Finanzen

Börse kann crashen - aber Anleger haben Möglichkeiten, sich schadlos zu halten

Lesezeit: 8 min
30.04.2022 12:19  Aktualisiert: 30.04.2022 12:19
Ronald Barazon zeigt auf, welche Gefahren Anlegern drohen - und wie sie sich wappnen können.
Börse kann crashen - aber Anleger haben Möglichkeiten, sich schadlos zu halten
Robert Halver, Kapitalmarkt-Experte der "Baader Bank", vor der Anzeigetafel für den DAX-Index in der Börse Frankfurt (Foto: dpa / Aufnahme vom 8. August 2011)

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Die Börse wird in hohem Maße von Emotionen regiert. Und so hört man dieser Tage immer wieder die angstbesetzte Frage: „Wann kommt der nächste Crash?“

Beantworten kann diese Frage allerdings niemand, weil katastrophale Abstürze immer nur dann erfolgen, wenn plötzlich massenweise Börsianer ein Ereignis (oder auch nur ein Gerücht) überbewerten und deshalb die Nerven verlieren - und solche Szenarien kann natürlich niemand vorhersehen.

Solche Szenarien sind allerdings auch eher selten; darüber hinaus tritt nach dem Kursverfall stets rasch eine Erholung ein, weil die nunmehr niedrigen Kurse zum Kauf einladen. Das heißt: Man sollte das Thema Crash nicht ständig in den Vordergrund rücken, sollte es nicht überbewerten.

Aber: Die Nerven sind derzeit äußerst angespannt, und so liegt ein von Panik ausgelöster Crash durchaus im Bereich des Möglichen. Darüber hinaus befindet sich die Weltwirtschaft in einer komplizierten Lage, was zwar (solange die Panik ausbleibt) keinen Crash, aber doch ein kräftiges Abflauen auslösen kann, und das ist für die Anleger zwar kein katastrophales, allerdings auch kein angenehmes Ereignis.

Die Frage ist also: Was sollten Investoren in der derzeitigen Situation tun?

Die Nerven der Börsianer im Wechselbad von heiß und kalt

Die Börsianer werden andauernd, also auch gegenwärtig, mit widersprüchlichen Botschaften bombardiert, die ihre Nerven und ihren Adrenalin-Haushalt strapazieren.

  • Von einigen Experten werden die derzeit hohen Kurse als durchaus realistisch bezeichnet: Sie sind gegenüber dem Vorjahr etwas zurückgegangen, die Wirtschaft wächst wieder stärker, die Gewinne steigen. Folglich wären die hohen Kurse in Relation zu den Gewinnen wieder vertretbar. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGVs) liegen - je nach Index - zwischen 15 und 20. Bei einem KGV von 15 entspricht der Gewinn in Relation zum Preis einer Verzinsung von über sechs Prozent, bei einem KGV von 20 sind es fünf Prozent. Also alles im grünen Bereich. Zur Erinnerung: Vor einem Jahr bewegten sich die KGVs im Bereich von 30 und mehr.
  • Es gibt aber auch Experten, die das anders sehen - ihre Analysen und Vorhersagen sind alles andere als schonend für die Nerven: Demnach sei das aktuelle Kursniveau in historischem Maßstab viel zu hoch, das Verlustpotenzial wäre enorm. So sollte beispielsweise der bedeutende US-Index „S&P 500“ bei 2.200 notieren, statt 4.200 Zähler aufzuweisen, wie es derzeit der Fall ist. Die Schlussfolgerung dieser pessimistischen Experten lautet also: Mit dem Crash ist jeden Augenblick zu rechnen.

Diese Art von Einschätzungen sind allerdings vergleichsweise allgemeiner Natur. In der Regel wird die Entwicklung auf dem Parkett jedoch von konkreteren Geschehnissen bestimmt. Wobei bestimmte von ihnen (beispielsweise ein unliebsamer Wahl-Ausgang, der Ausbruch eines Krieges, eine Naturkatastrophe) durchaus zu massiven Kursstürzen führen können, im Extremfall auch zu einem Crash. Weil es sich dabei aber, wie gesagt, um konkrete Ereignisse handelt, die nur selten von einem Tag auf den anderen geschehen, ist für gewöhnlich absehbar, dass die Börsenkurse in Mitleidenschaft gezogen werden, sodass die Anleger frühzeitig und vorsorglich Schadensbegrenzung betreiben können. Aber, und auch das ist ein Fakt, der sich nicht leugnen lässt: Es gibt Zeiten, in denen es extrem schwierig ist, abzuschätzen, wann es zu welchen Kursentwicklungen kommen wird, und wie man sich als Anleger verhalten soll. In solcher einer Situation befindet sich der Aktienmarkt derzeit.

