In den vergangenen Tagen haben die westlichen Spitzenpolitiker die Weichen für eine Eskalation des Ukraine-Kriegs gestellt. Dabei wollten sie Beiträge für den Frieden leisten, haben aber mit ihren Maßnahmen das genaue Gegenteil bewirkt. Folgende Fehler haben sie begangen:
- Die EU-Spitzen haben dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij den baldigen Beitritt zur Gemeinschaft versprochen. Allerdings muss man wissen, dass Artikel 42, Ziffer 7 des EU-Vertrages lautet: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung.“ Die Folge: Ab dem Tag des Beitritts der Ukraine befänden sich die EU-Staaten im Krieg mit Russland. Als ob es um eine Spazierfahrt zu einem lieben Bekannten ginge, reiste vorigen Samstag Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach Kiew, am Donnerstag folgten das Trio Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Mario Draghi. Derzeit eilt ein EU-Politiker nach dem anderen nach Kiew, um sich gemeinsam mit Selenskij in den Medien zu präsentieren.
- Am Mittwoch agierte der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bei einer Sitzung im NATO-Hauptquartier in Brüssel als eine Art oberster General im Krieg der Ukraine gegen Russland und koordinierte die Waffenlieferungen von 50 Staaten. Die Szene erinnerte auf groteske Weise an eine Wohltätigkeitsveranstaltung, bei der Spenden verteilt werden. Nur: Wenn die Ukraine den Krieg zu verlieren droht, wird die NATO das dann kaum noch kommentarlos zur Kenntnis nehmen können. Den Waffen werden fast unweigerlich auch Truppen folgen. In ähnlicher Weise sind die USA in den Vietnam-Krieg geschlittert.
Ein diplomatischer Scherbenhaufen - und das kurz vorm EU- und vorm NATO-Gipfel
Bis zur vergangenen Woche konnte der Westen noch die Illusion aufrechterhalten, dass der Ukraine-Krieg primär eine Angelegenheit der Ukraine sei. Die Waffenlieferungen konnte man als Unterstützung eines befreundeten Staates darstellen. US-Präsident Joe Biden formulierte sogar, man würde der Ukraine die Waffen nur borgen. Bis zur vergangenen Woche galt auch die Parole, man werde der Ukraine zwar helfen, sich aber nicht in einen Krieg mit Russland - der aller Voraussicht nach in einem Weltkrieg münden würde - ziehen lassen. Dieser Grundsatz ist nun über Bord geworfen worden. Wobei man annehmen darf, dass den Akteuren nicht bewusst ist, was sie angerichtet haben: Austin ist pensionierter General, der die Welt aus der Perspektive der US-Armee sieht, und die ist einem Eingreifen, wie die Geschichte ja immer wieder gezeigt hat, alles andere als abhold. Was Von der Leyen, Macron, Scholz und Draghi angeht: Sie überschätzen schon lange die Bedeutung und die Macht der EU.
Auch der Zeitpunkt dieser Aufgabe einer Politik, die die Ausweitung des Ukraine-Kriegs verhindern sollte, zeigt, wie unbeholfen und konzeptlos man agiert. In zwei Wochen finden entscheidende Termine statt: Die EU hält vom 26. bis zum 28. Juni in Elmau (Landkreis Garmisch-Partenkirchen) einem Gipfel ab, präziser: Eine Tagung des Rats der Regierungen aller Mitgliedstaaten. Am 29. und 30. Juni folgt eine große NATO-Tagung in Madrid. Die EU und die NATO wollen dort grundlegende Weichenstellungen beschließen – wobei es natürlich hilfreich gewesen wäre, nicht schon im Vorfeld diplomatisches Chaos anzurichten.
Macron möchte aus der EU eine funktionierende Verteidigungsallianz machen
Die EU will bei ihrem Gipfel auf Drängen des französischen Präsidenten und derzeitigen Ratsvorsitzenden Macron einen grundlegenden Entschluss fassen: Nach zahlreichen erfolglosen Anläufen soll endlich eine EU-Armee aufgestellt werden.
- Die weiter oben bereits zitierte Beistandspflicht im Falle eines Angriffs auf ein EU-Land ist allerdings schon jetzt im Artikel 42 verankert. Somit müsste, solange eine EU-Armee nicht existiert, bei einem EU-Beitritt der Ukraine jeder EU-Mitgliedstaat die Ukraine mit ihren eigenen Streitkräften unterstützen. Die Situation erinnert an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges - auch im Jahr 1914 mussten viele Regierungen erstaunt feststellen, in welcher Weise kaum beachtete Verträge Verpflichtungen enthielten.
