Weltwirtschaft

Insider: Die Weltwirtschaft steuert auf eine Öl-Knappheit zu

Lesezeit: 5 min
08.07.2022 15:00  Aktualisiert: 08.07.2022 15:22
Branchen-Insider warnen, dass die Versorgung mit Rohöl bald spürbar beeinträchtigt sein könnte.
Insider: Die Weltwirtschaft steuert auf eine Öl-Knappheit zu
Schlepper bringen einen Öltanker an ein Terminal eines Hafens in Ostchina. (Foto: dpa)

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Die Welt steuert nach Ansicht zahlreicher Analysten und Funktionäre aus der Energiewirtschaft auf ein signifikantes Defizit in der Versorgung mit Rohöl zu. Dieses Defizit beginne sich bereits auf den Märkten zu materialisieren - ein Anstieg der weltweiten Nachfrage über den um das Jahr 2018 erreichten historischen Höchstwert hinaus könne künftig kaum mehr befriedigen werden, so der Tenor der Warnungen.

Warnungen aus der Wüste

„Ich bin zwar ein Dinosaurier, aber solche Dinge habe ich noch nie gesehen“, sagte der Energieminister Saudi-Arabiens, Prinz Abdulasis bin Salman, am 10. Mai auf einer von der Nachrichtenagentur Bloomberg veranstalteten Konferenz und bezog sich damit auf die stark steigenden Preise für Benzin und Diesel-Kraftstoff in den USA, die damals auf neue Allzeithochs gestiegen waren. „Die Welt muss aufwachen und eine existierende Realität wahrnehmen. Die Welt verliert immer mehr Energie-Kapazitäten auf allen Ebenen.“

Suhail al Masrouei, der Energieminister der Vereinigten Arabischen Emirate, äußerte sich ähnlich. Ohne zusätzliche - weltweit abgestützte - Investitionen würden die ölfördernden Staaten schon bald nicht mehr in der Lage sein, ihren Kunden ausreichende Lieferungen zu garantieren - vor allem nicht, wenn sich die Weltwirtschaft vollständig von den Auswirkungen der Pandemie erhole. „Wir haben in der Vergangenheit vor einem Investitionsdefizit gewarnt und dieses Investitionsdefizit holt nun viele Länder ein“, sagte al Masrouei auf der Konferenz.

Repräsentanten aus dem Ölsektor Saudi-Arabiens und der Emirate hatten in der Vergangenheit bereits mehrfach öffentlich auf drohende Versorgungsengpässe hingewiesen, sollte die Nachfrage nach Rohöl und dessen Derivaten wieder merklich steigen.

Kurz vor seinem Tod warnte auch der Generalsekretär des Ölkartells Opec, Mohammed Barkindo, mit deutlichen Worten vor ernsten Verwerfungen im Energiesektor. Nach Jahren zu geringer Investitionen sähen sich die Öl- und Gasindustrie nun mit „riesigen Herausforderungen an mehreren Fronten“ konfrontiert, sagte Barkindo Anfang der Woche auf einem Kongress in Lagos. Die Öl- und Gasindutrie befinde sich weltweit „unter Belagerung“, sagte der Generalsekretär mit Verweis auf die Zuspitzung geopolitischer Spannungen - namentlich in Form des Kriegs in der Ukraine - und die von vielen Ländern eingeleitete Abkehr von fossilen Energieträgern.

Barkindo plädierte dafür, bestehende Sanktionen der USA gegen den Iran und Venezuela aufzuheben, damit diese Länder mehr Erdöl exportieren und somit dazu beitragen könnten, die Versorgungsknappheit abzufedern. Er erwartete, dass die weltweite Nachfrage nach Rohöl trotz der laufenden Dekarbonisierungskampagnen bis zur Mitte des Jahrhunderts weiter steigen werde. Zugleich sei alleine im vergangenen Jahr die Raffinierungskapazität in den Opec-Mitgliedsländern um 3,3 Prozent gefallen.