Die hohe Inflation macht die Zinserhöhungen wirkungslos

Der entscheidende Treiber für die seit Jahren extrem hohen Aktienkurse war und ist die Zinspolitik. Anleger, die beim Kauf von Anleihen minimale oder gar Minus-Zinsen serviert bekommen, wenden sich nun mal anderen Angeboten zu - und da sind die Aktien neben Immobilien die erste Wahl. Selbst eine Aktie, die nur bescheidene Dividenden abwirft, kann man getrost zu Spitzenwerten kaufen, man fährt mit ihr allemal besser als mit einer Anleihe.

Derzeit wird die - seit einiger Zeit fehlgeleitete - Zinspolitik aber korrigiert. In den USA ist die Wende schon deutlich spürbar: Die zehnjährige Staatsanleihe wirft bereits mehr als 2,8 Prozent ab. Der Vergleichswert für eine zehnjährige deutsche Staatsanleihe liegt noch bei 0,8 Prozent. Allerdings ist auch in Europa mit einem Zinsanstieg zu rechnen. Die Zeichen stehen also auf „Zinserhöhung“. Folglich müsste man - nimmt man die üblichen Entwicklungen an den Börsen zum Maßstab - mit einem Rückgang der Aktienkurse rechnen, und der ist in den vergangenen Monaten ja auch eingetreten, wenn auch nur in moderatem Umfang.

Ist dieser Rückgang das Vorbeben eines baldigen Crashs? Nein! Und zwar aus einem geradezu makabren Grund: Die Teuerungsraten diesseits und jenseits des Atlantiks sind in den letzten Monaten und Wochen in die Höhe geschnellt. Die Preis-Indizes weisen Steigerungen von sieben bis acht Prozent aus, wobei die tatsächlich im Supermarkt zu zahlenden Preise sogar noch deutlich größere Steigerungsraten signalisieren. Das Maß für die Wirtschafts- und Währungspolitik bilden aber die öffentlich verlautbarten Indizes, und so ergibt sich folgende Rechnung:

Die Anleihezinsen liegen in den USA bei 2,8 Prozent und werden in Europa allmählich auf schätzungsweise 2,0 Prozent steigen.

Bei einer Inflationsrate von über sieben Prozent und einem Zinssatz von zwei Prozent ergibt sich eine Netto-Geldentwertung von fünf Prozent. Der Verlust ist also deutlich höher als in den vergangenen Jahren, als null Prozent Zinsen einer Teuerung von zwei Prozent gegenüberstanden. Bei zwei Prozent Verlust sind die Anleger aus den Nominalwerten Anleihen und liquide Mittel geflüchtet, haben eifrig Aktien direkt oder über Fonds gekauft und durch die Nachfrage die Kurse in die Höhe getrieben. Es ist also kaum anzunehmen, dass bei einem Realverlust von fünf Prozent eine Bewegung von den Aktien zu den Anleihen erfolgt und einen größeren Kurssturz auslöst. Mithin: Die Inflation stützt die Aktienkurse.

Die Weltwirtschaft steht in diesen Tagen an einem Wendepunkt. Merkt das die Politik?

Doch wie geht es weiter? Die Zentralbanken stehen unter dem Druck der Anleger, die nach höheren Zinsen rufen. Um eine tatsächliche Inflationsabgeltung zu erreichen, müssten unter den aktuellen Bedingungen die Zinsen auf acht und neun Prozent steigen. Derartige Geldkosten würden aber die Konjunktur abwürgen, die gerade erst nach der nun hoffentlich abklingenden Corona-Krise an Fahrt gewinnt. Also wird die Währungspolitik lavieren - und Zinsanpassungen vornehmen, die für die Anleger zu niedrig, aber für die Kreditnehmer zu hoch sein werden. Fazit: Die Zinspolitik kann somit leicht eine Wirtschaftsbremse auslösen.

