Der Druck auf Draghi wächst: In der derzeit heiklen politischen Situation scheinen zumindest Italiens Bürgermeister den Ernst der Lage erkannt zu haben. Sie richten einen verzweifelten Appell an den regierenden Ministerpräsidenten Mario Draghi bis zum natürlichen Auslaufen seines Mandats im Frühjahr 2023 im Amt zu bleiben. Und auch 53 Prozent der Italiener seien laut einer Umfrage für einen Verbleib Draghis und seiner Regierung.
Für Italien und die einzelnen Bürgermeister im Lande steht viel auf dem Spiel. Sie fürchten insbesondere um die Gelder aus dem EU-Recovery-Fund, mit dem zahlreiche neue, moderne Infrastrukturen finanziert und marode Einrichtungen saniert werden sollen.
Die nächsten Tranchen der insgesamt über 200 Milliarden Euro von Europa für Italien sollen von Brüssel nur freigegeben werden, wenn Italien von Draghis Reformpfad nicht abweicht. Allerdings hat die verweigerte Vertrauensabstimmung der mitregierenden Fünf-Sterne-Bewegung im Senat erstmal eine Regierungskrise ausgelöst.
Dabei ging es um das Gesetzesdekret der Regierung „Aiuti“, das am 16.Juli vom italienischen Parlament in ein ordentliches Gesetz umgewandelt wurde, allerdings ohne die Beteiligung der mitregierenden 5-Sterne-Bewergung.
Das neue Gesetz
Das neue Gesetz sieht im Großen und Ganzen staatliche Beihilfen aufgrund der steigenden Preise und der Energiekrise vor. Bereits am 6. Juli hat der Ex-Premier und Leader der Fünf-Sterne-Bewegung, Giuseppe Conte, ein Dokument mit neun Punkten an Draghi weitergereicht, die er im Gesetzesdekret beanstandete. Dabei ging es unter anderem um Themen wie das bedingungslose Grundeinkommen, den Mindestlohn, um Familienhilfen, der Rückforderung von Steuergeldern sowie um den Ausstieg aus fossiler Energie und der verstärkten Nutzung erneuerbarer Energiequellen.
Die Initiative des offenen Briefes ging von Stefano De Russo, Bürgermeister von Turin, und seinem Florentiner Amtskollegen Dario Nardella aus. Zu den weiteren Koordinatoren der Initiative zählen die Bürgermeister von Venedig, Mailand, Genua, Bari, Bergamo, Pesaro, Asti und Ravenna.
„Wir die Bürgermeister“, so heißt es in dem Schreiben, „die jeden Tag zur Bewältigung und Lösung der Probleme aufgerufen sind, die unsere Bürger plagen, bitten Mario Draghi weiterzumachen und dem Parlament die Gründe zu erläutern, die es notwendig machen, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Wir brauchen jetzt mehr denn je Stabilität.“
Aber nicht nur die Bürgermeister Italiens zeigen sich in dieser für Italien zum wiederholten Male chaotischen Lage solidarisch mit Draghi, sondern auch Ex Premier Matteo Renzi, der mit seiner 2019 gegründeten Partei Italia Viva selbst in der Regierung vertreten ist. Er hat im Internet eine Petition für den Verbleib Draghis lanciert, die in wenigen Stunden von über 70.0000 Bürgern unterzeichnet wurde.
Matteo Salvini und Silvio Berlusconi bringen sich in Stellung
Er kritisiert in seiner Petition, dass die Fünf-Sterne-Bewegung auf eine unverantwortliche und absurde Weise eine Situation geschaffen habe, die in dieser heiklen internationalen wie auch nationalen Lage im Gegensatz zu den Interessen der italienischen Bevölkerung stehe.
Hingegen hat sich der Chef der rechtspopulistischen Lega, Matteo Salvini, bereits mit dem Leader von Forza Italia, Silvio Berlusconi, in dessen Villa Certosa auf Sardinien getroffen, um sich auf Neuwahlen im Herbst zu verständigen. Zumindest seien beide nicht abgeneigt, wie italienische Medien berichten.
Heute Nachmittag kommen erstmal die Abgeordneten der Fünf-Sterne-Bewegung zusammen, um ein weiteres Vorgehen in der Krise zu besprechen. Dabei gibt es auch innerhalb der Bewegung verschiedene Standpunkte. Während die sogenannten orthodoxen Verfechter, die Linie ihres Leaders Giuseppe Conte mittragen, gibt es einen gemäßigteren Flügel, der in Hinblick auf die für kommenden Mittwoch im Senat anberaumte Intervention von Draghi erstmal einen sogenannten „Waffenstillstand“, fordert. Allerdings handelt es ich dabei um eine kleine Minderheit.
Außenminister Luigi Di Maio erhebt schwere Vorwürfe geben Giuseppe Conte
Harsche Kritik an Conte übt derweil Außenminister Luigi Di Maio, der erst Ende Juni aus der Fünf-Sterne-Bewegung aufgrund von Unstimmigkeiten mit Contes Linie ausgetreten war. Er bezichtigt Conte jetzt, einen persönlichen Rachefeldzug gegen Draghi zu führen, „weil er sich selbst nicht als Ministerpräsident halten konnte.“ Und stürze das Land damit in eine Krise, die die Gefahr sozialer Unruhen und das Aufkommen einer extremen Rechten in sich berge.
Aus dem Sitz des italienischen Ministerpräsidenten, dem Palazzo Chigi in Rom, wartet man derweil noch vergeblich auf eine Stellungnahme Draghis. Als hätte sich nach seiner Ankündigung als Ministerpräsident zurücktreten zu wollen, nichts verändert, und als beobachtete er die öffentliche Debatte um seine Person erstmal von außen. Derzeit allerdings aus der Ferne. Denn, wie italienische Medien berichten, sei er heute in seinem unverkennbaren Pragmatismus nach Algerien geflogen, um dort eine Reihe wichtiger Vereinbarungen zu unterzeichnen.