Arno Luiks Interviews beginnen oft mit provozierenden Fragen, schon mit der ersten Antwort wird der Leser in diese Gespräche hineingezogen – und liest Dinge, die er anderswo nicht gelesen hat. Luik verführt seine Gegenüber von Beginn an zu einer erstaunlichen Offenheit und schafft es, Brisantes aus ihnen herauszukitzeln. Sein Gesprächsband „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna. Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit" ist eine faszinierende Zeitreise, in der sich Geschichte auf eine mitreißende Weise entfaltet: anekdotisch, politisch, intim. Sie zeigt, warum wir wurden, wer wir sind: eine zerrissene, eine verstörte, manchmal trotzdem schöne Welt – um die es sich lohnt, zu kämpfen.
Als ich Angela Merkel im Frühjahr 2000 zum Gespräch in Berlin treffe, ist sie seit knapp hundert Tagen Partei-Chefin, die erste Frau an der Spitze der CDU. Sie residiert nun ganz oben in der Parteizentrale, in einem großen, hellen Büro – sie, die Frau aus dem Osten, hat sich gegen Helmut Kohl durchgesetzt, gegen Wulff, Oettinger, Koch, Merz, gegen all die CDU-Männer mit Ambitionen; für die CDU-Machos war sie nur ein »Mädel«, ein »Aschenputtel«, nicht wirklich ernst zu nehmen. Allerdings, was kaum einer in der Partei damals ahnte: ein Aschenputtel mit Kohl´scher Machtlust. Und damit verbunden: mit dem Drang zur perfekten Kontrolle – was sich auch an der schwierigen Autorisierung meines Gesprächs zeigte. Gleichwohl, so der Deutschlandfunk, »eines der wenigen Interviews, das Einblicke gab, wie Angela Merkel wirklich tickt«.
Arno Luik: Frau Merkel, die einen verspötteln Sie als »bieder«, »mausgrau«, »trantütig« gar. Andere bejubeln Sie als »blitzgescheit«, »selbstbewusst«, sogar als »überheblich«.
Angela Merkel: Ich finde es nicht schlimm, ein Rätsel zu sein. Das erhält die Spannung.
Arno Luik: Aber wer, zum Teufel, sind Sie nun?
Angela Merkel: Moment. Ich habe viele Facetten – wie jeder Mensch. Es verblüfft mich immer wieder, mit welcher Schnelligkeit abschließende Urteile gefällt werden. Und noch mehr verblüfft mich, mit welcher Selbstverständlichkeit Journalisten manchmal die Urteile voneinander abschreiben – oft, ohne mit mir zu sprechen. Dann gibt es wichtige Ereignisse, und plötzlich hat man ein anderes Image. Gestern war ich mausgrau, plötzlich bin ich brutal und herzlos. Und morgen? Manchmal denke ich, vielleicht runden sich all diese Sichtweisen irgendwann zu einem Gesamtbild.
Arno Luik: Wer also sind Sie?
Angela Merkel: Ich bin ein Mensch. Eine Frau. 46 Jahre alt. Interessant finde ich, dass die Distanz zwischen dem eigenen Wunschbild und dem Erleben der eigenen Person immer geringer wird.
Arno Luik: Sie sind mit sich einverstanden?
Angela Merkel: Ich bin auf gutem Weg. Mit sich selbst Frieden zu schließen, das ist ja ein lebenslanger Prozess, aber ich finde den Vorgang interessant. Man hatte ja als Kind so Ideale. Ich wollte mal Eiskunstläuferin werden. Oder auch Balletttänzerin.
Arno Luik: Sie waren doch, O-Ton Merkel, ein »Bewegungsidiot«.
Angela Merkel: Ja eben! Aber da war die Sehnsucht nach genau dem, was ich eben nicht konnte oder nicht hatte. Ich wollte dickere Haare. Ich wollte blass aussehen, das war für mich wunderbar, denn ich hatte immer so rote Wangen!
Arno Luik: Und mit fünf Jahren konnten Sie noch keinen Berg runtergehen.
Angela Merkel: Man musste mir das rational erklären. Ich hatte da Angst. Mein Vater musste mir sagen, was ich tun muss: »Du musst ein Bein vorsetzen und noch ein Bein, und wenn es zu steil wird, dann musst du die Ferse aufsetze.« Ich hab das brav nachgemacht, und dann ging es. Dann war die Angst weg.
