Im Gefolge des russischen Einmarsches in die Ukraine kamen im Westen rasch zwei Sichtweisen darüber auf, welche Lehre China aus dem Krieg ziehen würde. Die erste legte nahe, dass das Versagen der NATO, Russland abzuschrecken – oder die Ukraine direkt zu verteidigen –, China inspirieren würde, den Zeitplan für eine geplante Invasion Taiwans vorzuziehen oder gar das kriegsbedingte Chaos zu nutzen, um die Insel unmittelbar anzugreifen. Doch nachdem Russlands Militär frühzeitig auf erhebliche und unerwartete Herausforderungen stieß, kam eine alternative Analyse-Linie auf, die nahelegte, dass China nun erheblich davor abgeschreckt worden sei, je einen Versuch zur Einnahme Taiwans zu wagen.
Beide Ansichten sind oberflächlich, irreführend und schlicht falsch. Der chinesische Präsident Xi Jinping ist nicht der Typ Politiker, der sich durch irgendwas oder irgendwen von seinem angestrebten Kurs abbringen lässt – auch nicht vom russischen Präsidenten Wladimir Putin. Sicherlich werden Xi und die übrige chinesische Führung militärische und finanzpolitische Lehren aus Russlands Krieg in der Ukraine ziehen. Doch wird China seinen angestrebten Zeitplan aufgrund des Geschehens auf den Schlachtfeldern des Donbass´ weder beschleunigen noch verschieben.
Xi wird sich von der Rückholung Taiwans auch nicht durch irgendetwas abbringen lassen, was in Asien geschieht. Die Abspaltung Taiwans vom Mutterland symbolisierte immer schon die Ära chinesischer Schwäche angesichts des japanischen Imperialismus. Für die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ist die Existenz einer nicht der Kontrolle Pekings unterliegenden taiwanesischen Regierung eine offene, schwärende Wunde. Und so ist die Wiedervereinigung Taiwans mit dem Mutterland ein zentraler Aspekt von Xis Versprechen, die Revolution Mao Zedongs zu Ende zu führen. Sowohl für die politische Legitimität der KPCh als auch für Xis eigene Vergöttlichung und Aufnahme ins Pantheon der KPCh ist diese Wiedervereinigung unverzichtbar.
Im Laufe seiner Herrschaft hat Xi den eisernen Griff, in dem er den chinesischen Ein-Parteien-Staat hält, verfestigt. In jüngerer Zeit jedoch haben politische Fehltritte, insbesondere im Bereich der Wirtschaft – wo ein „Linksschwenk“ und zentralisierte Maßnahmen wie die „Null-COVID“-Lockdown-Strategie das Wirtschaftswachstum und damit auch das Vertrauen des privaten Sektors in die Politik untergraben haben –, sowie ein allzu ehrgeiziger Ansatz in auswärtigen Angelegenheiten ihm eine gewisse Kritik eingetragen. Trotzdem sind seine Position im Allgemeinen sowie seine Bestätigung im Amt im kommenden Herbst – mindesten für eine weitere Amtszeit, vielleicht sogar auf Lebenszeit – ungefährdet. Sollte er jedoch dabei scheitern, Taiwans formale Unabhängigkeit zu verhindern, wäre das ein Fehlschlag völlig anderer Größenordnung: Kein chinesischer Führer könnte eine derartige Demütigung politisch überleben.
Die wichtigste Doktrin
Für Xi steht die Wiedervereinigung allerdings außer Zweifel. Wie er in seiner Botschaft an seine taiwanesischen „Landsleute“ 2019 geäußert hat, ist Taiwans Rückkehr in die sanfte Umarmung des Festlands „eine notwendige Voraussetzung für die große Verjüngung der chinesischen Nation“. Darüber hinaus hat Xi einen klaren Zeitplan für diese „notwendige Voraussetzung“ vorgelegt: Sie soll vor dem 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 2049 umgesetzt sein – dem Datum, das Xi im Einklang mit seinem „chinesischen Traum“ für die Vollendung der „großen Verjüngung“ festgelegt hat. Doch da Xi die feste Absicht hat, noch zu seinen politischen Lebzeiten als spiritueller Nachfolger Maos in die chinesische Geschichte einzugehen, reicht das wahrscheinlichere Zeitfenster für die Wiedervereinigung bis 2035, bevor er – sein Erbe gesichert – sich in den bequemen Ruhestand begeben kann.
