In Deutschland dauert es fünf Jahre, bis ein Schichtleiter nach abgeschlossenem Hochschulstudium lizenziert wird.
Und dann gibt es natürlich noch die rechtliche Seite. Man müsste das Atomgesetz, das die wirtschaftliche Nutzung von Kernenergie verbietet, ändern. Außerdem sind die Betreiber seit Jahren damit beschäftigt, die Abschaltgenehmigungen zu beantragen. Da sind Aktenberge an Dokumenten angefallen, mit unzähligen Stempeln und Unterschriften. Eine Rückkehr zur Atomkraft würde alle Beteiligten vor eine bürokratische Mammutaufgabe stellen. Die wäre vielleicht zu bewältigen, aber ich bezweifele, dass der Wille dazu vorhanden ist. Zu sehr hat sich die Politik der sogenannten "Energiewende" verschrieben.
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Manfred Haferburg, Jahrgang 1948, ist Diplomingenieur für Kernenergetik und ein international renommierter Fachmann für Sicherheitsfragen in Risiko-Industrien. Er ist Autor des auf Englisch erschienenen Sicherheitskultur-Fachbuches „Out of the blue sky – about the deviousness of the catastrophes“ (deutsche Übersetzung: "Aus heiterem Himmel – über die Hinterhältigkeit der Katastrophen“).
Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten sind bestrebt, Ihren Lesern ein möglichst breites Meinungsspektrum zu präsentieren. Deshalb werden wir morgen ein Interview mit dem international renommierten Experten Mycle Schneider veröffentlichten. Der Herausgeber des jährlich erscheinenden "World Nuclear Industry Status Report" sieht die Atomkraft kritisch.
- Wie es mit um die weltweite "Renaissance" der Kernkraft wirklich steht
- Ob Deutschland Strom aus Frankreich kauft - oder Frankreich Strom aus Deutschland
- Ob die Kernenergie wirklich Unabhängigkeit von Russland verspricht