Arno Luik: In einem sind sich alle einig: Sie haben einen starken Willen, Sie sind ehrgeizig.
Angela Merkel: Was soll ich dazu sagen? Mit Sicherheit bin ich nicht unehrgeizig. Sonst hätte ich mir einen anderen Job ausgesucht, wo ich am Freitag um 14 Uhr zu Hause bin und nicht mit Ihnen hier sitze.
Arno Luik: Ulrich Merkel, Ihr erster Mann, hat Sie so beschrieben: »Sie ist eine Kämpfernatur.«
Angela Merkel: Ist doch nicht schlimm, oder? Ich empfinde das als ein Kompliment. Ein Politiker muss machtbewusst sein. Er muss ehrgeizig sein. Er muss sich selbst etwas abverlangen können.
Arno Luik: Und er muss kämpfen können?
Angela Merkel: Ich glaube, dass ich kämpfen kann, aber ich gehe nicht jeden Kampf ein. Ist der Kampf erfolgversprechend? Reichen die Kräfte? Man kann nicht an allen Fronten gleichzeitig kämpfen. Manche Kämpfe muss man delegieren, manche muss man verschieben.
Arno Luik: Aber Mitte Dezember 1999 wussten Sie: Jetzt muss ich den Brief in der FAZ schreiben und die CDU auffordern, sich von Kohl zu lösen. Da wussten Sie: Jetzt kann ich den Kampf führen!
Angela Merkel: Nicht: kann. Sondern: muss! Um der Zukunft der CDU willen.
Arno Luik: Waren Sie beim Schreiben des Briefs aufgeregt?
Angela Merkel: Erstens war es kein Brief, sondern ein Aufsatz, zweitens haben Sie einen Hang zum Theatralischen …
Arno Luik: Ich bitte Sie: Mit diesem Schreiben legten Sie sich mit dem Übervater der CDU an. So etwas macht man nicht jeden Tag.
Angela Merkel: Nein. Zuerst ordnet man da seine Gedanken. Dann ringt man mit sich, ob man es macht oder nicht. Die Hader-Phase. Und dann ist es entschieden.
Arno Luik: Ein Bein vor, noch ein Bein vor – es ist wie beim Berg-Runtergehen.
Angela Merkel: Wenn man sich entschieden hat, ist es durch. Dann ist es ein Point of no return, und dann ist es gut.
Arno Luik: Egal, wie Sie sich mühen: Sie haben keine Chance, Sie sind eine Vorsitzende auf Abruf, Ihr alter politischer Ziehvater zieht weiterhin die Fäden und …
Angela Merkel: Moment, ein Vorsitzender ist immer ein Vorsitzender auf Zeit, auf Abruf. Ich habe ein schönes Amt in einer schwierigen Zeit. Ich muss mich bewähren. Die Amerikaner würden es »Challenge« nennen, und ich nehme die Herausforderung an.
Arno Luik: Sie stehen auf der Kommandobrücke eines Tankers, und vorn am Bug brennt es. Sie sehen Leute rumrennen, aber Sie wissen nicht, ob die wirklich löschen oder Öl ins Feuer gießen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Ihnen der Laden um die Ohren fliegt.
Angela Merkel: Das glaube ich nicht. Ich habe einen guten Überblick über den Laden, und der fliegt uns nicht um die Ohren. Im Gegenteil, er macht Rot-Grün wieder Dampf.
Arno Luik: Die Regierung Schröder hat Sie mit der Steuerreform elegant aufs Kreuz gelegt.
Angela Merkel: Na ja. Unser Weg in der Sache war richtig. An den Nachbesserungen sehen Sie ja, dass die Regierung die Schwächen ihrer Reform kannte. Jetzt trägt sie in vielen Teilen die Handschrift der Union.
Arno Luik: Doch ausgeknockt liegt Ihr Fraktionschef Friedrich Merz da.
Angela Merkel: Friedrich Merz ist ein guter Fraktionsvorsitzender. Um in der Boxersprache zu bleiben: Die anderen haben einen Punkt gemacht. Aber der Kampf ist noch lange nicht entschieden.
Arno Luik: Und der wird hart – auch parteiintern. Im Bundestag sitzt Helmut Kohl, seine Getreuen kommen zu ihm, streicheln ihn, berühren ihn, tuscheln mit ihm. Das sind doch Machtdemonstrationen gegen Sie.