Damit nicht genug. Offen ist, ob die bisher eingetretenen Preiserhöhungen ausreichen, um wieder ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Geldwert und der tatsächlichen Wirtschaftsleistung herzustellen. Ist dies der Fall, dann käme eine Stabilisierung zustande, und die künftigen Inflationsraten würden, ausgehend von dem jetzigen Niveau, wieder niedriger sein und für eine Entspannung sorgen. Diese Entwicklung ist aber nur möglich, wenn die Wirtschaft blüht, und auch der Staat mit hohen Investitionen für zusätzliche Impulse sorgt. Wirken diese beiden Faktoren nicht in ausreichender Weise, kommt keine Wirtschaftsleistung zustande, die das aktuelle Preisniveau rechtfertigt, und die Preise werden weiter steigen (was in der derzeitigen Situation zu befürchten ist). Wenn also kein solider Aufschwung gelingt, erfolgt eine Beschleunigung der Inflation, die, einmal in Gang gekommen, schwer zu bremsen ist.

Die Folgen wären klar: Firmenzusammenbrüche, Arbeitslosigkeit, und unweigerlich auch ein deutlicher Rückgang der Börsenkurse, der sich zu einem Crash ausweiten könnte. Die Weltwirtschaft steht in diesen Tagen an einem Wendepunkt, wobei die Wirtschaftspolitiker die Dimension der Herausforderungen und Gefahren nicht in vollem Umfang zu erkennen vermögen. Vor allem in Europa sind die Investitionsprogramme zur Wiederbelebung der Wirtschaft nach der Corona-Krise wenig überzeugend; in den USA dagegen sind die Volumina in Relation zur Bevölkerung weit größer und sehen konkretere Maßnahmen vor. Ob sie ausreichen, um eine Rezession zu vermeiden, ist allerdings bei beiden fraglich.

Die Börsianer haben derzeit eine gute Gelegenheit zur Schadensbegrenzung

Die Börsianer sollten jedoch nicht schwarzsehen. Wenn nicht ein überraschendes Ereignis, etwa die Ausweitung des Ukraine-Kriegs auf andere Länder, eine Massenpanik an den Börsen auslöst, haben die Anleger jetzt Zeit, ihre Portefeuilles zu ordnen, bevor die realen Probleme größere Erschütterungen auf den Aktienmärkten auslösen. In England würde man sagen: Es besteht ein „window of opportunity“.

Eine Bereinigung von Depots muss auf zwei entscheidende Kriterien abstellen – zum einen auf das KGV eines Unternehmens, zum anderen auf seine realistischen Zukunfts-Chancen.

Das KGV, das Verhältnis der Kurse zu den tatsächlich erwirtschafteten Gewinnen, ist das solideste Kriterium für die Beurteilung älterer, schon länger bestehender Unternehmen. Ein KGV von 10 bedeutet, dass der Preis einer Aktie das zehnfache des Gewinns beträgt und die Firma somit eine Rendite von zehn Prozent erwirtschaftet. Bei einem KGV von 20 sinkt der Satz auf fünf Prozent, bei einem von 30 sind es nur mehr 3,3 Prozent und so fort. Nachdem nur ein Teil des Gewinns an die Aktionäre fließt, ist auch die Dividendenrendite zu beachten, wobei Gesellschaften, die regelmäßig ausschütten, natürlich besonders attraktiv sind.

Als Faustregel mag gelten, dass ein KGV bis zu 20 und unter Umständen sogar bis zu 30 Prozent sowie eine Dividendenrendite zwischen zwei und vier Prozent attraktive Werte darstellen. Im Boom sind aber viele Kurse in lichte Höhen gestiegen und bewegen sich trotz der in den letzten Monaten eingetretenen Kurskorrektur bei astronomischen KGV-Werten, die auf Dauer nicht halten können und daher aktuell für den Verkauf sprechen. Bei den weiterhin hohen Aktienkursen kann man sich also derzeit in relativer Ruhe von den gefährdeten Papieren verabschieden.

Das ist anhand der im Internet leicht auffindbaren KGV-Werte unschwer durchzuführen. Weniger leicht ist der Abschied von überhöhten Kursen bei Fonds, deren Kauf- und Verkaufspolitik für den Anteil-Inhaber nicht laufend nachvollziehbar ist. Da werden jetzt wohl Fonds punkten, die von vornherein nur in solide Dividendenwerte investieren. Wer auf Index-gebundene Fonds setzt, hat in der jüngsten Vergangenheit von den Kurssteigerungen profitiert - muss aber jetzt bluten, denn geht die Reise nach unten, dann bilden die Aktien-Indizes die Umkehr naturgemäß ab und die Index-Fonds folgen.