Russlands militärische und wirtschaftliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg werden auf Xis Ziel keinen Einfluss haben. Sie dürften ihn vielmehr in seinen Anstrengungen bestärken, dafür zu sorgen, dass das chinesische Militär vollständig auf die gewaltsame Einnahme Taiwans vorbereitet ist, sowie er den Befehl dafür gibt. Chinas militärische Modernisierung und seine Bemühungen, der Volksbefreiungsarmee mehr Disziplin zu vermitteln, begannen fast unmittelbar nach Xis Amtsantritt im Jahr 2013. In jenem Jahr leitete er eine Kampagne ein, um die Korruption innerhalb der Streitkräfte auszurotten. 2015 folgten weitreichende Reformen, um sicherzustellen, dass die Volksbefreiungsarmee moderne „Informations“-Kriege führen und dabei auch gewinnen kann.
Zu diesen Reformen gehörten Neuausrichtungen der Organisations- und Kommandostruktur der Volksbefreiungsarmee, Übungen zur Durchführung gemeinsamer Operationen, Verbesserungen im Bereich der Logistik, eine allgemeine Verbesserung der Fähigkeit, Macht zu projizieren sowie die Entwicklung und Einbindung einer Vielzahl fortschrittlicher Hyperschallflugkörper und anderer moderner Waffensysteme. Russlands Rückschläge in der Ukraine wird nichts am grundlegenden strategischen Ziel Chinas ändern, die Einnahme Taiwans militärisch möglich zu machen.
Maritime Träume
Die Führung der Volksbefreiungsarmee wird die Leistung ihrer russischen Kollegen daher mit Sicherheit genau beobachten, um Bereiche zu ermitteln, wo sie sich selbst verbessern kann. Anders als Russland kann sich China nicht auf direkte Kriegserfahrungen in jüngerer Zeit stützen. Ihren letzten größeren Krieg führte die Volksbefreiungsarmee vor nahezu einem halben Jahrhundert, als Deng Xiaoping einen Einmarsch in Vietnam befahl. Doch ging dieser kurze Grenzkrieg für China sehr übel aus (es ist dies eine unheimliche Parallele: Kurz vor Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine trafen sich Putin und Xi, genau wie vor Chinas Krieg gegen Vietnam Deng Xiaoping und Jimmy Carter. Chinas damaliger starker Mann sagte zu dem damaligen US-Präsidenten, Vietnam stehe kurz davor, „den Hintern versohlt“ zu bekommen ... ).
Was die Sache in Bezug auf Taiwan noch erschwert, ist, dass die Volksbefreiungsarmee - abgesehen von ein paar kleineren Zwischenfällen im Süd- und Ostchinesischen Meer - über keinerlei Seekriegserfahrung verfügt. Tatsächlich waren chinesische Schiffe letztmals während des ersten chinesisch-japanischen Krieges von 1894-95, der für China ebenfalls böse endete, an einem umfassenden Seekrieg beteiligt.
Die Rückschläge der russischen Streitkräfte in der Ukraine werden daher die Volksbefreiungsarmee darin bestärken, ihre traditionell an den Tag gelegte strategischer Vorsicht bezüglich einer Invasion Taiwans auch weiterhin zu wahren. Damit eine Invasion Erfolg hat, müsste die Volksbefreiungsarmee eine komplizierte amphibe Operation – etwas, womit sie keinerlei praktische Erfahrung hat – in einer Größenordnung durchführen, welche die D-Day-Landungen der Alliierten in der Normandie im Jahr 1944 übertrifft. Daher ist die Volksbefreiungsarmee schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass sie in der Lage sein muss, alle eventuellen amerikanischen, taiwanesischen und alliierten Truppen, die die Insel verteidigen könnten, durch den Einsatz überwältigender militärischer Macht aus dem Wege zu räumen. Dieses Problem wurde durch die zunehmend deutlichen Signale der USA und ihrer Verbündeten (insbesondere Japans), die deutlich machten, dass sie die Verteidigung Taiwans als für ihre Interessen unverzichtbar ansehen, verschärft. Chinas Militärführung ist sich daher der Lücke, die sie noch schließen muss, um das notwendige Maß an überlegener militärischer Macht zu erlangen, völlig bewusst.
Xi hatte den ursprünglichen Zeitplan seines Reform- und Modernisierungsprogramms bereits deutlich vor der russischen Invasion der Ukraine verkürzt. In Chinas jüngstem, Anfang 2021 verabschiedetem Fünfjahresplan wurde das Abschlussdatum von 2035 auf 2027 vorgezogen. Falls (aus Xis Perspektive) alles reibungslos verläuft, wird die Modernisierung nicht lange vor Beginn des faktischen Zeitfensters zur Wiedervereinigung mit Taiwan Anfang der 2030er Jahre abgeschlossen sein. So gesehen wird die russische Erfahrung in der Ukraine China nicht dazu bewegen, früher als Ende der 2020er Jahre zu handeln, aber sie wird Xis Entschlossenheit, seinen revidierten Zeitplan einzuhalten, mit Sicherheit festigen.