Angela Merkel: Was? Sie brauchen gar nicht so eine dramatische Sprache zu wählen. Die Sache ist nämlich sehr nüchtern und sachlich zu sehen: Die CDU ist in einer Umbruchphase. Und die politische Zukunft dieser Partei wird nicht mehr von Helmut Kohl bestimmt, sondern von der neuen Parteiführung. Aber die Zukunft wird auch dadurch bestimmt, wie sich die Partei zu ihrer Vergangenheit verhält. Wir müssen da eine gerechte Beurteilung hinbekommen.
Arno Luik: Nach all dem, was über die CDU herauskam, den Lügereien, Betrügereien, den verschwundenen, verfälschten Akten, schwarzen Konten, Schweizer Konten – würden Sie heute nochmals in die CDU eintreten?
Angela Merkel: Ja, denn die CDU ist viel mehr als das, was Sie hier aufzählen. Ich gehe heute meinen Weg, so wie ich ihn gehe, weil ich überzeugt bin, dass die CDU sonst nur von bestimmten Leuten auf die Fehler reduziert würde. Damit wir aber auch über unsere Leistungen sprechen können, nenne ich auch die Fehler.
Arno Luik: Gab es in den letzten Monaten Momente, in denen Sie sagten: »Verdammt! Was für einer Partei gehöre ich bloß an?«
Angela Merkel: Nein.
Arno Luik: Ach, kommen Sie.
Angela Merkel: Es gab Stunden, da hat es mir die Sprache verschlagen.
Arno Luik: Glauben Sie, dass Helmut Kohl beim feierlichen Akt zur Wiedervereinigung am 3. Oktober in der ersten Reihe sitzen wird?
Angela Merkel: Warten Sie es ab. Aber sagen Sie mal, worum geht es Ihnen eigentlich?
Arno Luik: Es geht mir um Sie.
Angela Merkel: Ja?
Arno Luik: Ja, aber Helmut Kohl hat Sie doch geprägt.
Angela Merkel: Zu einem Teil sicherlich. Ich habe viel von Helmut Kohl gelernt – die politische Beurteilungskraft, das Gefühl und das Gespür für politische Vorgänge, für Mehrheiten. Aber ich bin ich und gehe meinen Weg mit meinem Stil.
Arno Luik: Sie werden als Chefin nicht so diktatorisch wie er regieren?
Angela Merkel: Was heißt »diktatorisch«? Diese Frage akzeptiere ich nicht bei einem demokratisch gewählten Parteivorsitzenden, ob er Helmut Kohl oder Merkel oder sonst wie heißt. Sie müssen als Chef in den Ring. Sie müssen Mehrheiten zusammenbringen. Was Helmut Kohl richtigerweise – sonst kann jemand auch nicht Parteivorsitzender sein – nicht geduldet hat, ist persönliche Illoyalität. Ein gesundes Misstrauen gehört zur politischen Arbeit.
Arno Luik: Es ist ein hartes Geschäft?
Angela Merkel: Sicherlich. Aber auch ein Langstreckenlauf ist hart. Manager bei einem Großunternehmen zu sein ist hart. In Parteien geht es doch nicht anders zu als anderswo. Politik ist natürlich hart, wenn man an der Spitze ist. Dazu gehört auch Einsamkeit. Nun können Sie fragen, warum tun sich Menschen das an? Weil es Spaß macht. Weil es eine Herausforderung ist. Ich wurde mal gefragt, was der entscheidende Unterschied gegenüber dem Leben in der DDR ist. In der DDR war es fast unmöglich, seine Fähigkeiten auszuleben und an die eigenen Leistungsgrenzen zu stoßen. Aber daran habe ich Freude.
Arno Luik: Die Grüne Antje Radcke hat den Drang in die Politik mal so begründet: »Es macht Spaß, wichtig zu sein!«
Angela Merkel: Ich denke nicht darüber nach, ob es schön ist, wichtig zu sein. Es ist schön, an die eigenen Leistungsgrenzen zu stoßen, und das heißt in der Politik: Mehrheiten gewinnen, neue Antworten für neue Aufgaben finden. Was ist »wichtig«? Dieser Satz ist merkwürdig. Man merkt doch in der Politik, wie kurzlebig die Erfolge sind, wie schnell die Stimmungen wechseln. Der Glanz des einen Tages kann schon wieder der Niedergang des zweiten sein. Alles ist stimmungsabhängig.