Fatih Birol, der Direktor der Internationalen Energieagentur (IEA), warnte Ende Mai in einem Interview mit dem Spiegel, dass die Welt vor einer „viel größeren“ Energiekrise stehe als die Ölkrisen der 1970er Jahre. „Damals ging es nur ums Öl, nun sind wir mit einer Ölkrise, einer Gas-Krise und einer Elektrizitätskrise gleichzeitig konfrontiert.“ Birol rechnet mit einem Sommer, der von Knappheiten bei Benzin, Dieselkraftstoff und Kerosin geprägt sein könnte - insbesondere in Europa.

Dahinter stünde eine deutliche Abnahme der weltweiten Kapazitäten von Raffinerien, besonders in den USA. Viele Betriebe hätten im Zuge der Pandemie den Betrieb eingestellt oder würden sich künftig auf die Herstellung von Biosprit konzentrieren. Dadurch sei die globale Gesamtkapazität im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie um mehrere Millionen Barrel am Tag gesunken, so Birol.

Zu wenig Investitionen

Bereits jetzt hapert es: Eine von S&P Global Commodity Insights beauftragte Umfrage unter 23 Förderländern ergab kürzlich, dass der tägliche Output im April mehr als 2,5 Millionen Barrel geringer ausfiel, als eigentlich von den im Format Opec+ (Opec-Staaten und andere Ölländer) versammelten Regierungen abgesprochen wurde. Der Nachrichtenagentur Reuters zufolge konnte die anvisierte Fördermenge auch schon im März nicht erfüllt werden - hier belief sich das Defizit auf täglich fast 1,5 Millionen Barrel. Bei einem Barrel handelt es sich um ein Faß mit 159 Litern Fassungsvermögen.

Dieses Defizit weitete sich im Mai noch aus, und zwar auf fast 2,7 Millionen Barrel am Tag, wie der Branchendienst Oilprice.com berichtete. Gründe seien die vom Westen gegen Russlands Energiebranche verhängten Sektoren und „Beschränkungen“ der Förderkapazität in einigen wichtigen Rohstoffländern.

Beobachter verweisen darauf, dass das drohende Öl-Defizit Folge einer jahrelangen Vernachlässigung von Investitionen sei. Demnach wurde insbesondere seit dem starken Preiseinbruch im Jahr 2015 zu wenig Kapital und Engagement in die Suche und Entwicklung neuer Ölfelder investiert, was sich nun in Gestalt schrumpfender Fördervolumina bemerkbar mache.

Die von vielen Regierungen betriebene Umstellung der Energieversorgung weg von fossilen Energieträgern hin zu alternativen Quellen verschärft die Lage zusätzlich. Insbesondere westliche Konzerne geraten infolge der Beschlüsse der „Klimagipfel“ unter immer stärkeren Druck von Aktionärsvereinigungen, den Medien und der Öffentlichkeit, das Engagement in fossilen Technologien zurückzufahren oder sich sogar komplett aus fossilen Energiemärkten zurückzuziehen.

„In den vergangenen Jahren kam es in der Branche zu einem massiven Investitionsdefizit, das durch ESG-Vorgaben noch verkompliziert wurde“, zitierte Reuters Anfang Mai Barkindo. Mit dem Kürzel „ESG“ verweist Barkindo auf eben jene Vorgaben der „Economic, Social and Governance“, die von vielen westlichen Unternehmen inzwischen rechtlich bindend befolgt werden müssen. „Es kam in den Jahren 2015 und 2016 zu einem nie dagewesenen Einbruch von 25 Prozent. Und vor dem Jahr 2020 gab es auch keine signifikante Erholung, als die Investitionen um 30 Prozent einbrachen“, sagte Barkindo.