Die Konzentration auf „sichere“ Gesellschaften oder so genannte „Blue Chips“ hat ihren Reiz, doch zeigt die jüngste Entwicklung der Wirtschaft, dass neue Unternehmen oft interessanter sind. Die Gewinnchancen sind enorm (allerdings, das darf natürlich nicht verschwiegen werden) auch die Gefahr eines Totalverlusts, wenn sich die Hoffnungen nicht erfüllen. Die großen Internet-Giganten waren noch vor gar nicht langer Zeit, vor fünfzehn oder zwanzig Jahren, unbeachtete Start-Ups und verdienen heute mehr als alteingesessene Großunternehmen mit jahrzehntelanger oder noch längerer Historie.

Somit sollte die Suche nach vielversprechenden Start-Ups gleichberechtigt neben der Betrachtung der KGV stehen. Bei den Start-Ups wird oft noch kein oder erst ein minimaler Gewinn erzielt. Allerdings sind auch die Kurse in der Anfangsphase niedrig, sodass ein Kauf mit geringen Beträgen möglich ist. Diese Strategie ist in Europa allerdings nur schwer umzusetzen, da auf dem alten Kontinent neue Firmen kaum Bedingungen vorfinden, die ihnen den Weg an die Börse ermöglichen. Diese Schwäche des Kapitalmarkts behindert auch das Entstehen neuer attraktiver Gesellschaften und macht den Innovations-Wettbewerb mit den USA und anderen Ländern mit einer großen Start-Up-Szene wie etwa Israel beinahe unmöglich. In Amerika ist der Kauf von Aktien junger Firmen dagegen recht leicht zu realisieren; ein Weg, der auch Europäern über das Internet offensteht (womit natürlich die Ersparnisse anderswo als im eigenen Land für Impulse sorgen).

Ist derzeit „verkaufen und konsolidieren“ angesagt?

Die Antwort lautet „nein“, was sich schon aus dem obigen Hinweis auf Aktien von vielversprechenden Start-Ups ergibt. Ein „ja“ würde darüber hinaus auch den Verzicht auf die Zukunft bedeuten, die sich nämlich - trotz aller geschilderten Probleme - als vielversprechend erweist: Schon ein kleiner Rundblick offenbart die Chancen. Ein paar Beispiele:

  • Da ist die Energie-Wirtschaft. Die Bemühungen um Wasserstoff als Energieträger sind weit gediehen, hier wird möglicherweise der tatsächliche Abschied von Öl, Kohle, Gas und Atom in die Wege geleitet. Aber auch Mini-Atomkraftwerke könnten sich durchsetzen. Dem Unternehmen, dem es gelingt, für die - zumindest bislang noch - hoch subventionierten Sonnen- und Windanlagen kostengünstige und effektivere Alternativen anzubieten, wird sicher zum Star.
  • Weiterhin ist die Medizin zu erwähnen - sie bricht zu neuen Ufern auf. Der Covid-Impfstoff auf der Basis der Boten-RNA hat zwar nicht alle Erwartungen erfüllt, aber das Tor zu einer neuen Medizin aufgestoßen.
  • Im Ernährungsbereich sind der Abschied von zu viel Zucker, zu viel Fett und der Wechsel zu Naturprodukten im Gange. Derzeit sind das noch Nischenmärkte, doch Unternehmern, die die neue Art der Ernährung abholen und Massenprodukte herstellen, die nicht vor Konservierungsmitteln strotzen, gehört die Zukunft.
  • Und schließlich ist da noch das Internet: Trotz der eindrucksvollen Erfolgsgeschichten der vergangenen beiden Jahrzehnte steckt das Netz noch in den Kinderschuhen; die Nutzung der Möglichkeiten und die Schaffung zusätzlicher Kapazitäten sind die Themen von morgen.

Kurzum, die Zukunft wird gerade in aufregenden jungen Unternehmen gewonnen, und die Börsianer sind gut beraten, ihr Geld in diese vielfältigen und aufregenden Bereiche zu lenken, auch wenn vorerst keine Gewinne winken. Die Erfolge werden in Zukunft viele aus diesem Kreis zu großen Blue Chips machen. Leider allerdings - und das ist die schlechte Nachricht - kaum auf unserem Heimatkontinent Europa.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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