Arno Luik: Der Journalist Rolf Zundel …
Angela Merkel: Ach, mein erstes Weihnachtsbuch nach der Wende war von Zundel. Es war interessant, es ging um Politik und Psychologie.
Arno Luik: Er schrieb: »Die Politik ist erbarmungslos, sie deformiert alle mehr oder weniger.«
Angela Merkel: Tja, das Leben ist überhaupt erbarmungslos, und es deformiert jeden bis zum Tod.
Arno Luik: Das Leben ist Kampf?
Angela Merkel: In gewisser Weise, ja. Ich war bis 35 Physikerin, ich habe heute zehn Jahre Berufserfahrung als Politikerin hinter mir. Aber was deformiert mehr? Der Drang, immer neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen? Als Wissenschaftler großem Ruhm nachzujagen? Und wie ist es bei den Managern internationaler Konzerne? Ich glaube nicht, dass Politiker etwas Besonderes sind. Sie haben doch immer die Chance, ihren eigenen Stil zu bewahren und mit sich im Reinen zu sein.
Arno Luik: Und das sind Sie?
Angela Merkel: Ich denke ja.
Arno Luik: Sie haben die steilste Karriere hingelegt in der bundesdeutschen Parteiengeschichte.
Angela Merkel: Glauben Sie das?
Arno Luik: Ja. Und sind Sie stolz auf das Erreichte?
Angela Merkel: Ich bin verwundert. Ich muss aber erst mal überlegen, was das heißt: »steilste Karriere«.
Arno Luik: Vor zehn Jahren erst traten Sie in die CDU ein.
Angela Merkel: Gut, aber ich habe zu viel zu tun, um staunend dazustehen. Mein Weg ist wahrscheinlich bemerkenswert, aber Gott sei Dank fühle ich das nicht so.
Arno Luik: Aber manchmal, abends vor dem Spiegel, denken Sie da nicht: »Huch, wer bin ich? Was habe ich geschafft?«
Angela Merkel: Nein, mir wird manchmal eher mulmig, wenn ich durch die Welt gehe und all die Menschen nicht kenne, die mir begegnen – und die meinen alle, dass sie mich kennen, dass sie von mir alles wissen. Das gibt mir ein Gefühl der Unbalance. Ich habe aber gern Balance. Das beklemmt mich manchmal. Nimmt mir Freiheit.
Arno Luik: Sie stehen unter ständiger Beobachtung, werden seziert, analysiert, interpretiert.
Angela Merkel: Ich bin völlig überrascht, wenn ich mal was über mich lese, wo ich das Gefühl habe: Das bin ich! Das passiert nicht oft. Manchmal, selten, gibt es Porträts von Journalisten, die einen sogar noch auf etwas bringen. Einer hat mal geschrieben, ich sei eine Wanderin zwischen den Welten, und dass ich mich keiner total verschrieben hätte. Das ist ein interessanter Gedanke, darin ist wohl ein bisschen Wahrheit. Und das berührt mich dann.
Arno Luik: Kennen Sie eigentlich den Witz, der in PDS-Kreisen über Sie kursiert?
Angela Merkel: Nein.
Arno Luik: »Wenigstens eine von uns hat es geschafft!«
Angela Merkel: Was ist daran der Witz?
Arno Luik: Sie waren ja mal in der FDJ, »der Kampfreserve der SED«.
Angela Merkel: Ach so. Ja, das ist richtig, das ist Teil meines Lebens. Aber der PDS-Witz zeigt doch nur, dass diese Partei auch heute noch in der Kontinuität der alten Zeit steht, nichts dazulernt.
Arno Luik: Sie hingegen haben schnell gelernt, Sie sind nun Vorsitzende der CDU. Ist doch irgendwie wahnsinnig?
Angela Merkel: Das ist eine westdeutsche Sicht. Aus Ost-Sicht ist das viel weniger beachtlich. Wahnsinn ist eher, dass der Kalte Krieg überwunden, dass die Mauer gefallen ist! Die meisten Mitglieder der CDU kommen im Übrigen aus den alten Bundesländern, und für sie ist meine Biografie bis zum 35. Lebensjahr etwas Besonderes. Deshalb muss ich mich viel stärker legitimieren, also immer wieder erzählen: Ich bin in Hamburg geboren, im Osten aufgewachsen, war in der FDJ, habe dennoch keine Jugendweihe, sondern bewusst nur die Konfirmation. Darauf bin ich stolz. Dass ich heute Parteivorsitzende bin, ist ein echtes Stück deutscher Einheit.