Volle Kraft voraus
Die letzte Lehre, die Chinas Regierung aus der russischen Erfahrung ziehen wird, ist, dass es unumgänglich ist, die chinesische Wirtschaft gegen jene Arten finanzieller und wirtschaftlicher Sanktionen abzusichern, die die USA und die Europäische Union derzeit nutzen, um Russland zu isolieren und zu schwächen.
Um demselben Schicksal zu entgehen, wird Xis Regierung ihre langjährigen Bemühungen zur Stärkung der internationalen Stellung des Renminbis ausweiten, Chinas Kapitalbilanz öffnen und den Anteil der chinesischen Währung an den weltweiten Devisenreserven erhöhen. Das wird es den USA und ihren Verbündeten schwerer machen, chinesische Vermögenswerte zu beschlagnahmen, als es die Einfrierung der Reserven der russischen Notenbank war.
Russlands Ukraine-Erfahrungen werden Xi darüber hinaus dazu motivieren, seine Bemühungen zu verstärken, China zu einer eigenständigen Volkswirtschaft zu machen, und zwar, indem es sich hinsichtlich bestimmter Lieferketten vom Westen abkoppelt, technologisch eigenständig wird und seine Lebensmittel- und Energieversorgung sichert. Doch dürfte der Krieg in der Ukraine - abgesehen davon, dass er China veranlasst, diese bereits bestehenden Strategien zu forcieren - die Sicht des Regimes kaum wesentlich ändern. China verfolgt unter Xi ohnehin schon eine Politik des Bemühens um wirtschaftliche Autarkie, finanzielle und technologische Resilienz sowie militärische Modernisierung, die darauf ausgerichtet ist, die strategische Überlegenheit der USA in Frage zu stellen und irgendwann zu beenden.
Für Xi, einen marxistisch-leninistischen Dialektiker, werden die Ereignisse in der Ukraine den großen „Trend der Zeit“, den er als „Aufstieg des Ostens und Abstieg des Westens“ definiert hat, nicht grundlegend ändern. Xi hält sich für einen „großen Mann“, der imstande ist, den Fluss der Geschichte zu kanalisieren und Chinas Schicksal – unter anderem durch die Wiedervereinigung Taiwans mit dem Festland – zu erfüllen.
Xi und die Volksbefreiungsarmee werden Russlands militärische Schwierigkeiten in der Ukraine mit ausgeprägtem Interesse beobachten, aber in Übereinstimmung mit einem strategischen Ansatz, der in Hinblick auf das Eingehen militärischer Risiken als konservativ zu bezeichnen ist. Anders als Putin hat China Sunzis zeitlose Warnung bereits verinnerlicht, die da lautet: „Der Krieg ist für jeden Staat ein Ereignis von großer Bedeutung. Er ist der Ort, der über Leben und Tod entscheidet, er ist der Weg, der das Überleben sichert oder in den Untergang führt. Unumgänglich ist es, ihn eingehend zu untersuchen“ (Sunzis Werk „Die Kunst des Krieges“ ist das chinesische Pendant zu Clausewitz´ „Vom Kriege“ – Anm. d. Red.).
Die Chinesen werden das Geschehen in der Ukraine daher mit dem Ziel verfolgen, zu lernen, wie sie Putins Fehler vermeiden können. Dabei verfügen sie über großes Selbstvertrauen und glauben, dass China es besser machen kann und wird. Natürlich besteht die Gefahr für Xi, dass sich dieses Selbstvertrauen letztlich als genauso realitätsfern erweisen könnte, wie Putins Überzeugung, dass er die Ukraine innerhalb von wenigen Tagen erobern würde.
Amerika und Taiwan stehen derweil vor der Herausforderung, ein wirksames Abschreckungspotential aufzubauen. Ihr Ziel muss es sein, dass - wenn der Augenblick der Entscheidung in Xis angestrebtem Zeitplan gekommen ist – die Volksbefreiungsarmee keine andere Wahl hat, als ihrem Oberbefehlshaber zu sagen, dass die militärischen Risiken für eine Invasion noch immer zu hoch seien. In Washington und in den Hauptstädten der US-Verbündeten überall in Asien, muss das Ziel im Laufe des kommenden gefährlichen Jahrzehnts darin bestehen, diese Risiken derart hochzuschrauben, dass Xi auch weiterhin zweimal überlegen wird.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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