- Wie die EU-Verteidigungsallianz beschaffen sein soll, ist unklar. Grundsätzlich, aber sehr vage, besagt der schon zitierte Artikel 42, dass die Steuerung auf Ebene der EU-Kommission erfolgen würde, die einzelnen EU-Mitglieder ihre jeweiligen Streitkräfte ausbauen und bei Bedarf unter das Kommando einer gemeinsamen EU-Armee stellen müssten. Um ein solches System zu betreiben, bedarf es jedoch einer funktionierenden Struktur und der Integration aller Armeen der EU-Mitgliedstaaten. Derartige Voraussetzungen sind nicht einmal in der NATO gegeben, die aber immerhin eine dominante Nation, die den Takt vorgibt, ihr Eigen nennt: Die USA. Eine vergleichbare militärische Führungsmacht in der EU gibt es nicht. Am ehesten kommt hierfür Frankreich in Frage, das aber bisher nur die Verteidigung des eigenen Landes betreibt. Diese Politik will Macron für eine europäische Strategie aufgeben, trifft allerdings auf Widerstand im eigenen Land. Auch verfügt die Grande Nation bei weitem nicht über die die wirtschaftliche Kraft, um - nach dem Beispiel der USA in der NATO - die militärische und finanzielle Hauptlast zu tragen.
- Deutschland versteht sich im Hinblick auf seine Rolle im Zweiten Weltkrieg nicht als Militärmacht. Die beschlossene Aufstockung des Verteidigungsetats um 100 Milliarden Euro geschieht im Hinblick auf die aggressive Politik Russlands, soll also mehr oder weniger ausschließlich der Landesverteidigung dienen. Welche Rolle das mit Abstand wirtschaftlich stärkste EU-Land im Rahmen einer Verteidigungsallianz übernehmen sollte und würde, ist derzeit vollkommen unklar.
- In den anderen 25 EU-Staaten herrscht durchaus keine uneingeschränkte Begeisterung für eine europäische Armee. Einige Länder, allen voran Polen, wollen den direkten Schutz durch die USA. Andere, wie etwa Ungarn, bevorzugen einen eigenen, nationalen Weg.
Somit wird es auch nach dem EU-Gipfel in zwei Wochen noch lange keine einheitliche EU-Verteidigungspolitik geben. Folglich wird, wie schon bisher, der NATO die Verteidigung Europas zugewiesen. Dass man die NATO als Europas Sicherheitsgarant versteht, zeigt sich gerade bei dem Bestreben der bisher neutralen Staaten Schweden und Finnland, unter ihren Sicherheitsschirm zu kriechen, was de facto unter den Sicherheitsschirm der USA bedeutet. Zwar hat erst vor wenigen Tagen US-Präsident Biden den europäischen NATO-Partnern die volle Unterstützung durch Amerika zugesagt, doch befindet sich in Wahrheit die Nordatlantik-Allianz in einer existenziellen Krise. Der Grund:
Das Hauptaugenmerk der USA liegt auf dem Pazifik
Beim kommenden NATO-Gipfel wird ohne Zweifel viel über Russland und die Ukraine gesprochen werden. Allerdings wird auch der Umstand zur Sprache kommen, dass sich die Organisation seit Jahren auf einen möglichen Krieg mit Russland konzentriert und die zwei anderen großen Gefahren - nämlich das Weltmachtstreben Chinas und die Zunahme der Cyber-Attacken seitens feindlicher Staaten gegen NATO-Streitkräfte und andere staatliche Einrichtungen - sträflich vernachlässigt hat. Die NATO-Strategie muss jetzt neu formuliert werden.
Eine Bemerkung am Rande: Nicht besprochen wird bei der NATO-Tagung in zwei Wochen der Umstand, dass die Ukraine-Krise eine kapitale Blamage der Allianz ist. Seit 2004 wurde der Ukraine die Möglichkeit einer NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Das stand in Wahrheit jedoch nie ernsthaft zur Debatte, weil klar war, dass Russland eine Ausweitung bis an die russische Ostgrenze nicht akzeptieren würde, wie der Ukraine-Krieg nur allzu gut zeigt. Aber die NATO-Vertreter umarmten die jeweiligen ukrainischen Präsidenten bei jeder Gelegenheit so heftig, dass man in Moskau schon die US-Marines an der ukrainisch-russischen Grenze zu sehen glaubte. Der gar nicht lustige Treppenwitz: Erst provoziert die NATO einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, dann führt sie den Krieg als Beleg dafür an, dass ihre bisherige Politik gegenüber dem angeblich so aggressiven Russland richtig war.