Arno Luik: Einen Großteil der CDU-Geschichte haben Sie nicht persönlich erlebt. Wie haben Sie sich die Geschichte, den Jargon angeeignet? Büffelt man das alles wie eine Fremdsprache?
Angela Merkel: Bei mir heißt es ja heute noch, dass ich nicht wie ein Politiker spreche. Ich spreche meine Sprache, und ich kann auch zuhören. Dabei lerne ich etwas, und ich denke, man kann auch etwas von mir lernen. Ansonsten bekomme ich viel durch Erzählungen mit, durch das Befragen von Leuten, Zeitungsartikel. Wenn das Kabinett etwa Weihnachtsessen hatte, dann habe ich einfach zugehört. Und das sind schon interessante Geschichten, wie Strauß und Kohl ihre frühen Kämpfe ausgefochten haben. Dass ich einen Teil der Geschichte nicht erlebt habe, hat auch Vorteile, man hat eine größere Unbefangenheit. Auch einen klareren Blick auf manchen Wildwuchs in Deutschland. Mit dieser Unbefangenheit können Sie auch Dinge anders machen. Ich glaube zum Beispiel, dass kaum jemand aus der CDU zu den Kernkraftgegnern nach Gorleben gefahren wäre wie ich, aus dem Osten kommend, um mit ihnen zu diskutieren.
Arno Luik: Frau Merkel, Sie sind schon ein bisschen anders als die üblichen Politiker. Sie sind Olympiasiegerin und …
Angela Merkel: Ja, ich habe mal die Russisch-Olympiade gewonnen. Das war 1970, ich war in der neunten Klasse. Mit der Mannschaft unseres Bezirks war ich bei der DDR-Olympiade in Berlin. Lenin hatte gerade seinen hundertsten Geburtstag, dazu musste man was schreiben, und die Lenin-Biografie auf Russisch erzählen: Ленин родился в 22-ого апредя 1870 году в гороле Ульяновск
Arno Luik: Aha.
Angela Merkel: Ja, »Lenin wurde am 22. April 1870 in Uljanowsk geboren«. Russisch ist eine schöne Sprache, ganz gefühlvoll, ein bisschen wie Musik, ein bisschen melancholisch. Ich habe immer sehr gern Russisch gesprochen. Eines der schönsten russischen Worte ist терпение, und es klingt wie das, was es heißt: Leidensfähigkeit. Nicht so zu sein wie wir, sich aufzulehnen und zu rebellieren, sondern die Dinge auch hinzunehmen und zu akzeptieren. Das schafft eine höhere Gelassenheit dem Leben gegenüber.
Arno Luik: Die hätten Sie gern.
Angela Merkel: Der Gedanke gefällt mir, wahrscheinlich wegen meiner Unfähigkeit, selbst so zu leben.
Arno Luik: Sie haben geschafft, was dem Osten im Kalten Krieg mit dem Westen nie gelang, obwohl es Erich Honecker so verzweifelt wollte: »Überholen, ohne einzuholen!«
Angela Merkel: Na gut, ich habe durch die deutsche Einheit einfach unheimliches Glück gehabt.
Arno Luik: Ulrich Schoeneich, der SPD-Bürgermeister Ihres Heimatortes Templin, ist sehr stolz auf Sie, denn Ihr Erfolg zeige, »dass wir im Osten nicht nur das grüne Männchen auf der Ampel haben!«.
Angela Merkel: Ja, das stimmt. Ich bin eine Projektionsfläche, klar, natürlich, für viele Menschen aus den neuen Bundesländern. Es gibt ja nicht so viele, die an die Spitze gekommen sind.
Arno Luik: Sie sind nun sogar, lobt die FAZ, eine »Lichtgestalt: Kein anderer hätte die CDU »so schnell aus dem tiefen Schatten wieder ans Licht bringen können«.
Angela Merkel: Na ja.
Arno Luik: So nüchtern sehen Sie das? Sogar einem Heiner Geißler wird es ganz elegisch bei Ihnen. Sie seien »eine herbe Schönheit« mit »melancholischem Blick in einem zuweilen von Traurigkeit umflorten Gesicht«.
