Politik

London kündigt offen Bruch des Brexit-Vertrags an

Während sich London gegenüber Ländern außerhalb Europas als Verfechter einer „regelbasierten Ordnung“ aufspielt, schert sich die Johnson-Regierung selbst nicht um die Einhaltung der eigenen Verträge.
12.05.2022 09:00
Aktualisiert: 12.05.2022 09:00
Lesezeit: 3 min

Der Streit um Brexit-Regeln für Nordirland droht zu einem Handelskrieg zwischen der EU und Großbritannien zu werden. Die britische Außenministerin Liz Truss wies EU-Vorschläge zur Änderung des sogenannten Nordirland-Protokolls am Mittwoch brüsk zurück. Damit rückt eine einseitige Aufkündigung des mühsam ausgehandelten Vertragswerks immer näher. Die EU drohte, dann sei auch das Brexit-Handelsabkommen in Gefahr. Die Folge könnte ein Handelskrieg zwischen den wirtschaftlichen Schwergewichten sein - ausgerechnet während des russischen Kriegs gegen die Ukraine, der die Lebenshaltungskosten ohnehin in die Höhe treibt.

Ein EU-Diplomat warnte vor einem Bruch des Völkerrechts. Die westliche Einheit zu untergraben, während eben dieses Recht gegen Russland verteidigt werde, wäre "ein absolut unverantwortlicher Schritt". Mit Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin fügte er hinzu: "Putin wäre begeistert."

Zuvor hatten Bundeskanzler Olaf Scholz und Belgiens Regierungschef Alexander de Croo davor gewarnt, die Regeln für Nordirland ohne Absprache zu ändern. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, David McAllister (CDU) sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Sollte die britische Regierung nun einseitige Schritte ergreifen, erwarte ich eine entschlossene Reaktion der EU."

Die konservative britische Regierung, gebeutelt von Skandalen und Wahlschlappen, gibt sich jedoch stur. Außenministerin Truss kritisierte: "Die aktuellen EU-Vorschläge gehen nicht angemessen auf die wirklichen Probleme ein, die Nordirland betreffen, und würden uns in einigen Fällen zurückwerfen." Ihr Ministerium warnte, die Handelsbeziehungen könnten sich verschlechtern und Waren des täglichen Bedarfs aus den Regalen in Nordirland verschwinden. Premierminister Boris Johnson nannte die Lage "sehr schwierig".

Das Nordirland-Protokoll, das Johnson selbst vereinbart hatte, soll nach dem Brexit Kontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Republik Irland vermeiden und neue Konflikte zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands verhindern. Dafür müssen nun aber Waren kontrolliert werden, wenn sie von Großbritannien nach Nordirland gebracht werden. Im Oktober hatte die EU-Kommission deutliche Erleichterungen für den Warenverkehr in Aussicht gestellt, stößt damit - wie nun klar wird - aber auf taube Ohren.

"Wir haben immer eine Verhandlungslösung bevorzugt, aber werden nicht davor zurückschrecken, Maßnahmen zur Stabilisierung der Situation in Nordirland zu ergreifen, wenn keine Lösungen gefunden werden können", betonte Truss. Zwar besteht leise Hoffnung, dass Truss und EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic bei einem für diesen Donnerstag geplanten Telefonat die Wogen glätten. Doch in London mehren sich Anzeichen, dass Truss schon kommende Woche mit einem Gesetzentwurf den einseitigen Bruch des Protokolls vorbereiten könnte.

Experten wundern sich über die britische Taktik. Zwar hatte Johnson die Parlamentswahl 2019 auch dank des Versprechens "Get Brexit done" (in etwa: "Den Brexit zu Ende bringen") haushoch gewonnen. Doch der Slogan zieht nicht mehr. Vielmehr nervt das Thema viele Menschen - vor allem in Nordirland. Anders als von der britischen Regierung behauptet stößt das Protokoll bei der Mehrheit der Bevölkerung offensichtlich nicht auf Widerstand. Im Gegenteil: Die Mehrheit der neu gewählten Abgeordneten bei der Wahl zum Regionalparlament vorige Woche unterstützt die Regelung.

Der Streit um das Protokoll hemmt nun auch die Bildung einer neuen Regierung in der früheren Bürgerkriegsregion. Dabei hat sich die Wirtschaft dort schneller von der Pandemie erholt als in anderen Landesteilen. Nordirische Unternehmen können ohne Zollhürden mit der EU handeln. Die Region gehört de facto weiterhin der EU-Zollunion und dem Binnenmarkt an - dank des Protokolls. Nordirische Wirtschaftsvertreter fordern die Parteien deshalb mit Nachdruck auf, zügig im Parlament die Arbeit aufzunehmen.

Doch der Verweis auf die angebliche Unzufriedenheit im pro-britischen Lager dient Johnsons populistischer Regierung zunehmend dafür, sich als Retter der Verbraucher zu geben. Dabei sind seine Aussichten auf eine Neuverhandlung des Protokolls gleich null. In Brüssel ist man sich einig, dass es dazu nicht kommen wird.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Panorama
Panorama Behördendigitalfunk: Ausfall im bundesweiten Funkverkehr von Polizei und Behörden - das sind die Folgen
06.05.2025

In Deutschland ist es zu einem umfassenden Ausfall im Digitalfunk der Behörden gekommen. Dies bestätigte das Bundesinnenministerium auf...

DWN
Politik
Politik Kanzlerwahl: Merz im zweiten Wahlgang zum Bundeskanzler gewählt
06.05.2025

Das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik: CDU-Chef Merz hat im ersten Wahlgang bei der Kanzlerwahl keine Mehrheit erreicht....

DWN
Politik
Politik AfD-Bewertung: Brandenburgs Verfassungsschutzchef verliert Amt
06.05.2025

Der Verfassungsschutzchef von Brandenburg ist überraschend abgesetzt worden. Während die Diskussion über die AfD und Rechtsextremismus...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Wall-Street-Strategen setzen auf zwei KI-Aktien – trotz wachsender Weltwirtschaftsrisiken
06.05.2025

Trotz wachsender globaler Risiken setzen Analysten auf die Zukunftstechnologie KI – mit Broadcom und ServiceNow an der Spitze.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Putins Geldreserven schmelzen dahin – Russlands Ölpreis unter Druck wie selten zuvor
06.05.2025

Russlands Finanzpolster bröckelt. Der Preis für Ural-Öl, jahrzehntelang eine der tragenden Säulen der russischen Wirtschaft, ist auf...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Dollar unter Druck: Starökonom Rogoff warnt vor globalem Finanzbeben
06.05.2025

Kenneth Rogoff, einer der einflussreichsten Ökonomen unserer Zeit, schlägt erneut Alarm – und diesmal geht es um nicht weniger als das...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft E Auto im Preiskampf – Preisnachlässe für Elektromobilität wegen strenger CO₂-Vorgaben
06.05.2025

Die Nachlässe auf reine Elektroautos sind im April deutlich gestiegen und liegen laut Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer nun bei...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Ifo-Institut: Selbstständige wegen Auftragsmangel unter Druck
06.05.2025

Das Geschäftsklima für die Selbständigen und Kleinstunternehmen hat sich deutlich verschlechtert: Fast jeder zweite befragte...