Deutschland

„Kalte Heimat“: Diskriminierung und Rassismus gegen deutsche Flüchtlinge nach 1945

Lesezeit: 3 min
16.04.2022 18:38
Das Schicksal der Heimatvertriebenen nach 1945 wurde aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend getilgt. Dabei zeigt ein Blick in die Vergangenheit: Opfer von Diskriminierung und Rassismus der übelsten Sorte wurden zuallererst und vor allem deutsche Flüchtlinge.

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Eine neue Flüchtlings-Herausforderung beschäftigt die deutsche Öffentlichkeit. Diesmal ziehen nicht Menschen aus dem Nahen Osten, sondern vor allem Frauen, Kinder und Senioren aus der Ukraine nach Deutschland.

Während einige Kreise eine Rassismus-Debatte angestoßen haben, die anprangert, dass die einen Flüchtlinge willkommen sind, während die anderen Flüchtlinge unwillkommen sind, übersehen viele, dass historisch gesehen vor allem die deutschen Flüchtlinge (Heimatvertriebenen) nach 1945 Opfer eines offenen und widerlichen Rassismus gewesen sind. Deshalb wird die aktuelle Rassismus-Debatte, die in sehr engen gedanklichen Grenzen geführt wird, der historischen Flüchtlings-Problematik nicht gerecht.

Nach 1945 wurden insgesamt 14 Millionen Deutsche vertrieben. Sie kamen weitgehend ohne Hab und Gut und traumatisiert in Deutschland an.

Andreas Kossert schildert in seinem Buch „Kalte Heimat“, welche einschlägigen Erfahrungen die deutschen Flüchtlinge nach 1945 in Form von Diskriminierungen, Demütigungen und Anfeindungen in Deutschland machen mussten. „Mit diesem Buch bricht Andreas Kossert ein Tabu: Er erschüttert den Mythos der rundum geglückten Integration der Vertriebenen nach 1945. Erstmals erhalten wir ein wirklichkeitsgetreues Bild von den schwierigen Lebensumständen der Menschen im ,Wirtschaftswunderland‘“, heißt es in einer Rezension.

Die Zeit berichtet im Zusammenhang mit dem Buch:

„Für die Einheimischen, die ihre Habe über den Krieg hinaus hatten retten können, waren die Heimatlosen, die buchstäblich nichts mehr besaßen, Eindringlinge (…) Bei den Einheimischen erregten die Lastenausgleichszahlungen vielfach Neid und Missgunst. ,Kommen da aus der Walachei und bauen sich Paläste!', war eine nicht seltene Reaktion.“

Kossert dokumentiert:

„Jede Plage, jedes Vergehen kreidete man den Vertriebenen an (…) Sie hatten das Ungeziefer mitgebracht, sie waren verdächtig, wenn etwas gestohlen worden war. Dass Geschlechtskrankheiten und uneheliche Geburten zunahmen, auch dafür wurden sie verantwortlich gemacht (…) Die Spannungen waren enorm. In der Gemeinde Egmating (Kreis Ebersberg) tauchte im März 1947 folgender Anschlag auf: ,Hinaus mit den Flüchtlingen aus unserem Dorf! Gebt ihnen die Peitsche statt Unterkunft – dem Sudetengesindel! Es lebe unser Bayernland!“

Der Autor dokumentiert weiter:

„Im Zusammenbruch von 1945 zerfielen die Deutschen, wie der Migrationsforscher Klaus J. Bade schreibt, in ,zwei Schicksalsgemeinschaften‘ – in die der Einheimischen und die der Vertriebenen –, und diese beiden Lager traten zueinander in ,Opferkonkurrenz‘. Dieser Konkurrenzkampf trug ,deutliche Züge eines Nationalitätenkampfes und eines Klassengegensatzes‘. Daß aus dem Osten vertriebene Deutsche im Westen des Landes als ,Polacken‘ oder ,dahergelaufenes Gesindel‘ beschimpft und gemieden wurden, zeigt, wie schnell jeder ein Fremder werden und von Diskriminierung bedroht sein kann.“

Schlesier, Ostpreußen, Pommern, Deutschböhmen, Sudetendeutsche und Banater Schwaben, die ein Teil der vielfältigen deutschen Identität gewesen sind, mussten in ihrer neuen „Kalten Heimat“ ihre kulturellen Eigenheiten komplett aufgeben, um sich in die Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren. Sie fügten sich der von ihnen verlangten Selbstaufgabe.

Kinder vergessen nicht. Der „SPIEGEL“ zitiert Rolf Klodt (Jahrgang 1944):

„Wir haben immer Angst, denn die Bauern scheuen nicht davor zurück, selbst einem kleinen Kind einen kräftigen Hieb mit dem Knüppel zu versetzen. ,Verdammter Flüchtling, du‘, fluchen sie dabei (…) Die Bauernjungen fühlen sich stark genug, Flüchtlingskinder durch das Dorf zu jagen und zu verprügeln (…) Viele Schimpfwörter haben wir auf der Flucht gehört. Nun kommt ein weiteres dazu: ,Du Flüchtling‘, mit so viel hasserfüllter Verachtung ausgesprochen, dass es sich in unsere kindlichen Seelen einbrennt und ein freundliches Miteinander über Jahre verhindert. Immer wenn man etwas Abfälliges, etwas Verletzendes sagen will, heißt es ,du Flüchtling‘. Die Erinnerung an das Schicksal der deutschen Vertriebenen sollte als Mahnung an jeden von uns gelten.“

Niemand kann mit einer hundertprozentigen Sicherheit sagen, ob er/sie nicht in fünf oder zehn Jahren die Identität eines Flüchtlings annehmen muss – insbesondere in dieser turbulenten und brutalen Zeit, die ihren Zenit in Europa noch lange nicht erreicht hat.

Einige Bürger dürften sich im Jahr 2015 gewundert haben, warum ausgerechnet einige prominente Heimatvertriebene oder Nachkommen von Heimatvertriebenen intensiv an Propaganda-Aktionen gegen syrische Flüchtlinge mitwirkten.

Dafür gibt es eine Erklärung: Als im Jahr 2015 diese Menschen sahen, wie die Aufnahme von Flüchtlingen unter dem Banner der „Willkommenskultur“ positiv forciert wurde, mussten sie sich daran erinnern, wie schlecht ihre Eltern , ihre Großeltern und sie selbst „von ihren eigenen Leuten“ behandelt wurden.

Die Wut über diese menschliche Ungerechtigkeit luden sie bei den syrischen Flüchtlingen ab, die jedoch völlig unschuldig gewesen sind – genau wie ihre Eltern, Großeltern und sie selbst einst unschuldig gewesen sind.

Und so schuf eine Ungerechtigkeit eine andere Ungerechtigkeit.

Politischen und gesellschaftlichen Reaktionen jeglicher Couleur liegt immer das Gefühl zugrunde, vorsätzlich ungerecht behandelt worden zu sein.

Das war schon immer so, das ist heute so und das wird auch in Zukunft so bleiben!

+++

Übrigens ist der Slogan „Wir schaffen das“, den die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn der Flüchtlings-Krise 2015 eingeführt hatte, angelehnt an ein CSU-Wahlplakat aus dem Jahr 1949.

                                                                                ***

Cüneyt Yilmaz ist Absolvent der oberfränkischen Universität Bayreuth. Er lebt und arbeitet in Berlin.


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