Angela Merkel: Ich sehe aus, wie ich aussehe, und fertig.
Arno Luik: Waren Sie eigentlich gern ein Mädchen?
Angela Merkel: Ja, ich hatte eine schöne Kindheit. Das wird ja im Westen oft übersehen, dass das Leben in der DDR nicht nur aus Politik bestand. Die Uckermark als Landschaft ist wunderschön, wir sind im Wald rumgerannt, haben Blaubeeren gepflückt, Pilze gesammelt. Ich hatte mein Gartenstück, im Sommer bin ich jeden Tag Baden gefahren. Abends auf dem See schwimmen war schön. Weihnachtslieder singen mit Echo. Ich habe viel mit russischen Soldaten geplaudert, weil bei uns ja doppelt so viele Russen im Wald waren wie Deutsche.
Arno Luik: Ihre Eltern waren nicht sehr streng?
Angela Merkel: Ja und nein. Es war ein sehr geregeltes Elternhaus. Aber es war auch ein sehr offenes Haus, wir haben viel diskutiert. Mein Vater hatte eine klare Meinung. Er ist sehr gründlich, ich bin ein bisschen pfuschig. Das hat mir manchmal als Kind Pein bereitet, aber daraus habe ich natürlich auch was gelernt. Ich durfte nie auf dem Moped mitfahren. Darunter habe ich gelitten. Und ich musste beizeiten zu Hause sein. Aber mit 18 wurde es mir zu eng in der Kleinstadt. So ab der zehnten Klasse bin ich immer auf Tour gegangen. Prag, Budapest, Bukarest, Sofia. Meist sind wir mit dem Zug gefahren, haben wild gezeltet, sind mit dem Rucksack ins Gebirge. 1986 war ich in Armenien, Aserbaidschan, Georgien. Da war ich mit zwei Freunden, wir sind getrampt.
Arno Luik: Das war eine gute Zeit?
Angela Merkel: Ja, von 16 bis 26 war es in Ordnung, aber dann hatte man alles durch, rauf und runter. Und dann finden Sie es zunehmend dumm, dass man nur 30 Mark pro Tag umtauschen darf. In Budapest hat der Campingplatz schon 20 Mark gekostet, und dann musste man irgendwie sehen, dass man zur Suppe noch ein bisschen Salat kriegt. Irgendwann reichte es. Irgendwann hatte man es auch satt, mit Konservenbüchsen im Rucksack durch die Welt zu reisen.
Arno Luik: Wie sind Sie erzogen worden?
Angela Merkel: Man hat mir wie Millionen anderer Kinder beigebracht, dass man zu Ende bringt, was man anfängt. Es war auch so, dass meine Mutter oft sagte: »Ihr seid Pfarrerskinder! Ihr müsst immer noch etwas besser sein als die anderen.«
Arno Luik: Und am Mittagstisch wurde gebetet?
Angela Merkel: Ja, sicher. Ich bin auch zur Christenlehre gegangen, zum Gottesdienst, und ich habe mir wie alle die Frage nach Gott gestellt.
Arno Luik: Glaube – ist das auch heute für Sie noch wichtig?
Angela Merkel: Ja. Warum schauen Sie jetzt so skeptisch? Der Mensch ist nicht die letzte Instanz, und das, finde ich, ist etwas sehr Erleichterndes, auch für die Politik. Dass man Fehler machen kann, dass man irrt, dass man sich nicht überhöht, dass es Gemeinschaften gibt, die das Gleiche glauben, ohne dass man sich ständig rechtfertigen muss. Und der christliche Glaube ist eine Sicht aufs Leben, die darin besteht, dass man sich nicht als das Wichtigste nimmt. Es hat auch etwas mit Vergebung zu tun, damit, dass der Mensch ein Sünder ist.
Arno Luik: Sie sind wahrscheinlich die erste Parteivorsitzende der CDU, womöglich das einzige Mitglied der CDU, das je in einer besetzten Wohnung gelebt hat.
Angela Merkel: Das mag sein, das weiß ich nicht.
Arno Luik: Aber geräumt worden sind Sie nicht?
Angela Merkel: Nein, dem bin ich knapp entgangen. Aber ich war unheimlich froh, in Berlin in den 80er-Jahren eine Wohnung gefunden zu haben.