Aber zurück zur Neuausrichtung der NATO-Strategie. Wie wichtig das Thema China, Taiwan und die Pazifik-Region für die USA ist, brachte US-Verteidigungsminister Austin in den vergangenen Tagen deutlich zum Ausdruck. Bevor er seine Reise nach Brüssel antrat, fuhr Austin demonstrativ nach Asien, um die vorrangige Bedeutung des indo-pazifischen Raums für die amerikanische Sicherheitspolitik zu unterstreichen.
- China profiliert sich nicht nur allgemein als aufstrebende Weltmacht, es hat ganz konkrete Ambitionen. Die kommunistische Volksrepublik will das unabhängige und demokratische Taiwan erobern, das unter dem Schutz der USA steht. Außerdem versucht die Volksrepublik, ihre Position im pazifischen Raum auszubauen und provoziert durch Grenzüberschreitungen mit Schiffen und Flugzeugen die US-amerikanischen Verbündeten. Bei manchen Reden des chinesischen Führers Xi hat man darüber hinaus den Eindruck, dass es um weit mehr geht als um die unmittelbare Nachbarschaft des Riesenreichs – sprich, als ob man sich in Peking vorstellen könnte, seinen Machtbereich noch viel weiter auszudehnen.
- Besonders eng verbunden mit den USA ist Thailand im Rahmen der „Joint U.S. Military Advisory Group – Thailand“. In Bangkok bezeichnete Austin die thailändischen Streitkräfte sogar als wichtigen Bestandteil der US-Sicherheitspolitik. Darüber hinaus sprach Austin mit Vertretern von Verbündeten und Partnern wie Singapur, Japan, Südkorea, Indonesien, Vietnam und Australien.
- Beim alljährlich in Singapur stattfindenden Shangri-La-Dialog, der wichtigsten Sicherheits-Konferenz der Region, hielt Austin eine Rede, in der er das sicherheitspolitische Engagement der USA in der Region und besonders die unveränderte Unterstützung für Taiwan betonte. Wörtlich sagte Austin: „Militärisch ist der Indopazifik das ´wichtigste Gebiet' für das Verteidigungsministerium mit mehr als 300.000 amerikanischen Militärangehörigen in der Region, die mit Verbündeten und Partnern zusammenarbeiten.”
- Am Rande der Shangri-La-Tagung sprach Austin auch mit Vertretern von China und machte klar, dass die USA unter keinen Umständen die Pazifik-Region dem Reich der Mitte überlassen werden.
Können und werden die USA tatsächlich gleichzeitig „gehen und Kaugummi kauen“?
Die NATO wird sich in diesem Sinne verstärkt der chinesischen Herausforderung zu widmen haben. Die entsprechenden Weichenstellungen wurden schon vorbereitet und sollen nun auf dem NATO-Treffen Ende Juni verankert werden. Austin pflegt zwar zu sagen, die USA „können gleichzeitig gehen und Kaugummi kauen“, also Europa und den Pazifik verteidigen, doch sollten in Europa dringend die Relationen beachtet werden: Auch die US-Streitkräften verfügen nicht über unbegrenzte personelle, militärische und wirtschaftliche Ressourcen. Und wenn der amerikanische Verteidigungsminister erklärt, der Pazifik sei für die USA das „wichtigste Gebiet“, so wird es ohne Frage Zeit, dass Europa eine eigene Verteidigung aufbaut. Umso mehr, wenn die NATO jetzt stärker China in den Fokus nimmt.
Macrons Bemühungen um eine EU-Verteidigungsarmee ist also sicher das Gebot der Stunde. Die Aussichten auf eine Realisierung sind aber so gering, dass man zur Kenntnis nehmen muss, dass Europa letztlich keine Verteidigung hat. Wie sieht also das Szenario für künftige (mögliche) militärische Auseinandersetzungen aus? Bei allen Konflikten, gleichgültig ob in Europa, im Pazifik oder anderswo auf der Welt, stets wird es einen Militäreinsatz der USA geben, bei dem andere Armeen als Verbündete mitwirken. Auch wenn Joe Biden und Lloyd Austin derzeit die Bereitschaft der USA, stets zur Verfügung zu stehen, bestätigen, so muss man in Europa zur Kenntnis nehmen, dass die fortgesetzte Begeisterung für die Rolle der USA als Weltpolizist jenseits des Großen Teichs nur beschränkt besteht, sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch innerhalb der sicherheitspolitischen Eliten. Dies hat Donald Trump am Beispiel Afghanistan sehr deutlich gemacht, und so sollte man sich nicht darauf verlassen, dass Onkel Sam immer für alle als rettender Helfer einspringt.