Deutschland

„Rezession rauscht an“: Wirtschaft im Euroraum geht auf Talfahrt

Angesichts hoher Inflation, einer drohenden Energiekrise und der Zinswende stehen die Zeichen im Euroraum auf Abschwung - und zwar schneller als gedacht. Verbraucher und Unternehmen sind gleichermaßen bedroht.
22.07.2022 11:58
Lesezeit: 2 min
„Rezession rauscht an“: Wirtschaft im Euroraum geht auf Talfahrt
Die Wirtschaft erlebt einen Abschwung, auch das Exportgeschäft lahmt. (Foto: dpa) Foto: Christian Charisius

Der Einkaufsmanagerindex für die Privatwirtschaft – Industrie und Dienstleister zusammen – gab im Juli um 2,6 Punkte auf 49,4 Zähler nach. Er sackte damit erstmals seit Februar 2021 unter die Wachstumsschwelle von 50 Stellen, wie S&P Global am Freitag zu seiner monatlichen Umfrage unter Tausenden Firmen mitteilte. Die Wirtschaft im Euroraum könnte im dritten Quartal um 0,1 Prozent schrumpfen, wie Chefvolkswirt Chris Williamson von S&P Global Markt Intelligence prophezeit.

„Auch wenn der Rückgang derzeit noch bescheiden ausfällt, deuten die stark rückläufigen Neuaufträge, sinkende Auftragsbestände und die sich eintrübenden Geschäftsaussichten darauf hin, dass sich der Abwärtstrend im Laufe des Sommers weiter beschleunigen wird“, so der Ökonom. Am stärksten abwärts ging es im Juli in Deutschland, wo der Frühindikator für die Privatwirtschaft mit 48,0 Punkten auf den tiefsten Wert seit Juni 2020 absackte. „Nach einem Aufwärtsschub, ausgelöst durch die Lockerungen der Corona-Restriktionen, hat der Gegenwind gleich aus mehreren Richtungen dafür gesorgt, dass die deutsche Wirtschaft im Juli erstmals in diesem Jahr wieder Wachstumseinbußen zu verzeichnen hatte“, sagte S&P Global-Ökonom Paul Smith.

Ausschlaggebend hierfür seien die rückläufige Binnen- und Exportnachfrage infolge des unsicheren wirtschaftlichen Umfelds, der Lieferengpässe und der Kaufzurückhaltung der Kunden. Abwärts ging es sowohl mit der Industrieproduktion als auch mit der Geschäftstätigkeit im Servicesektor, wobei die Industrieproduktion sogar so stark zurückgefahren wurde wie seit Mai 2020 nicht mehr.

Langsamere Straffung der Geldpolitik?

Die enttäuschend ausgefallenen Einkaufsmanager-Daten aus der Euro-Zone werten manche Experten als ernstes konjunkturelles Warnzeichen: „Die Rezession rauscht an. Was zu viel ist, ist zu viel“, sagte Chefökonom Thomas Gitzel von der Liechtensteiner VP Bank. Hohe Inflationsraten, nicht funktionierende Lieferketten, der Krieg in der Ukraine und nun auch noch eine drohende Gaskrise belasteten Verbraucher und Unternehmen gleichermaßen. Das konjunkturelle Umfeld trübe sich offenbar schneller und stärker ein als bis dato angenommen, meint Jörg Angelé, Senior Economist bei der Schweizer Bantleon Bank.

Auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde ist mit Blick auf die Konjunktur eher skeptisch. Die Wirtschaftsaktivität schwäche sich ab, sagte sie nach der Zinswende der Europäischen Zentralbank. Der Ausblick auf das zweite Halbjahr und darüber hinaus sei eingetrübt. Die EZB hat gestern die erste Zinserhöhung seit elf Jahren beschlossen und will bald eine weitere Erhöhung folgen lassen.

Dass Energiepreise und die anhaltenden Lieferkettenprobleme tiefe Bremsspuren in der Wirtschaft hinterlassen, dürfte laut Commerzbank-Ökonom Christoph Weil die Position der Befürworter eines vorsichtigen Vorgehens in der Führungsetage der EZB stärken: „Die heutigen Daten spielen all jenen im EZB-Rat in die Hände, die für eine langsamere Straffung der Geldpolitik plädieren.“

Die Märkte treiben bereits verstärkt Rezessionssorgen um, nun auch befeuert durch die enttäuschend ausgefallenen Einkaufsmanagerzahlen. Finanzprofis verweisen darauf, dass eine Energiekrise noch nicht abgewendet sei, auch wenn russisches Gas weiter nach Europa fließe.

Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

DWN
Politik
Politik NATO ohne Substanz: Europa fehlen Waffen für den Ernstfall
01.07.2025

Europa will mehr für die Verteidigung tun, doch der Mangel an Waffen, Munition und Strategie bleibt eklatant. Experten warnen vor fatalen...

DWN
Finanzen
Finanzen Trumps Krypto-Coup: Milliarden für die Familienkasse
30.06.2025

Donald Trump lässt seine Kritiker verstummen – mit einer beispiellosen Krypto-Strategie. Während er Präsident ist, verdient seine...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Streit um Stromsteuer belastet Regierungskoalition
30.06.2025

In der Bundesregierung eskaliert der Streit um die Stromsteuer. Während Entlastungen versprochen waren, drohen sie nun auszubleiben –...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft PwC: Künstliche Intelligenz schafft Jobs nur für die, die vorbereitet sind
30.06.2025

Künstliche Intelligenz verdrängt keine Jobs – sie schafft neue, besser bezahlte Tätigkeiten. Doch Unternehmen müssen jetzt handeln,...

DWN
Unternehmen
Unternehmen United Internet-Aktie unter Druck: 1&1 reduziert Prognose
30.06.2025

1&1 senkt überraschend seine Gewinnprognose trotz zuletzt guter Börsenstimmung. Der Grund: deutlich höhere Kosten beim nationalen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Inflation in Deutschland sinkt im Juni auf 2,0 Prozent: Energiepreise entlasten
30.06.2025

Die Inflation in Deutschland hat im Juni einen überraschenden Tiefstand erreicht – doch nicht alle Preise sinken. Was bedeutet das für...

DWN
Politik
Politik Trumps Schritte im Nahen Osten: Nur der Anfang eines riskanten Spiels
30.06.2025

Donald Trump bombardiert den Iran, erklärt die Waffenruhe – und feiert sich selbst als Friedensbringer. Experten warnen: Das ist erst...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Raucherpause im Job: Ausstempeln erforderlich?
30.06.2025

Raucherpause im Job – ein kurzer Zug an der Zigarette, doch was sagt das Arbeitsrecht? Zwischen Ausstempeln, Betriebsvereinbarung und...