Arno Luik: Und dann, Sie waren 30 Jahre alt, kam Ihr Vater zu Besuch und sagte: »Weit hast du es noch nicht gebracht!«
Angela Merkel: Ja, ich bestätige die Richtigkeit des Zitats. Ich war gerade umgezogen in eine nicht legale Wohnung, die war in keinem guten Zustand.
Arno Luik: Wie war das für Sie, als die Mauer fiel?
Angela Merkel: Wunderbar. Ich war in der Sauna. Da bin ich immer donnerstags hingegangen mit Freundinnen, im Thälmann-Park hier in Berlin. Und dann hörte ich die Pressekonferenz von Schabowski, und nach der Sauna bin ich dann zur Bornholmer Straße und bin rüber. Mit meiner Mutter hatte ich mir immer ausgemalt, was wir als Erstes machen würden: ins Kempinski gehen, Austern essen. Aber da waren wir bis heute nicht. Ich habe bis jetzt noch keine einzige Auster gegessen!
Arno Luik: Aber in der DDR hatten Sie keiner Dissidentengruppe angehört?
Angela Merkel: Ich hatte Mühe mit deren Stil. Ich habe Bahro gelesen, Solschenizyn, und mich mit Freunden darüber unterhalten. Im Blick zurück würde ich sagen: zu alternativ.
Arno Luik: Lothar de Maizière hat Sie damals so empfunden: Typ Studentin, selbst geschnittener Bubikopf, Jesuslatschen.
Angela Merkel: Man kann wirklich nicht sagen, dass ich nur bieder war und zwischen Gummibaum und Robotron-Fernseher lebend mich abends nicht aus dem Haus bewegt hätte. Es hat mich fasziniert, was passiert ist. Ich bin zu Rainer Eppelmann gegangen, und wenn der Stefan Heym gelesen hat, dann bin ich da hin. Aber mich hat das zu lange Diskutieren gestört. Ich hatte mit dem Sozialismus abgeschlossen. Diese Mischung aus Alternativität und einer anderen Form von Sozialismus hat mich nicht gereizt.
Arno Luik: Aber Sie hätten doch, wie Kohl sagen würde, ein »Soz« werden können.
Angela Merkel: Nein. Quatsch! Ich bin ein sehr individualistischer Typ, ich mag das Kollektivistische nicht. Ich habe mir ja die SPD angeschaut mit meinem damaligen Chef. Er ist dann gleich dortgeblieben. Er ist heute der Bürgermeister von Köpenick. SPD? Nein! Für mich war das nichts. Ich bin dann weiter zum „Demokratischen Aufbruch“. Das hatte etwas sehr Unkoordiniertes, das hat mir gefallen. Da standen unausgepackte Computer rum.
Arno Luik: Da wurden Sie gebraucht?
Angela Merkel: Ich wurde gebraucht und hab zugepackt. Und die Ziele des demokratischen Aufbruchs – die Einheit, Währungsunion, soziale Marktwirtschaft: Das hat mir gut gefallen.
Arno Luik: Lothar de Maizière meint, Sie wären durch Zufall in der CDU gelandet.
Angela Merkel: Das kann Lothar de Maizière nicht einschätzen.
Arno Luik: Wohin wollen Sie die CDU führen? Sie sind die Chefin, Sie haben das letzte Wort.
Angela Merkel: Ich kenne den Punkt, dass in bestimmten Fragen die Chefs das letzte Wort haben. Ich war sieben Jahre Landesvorsitzende, war Ministerin. Jetzt so eine große, bundesweite Volkspartei zu führen ist eine neue Aufgabe.
Arno Luik: Und das Ziel ist klar: Sie wollen an die Macht.
Angela Merkel: Ich will, dass die CDU 2002 die Regierung übernimmt, und sie dazu inhaltlich voranbringen. Was zum Beispiel ist die Aufgabe der CDU nach der Beendigung des Kalten Kriegs? Nachdem die Grünen die Nato anerkannt haben? Mit der deutschen Einheit hat sich die ganze Nachkriegsordnung verändert. Und ich möchte, mit den alten Werten vom christlichen Menschenbild und unserem Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit, von Solidarität, Antworten auf die zukünftigen Fragen finden.
Arno Luik: Das sind Schlagworte.