Daten der IEA untermauern Bakindos Einschätzungen. Demnach erreichten die Investitionen im Öl- und Gassektor im Jahr 2014 mit über 750 Milliarden US-Dollar einen Höhepunkt, um dann bis 2016 auf ein Niveau von ungefähr 400 Milliarden einzubrechen. 2019 lag das Volumen schließlich noch unter 500 Milliarden, nur um dann im Zuge der Pandemie auf rund 350 Milliarden zu sinken.

Als Analysten die Auswirkungen der von den Regierungen erlassenen Pandemie-Maßnahmen auf die Volkswirtschaften in etwa abschätzen konnten, sackten die Marktpreise für Rohöl Anfang 2020 sogar in den negativen Bereich - Kunden wurden also dafür bezahlt, dass sie Öl geschenkt bekamen. Dieses traumatische Ereignis übt Beobachtern zufolge auf viele Manager einen bis heute anhaltenden Einfluss aus, mit der Folge, dass Öl-Konzerne ihren Fokus seitdem verstärkt auf die Maximierung des Cashflows, die Ausschüttung von Dividenden an die Eigentümer und den Rückkauf eigener Aktien gelegt haben, anstatt in das künftige Geschäft zu investieren, berichtet das Portal Market Watch.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die darauf folgenden Sanktionen des Westens im Energiebereich sorgten dann für den nächsten Tiefschlag.

Auch Bemühungen der amerikanischen Regierung, das Angebot auszuweiten, sehen Beobachter skeptisch. Präsident Biden plant, Saudi-Arabien zu besuchen und dort für eine höhere Förderung zu plädieren. Selbst wenn Biden Erfolg beschienen sei, dürfte sich am strukturellen Defizit nichts ändern, allenfalls werde es „Preisaufschläge und Knappheiten im Sommer verhindern“, so ein Analyst der Investmentbank Goldman Sachs im Gespräch mit dem Sender CNBC.

Mit Blick auf die gegen Russland verhängten Sanktionen erwarten Investmentbanken inzwischen weiter steigende Rohölpreise. Jamie Dimon, Vorstandsvorsitzender der Großbank JP Morgan rechnet zum Jahresende mit Bewertungen um 175 Dollar, die Konkurrenten von Goldman Sachs mit einem „durchschnittlichen“ Preis von 140 im dritten Quartal.

Zwar sind Prognosen stets mit großer Vorsicht zu genießen. Aber angesichts der sich aufladenden Spannungen und folgenschweren Probleme - geopolitische Konfrontationen, Kriege, eine hohe Inflation, Brüche in den Lieferketten, zunehmende Abkopplungstendenzen unterschiedlicher Märkte und Wirtschaftsräume voneinander, die Auswirkungen der Energiewende, Sanktionen, eine weiterhin wachsende Weltbevölkerung und eben nicht zuletzt auch dem strukturellen Defizit - könnte das Öl knapp werden.

„Aber während man ansonsten Preis-Voraussagen mit einer gesunden Dosis Skpesis würzen sollte, so muss man dieses Mal nur an der Oberfläche des Ölmarktes kratzen, um zu sehen, dass die Rufe nach einem Bullenmarkt wohlbegründet sind. Die Energiekrise, begonnen durch den Rückgang russischer Gaszufuhren nach Europa vor dem Krieg und auf den gesamten Rohstoffkomplex übergreifend nach Beginn des Krieges, ist noch lange nicht vorüber. Sie wird wahrscheinlich noch schlimmer, bevor sich die Lage bessert, und schwerwiegende Auswirkungen für eine Weltwirtschaft nach sich ziehen, die ohnehin bereits von der Inflation durcheinandergebracht wird. Das Schlüsselproblem ist ganz einfach: es ist einfach nicht genug Öl vorhanden. Und indem die Fördermenge Russlands zunehmend von den Käufern abgeschirmt wird, sind Sorgen berechtigt, dass das Angebot noch viel stärker sinken wird“, schreibt der Rohstoff-Analyst David Sheppard in der Financial Times.


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