Angela Merkel: Vielleicht für Sie, aber sie umschreiben die Aufgabe, deutlich zu machen, was soziale Marktwirtschaft unter internationalen Marktbedingungen bedeutet.
Arno Luik: Glauben Sie, dass die Welt gerechter wird?
Angela Merkel: Ich habe nicht dieses deterministische Geschichtsverständnis, nach dem sich die Menschheit in einer ständigen Höherentwicklungsspirale befindet. Ich glaube, dass die Welt sich ruiniert, wenn sie es nicht schafft, mit den großen sozialen Unterschieden fertig zu werden.
Arno Luik: So ähnlich würde es Kanzler Schröder auch sagen. Und das ist doch Ihr Problem: Überall wo Sie hinwollen, sitzt er schon – und macht quasi CDU-Politik.
Angela Merkel: Nein, dem würde er genauso widersprechen wie ich. Schröder hat eine große Schwäche: Er denkt nicht zu Ende. Er interessiert sich eigentlich für die Sachen nicht. Das ist sein ganz großes Manko. Er ist ein Augenblicksmensch.
Arno Luik: Aber das ist doch eine Vision, die Sie treibt: die erste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland zu sein.
Angela Merkel: Mir wurde schon gesagt, ich hätte keine richtigen Visionen. Das ist wahrlich keine. Sie haben Ihr Gespräch damit begonnen, dass ich zum Scheitern verurteilt bin. Es geht schnell bei Ihnen: Jetzt fragen Sie mich nach der Kanzlerschaft, sehen Sie mich als Kanzlerin?
Arno Luik: Und Sie? Als was sehen Sie sich?
Angela Merkel: Ich bin Parteivorsitzende, bin gerade mal hundert Tage im Amt. Darauf konzentriere ich mich. Ich habe das letzte Wort, Sie nun die letzte Frage.
Arno Luik: Was werden Sie dereinst dem alten Mann da oben sagen – so es ihn denn gibt –, wenn er Sie fragt, was Sie Gutes für die Menschen getan haben?
Angela Merkel: Ich bin noch nicht so weit, dass ich mich mit solchen Gedanken beschäftige. Ich weiß auch nicht, ob der liebe Gott so fragt. Ich habe gerade die Mitte meines Lebens erreicht. Ich habe in der DDR gelebt, ich lebe mein Leben jetzt im geeinten Deutschland. Ich habe gute Sachen gemacht: Ich war eine ordentliche zweite Regierungssprecherin, ich habe den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz eingeführt, eine schöne Klimakonferenz in Berlin geführt. In einer entscheidenden Phase der CDU habe ich nicht Unwichtiges getan. Und privat bin ich geborgen. Und das ist doch in Ordnung, dass man ab und zu einen kleinen Stein gesetzt hat. Sie können doch nicht ewig auf Achse sein, und zum Schluss blicken Sie zurück und fragen: Was habe ich eigentlich gemacht?
Arno Luik: Ihr Kollege Edmund Stoiber hat auch fürs Jenseits große Pläne. Er möchte dort oben Karl Marx fragen, ob ihm eigentlich klar sei, »was er mit seiner Ideologie alles angerichtet hat«.
Angela Merkel: Für den Himmel habe ich keine Pläne. Ich will da oben meine Ruhe. Sonst nichts.
Angela Merkel wird am 17. Juli 1954 in Hamburg geboren und wächst in Templin (DDR) auf, wo ihr Vater Pfarrer ist. Sie studiert Physik, ist auch in der FDJ. Nach dem Fall der Mauer engagiert sie sich beim "Demokratischen Aufbruch", wird stellvertretende Sprecherin der Regierung de Maizière. 1990 wechselt sie zur CDU, kommt in den Bundestag, Helmut Kohl ernennt sie zur Frauen- und Jugendministerin. Rasant steigt sie auf: 1991 Vize-Vorsitzende der CDU, 1994–1998 Umweltministerin, danach CDU-Generalsekretärin. Im April 2000 wird Angela Merkel Partei-Chefin, 2005 Bundeskanzlerin – 16 Jahre lang, bis zum Herbst 2021, regiert sie in Koalitionen mit der SPD, der FDP, zuletzt wieder mit der SPD.
Arno Luik: „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna. Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit mit Ina Müller, Sahra Wagenknecht, Yanis Varoufakis, Jean Ziegler, Roland Kaiser, u.v.m.“, 288 Seiten, Westend Verlag, 14. März 2022