Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Saurugg, selbst der bayerische Ministerpräsident Markus Söder warnt inzwischen vor einem Blackout im Winter. Wie ernst ist die Lage?
Herbert Saurugg: Die Lage spitzt sich leider gerade dramatisch zu.
Warum?
Aus mehreren Gründen: Einerseits verschärft sich die Gaslage und es wird bereits weithin mit einer Gasmangellage gerechnet. Gaskraftwerke sind für die Netzstabilität sehr wichtig, da sie rasch kurzfristige Schwankungen bei der Wind- und Photovoltaik-Stromproduktion ausgleichen können, was immer häufiger notwendig ist. Aktuell ist auch noch Frankreich, statt Stromexporteur, Stromimporteur, weil dort gerade fast die Hälfte der rund 60 Atomkraftwerke aus Sicherheits- und Wartungsgründen außer Betrieb sind.
Und andererseits?
Viele Kraftwerke arbeiten aufgrund der Hitzewelle nicht mehr auf voller Leistung. Etwa fällt in Südeuropa derzeit die Hälfte des Stroms aus Wasserkraft weg, weil die Pegelstände zu gering sind. In der Schweiz und Frankreich produzieren Atomkraftwerke weniger Strom, weil Kühlwasser fehlt.
Wie beurteilen Sie die Lage beim Gas?
Es droht in absehbarer Zeit eine Gasmangellage, also Rationierungen für Großverbraucher. Das hätte verheerende Auswirkungen auf die Wirtschaft: Die Komplexität von Produktionsketten ist nicht mit der Einfachheit von Verwaltungsprozessen zu erfassen oder zu steuern. Niemand weiß wirklich, welche Folgewirkungen eine Gasrationierung an einer Stelle anderswo in der Wirtschaft hätte.
Aber liegen die Gasspeicherstände inzwischen nicht auf dem durchschnittlichen Niveau der Vorjahre?
Der Durchschnittswert der Speicherstände sagt wenig darüber aus, wie sicher die Gasversorgung ist. Wichtig ist, wo der volle Speicher steht und wo der Verbraucher ist – und ob ich das Gas in ausreichender Menge vom Speicher zum Verbraucher bringen kann. Die Lage ist vor allem in Süddeutschland kritisch. Der große Speicher im österreichischen Haidach, der bislang von Gazprom betrieben wurde, ist fast leer. Gleichzeitig ist der Gasverbrauch im bayrischen Chemie-Dreieck im Südosten besonders hoch.
Das heißt, Privatverbraucher und Unternehmen in Süddeutschland sind besonders gefährdet?
Nicht nur das. Die chemische Industrie produziert viele Vorläuferstoffe für die Bereiche Pharmazie, die Lebensmittelproduktion, Verpackungsmaterialen und so weiter. Die Chance ist groß, dass sich eine Störung in der Logistik in weitere Bereiche der Wirtschaft fortpflanzt und zum Kollaps ganzer Versorgungsketten führt.
Könnte die Gasmangellage zu einem Blackout führen, also einem Strom- und Infrastrukturkollaps über Ländergrenzen hinweg?
Wenn das Gas nicht mehr reicht, ist absehbar, dass auch der Strom knapp wird. Der Staat müsste dann den Strom rationieren. Damit wird das Gesamtsystem der kritischen Infrastrukturen immer instabiler. Das könnte, muss aber nicht zwangsläufig in einen Blackout münden.
Würde das Gas im Winter reichen, wenn Russland über Nord Stream 1 weiter 40 Prozent der Maximalkapazität liefert und die Gasmengen nicht mehr kürzt?
Das ist nicht vorhersagbar, weil sehr viele Faktoren hineinspielen. Wenn es ein milder Winter wird wie der letzte, könnten wir womöglich relativ glimpflich davonkommen. Aber nicht bei einem strengen Winter wie im Jahr 2012. Es gibt einfach sehr viele Unsicherheiten in der Stromversorgung. Wir sollten uns auch nicht auf die richtige oder gewünschte Prognose fixieren, sondern uns auf den schlimmsten Fall vorbereiten und hoffen, dass es doch besser kommt. Aber wenn wir nur die Hoffnung haben, dann könnten wir ziemlich schlimm überrascht werden.
Wie hoch schätzen Sie das Risiko, dass die Situation etwa über einen Blackout oder eine Gasmangellage aus dem Ruder läuft?
Auch das lässt sich unmöglich beziffern. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen: derzeit im sehr hohen Prozentbereich.
Manager aus der Energiebranche haben einen Blackout als unwahrscheinlich erklärt – etwa der Chef des größten Energieversorgers Eon im vergangenen Herbst. Die Entscheider scheinen überzeugt zu sein, im Zweifel über absichtliche Abschaltungen von ganzen Regionen die Stromversorgung retten zu können. Warum liegt der Eon-Chef aus Ihrer Sicht falsch?
Eine kontrollierte Abschaltung – auch Brownout genannt – mag im Einzelfall das System retten. Aber wir können einen Blackout nicht sicher ausschließen. Auch der Atomunfall in Tschernobyl galt als absolut undenkbar, bis es tatsächlich zur Katastrophe kam. Die Psychologie nennt das Truthahn-Illusion – also der Glaube, es werde schon nicht schiefgehen, weil bislang alles gut gegangen ist. Zudem weiß man nicht, was die Folgewirkungen von Flächenabschaltungen wären. Etwa kam die Schweizer Sicherheitsverbundübung 2014 zum Ergebnis, dass eine längere Stromrationierung schlimmer wäre als ein Blackout. Grund sei unter anderem der Ausfall von Kommunikations- und Informationssystemen, die wichtige Systeme wie Transport, Lagerhaltung oder Telefonie steuerten. Länder wie Südafrika sind an periodische Abschaltungen gewöhnt, aber bei uns wären die Schäden im ersten Moment immens.
Warum?
Weil viele Anlagen oder Infrastrukturen gar nicht rasch genug heruntergefahren werden können, selbst wenn die Stromabschaltung angekündigt wird. Außerdem würden unvorhergesehene Dinge passieren etc. Viele unterschätzen diese Vernetztheit und Komplexität kritischer Infrastrukturen.
Was können wir derzeit noch tun, um möglichst glimpflich aus dieser Energiekrise zu kommen?
Mehr als sinnvoll wäre es, jetzt die letzten drei Atomkraftwerke nicht bis Jahresende abzuschalten. Nach meiner Kenntnis ist ein Streckbetrieb mit den vorhandenen Brennstäben noch mehrere Monate über 2022 hinaus möglich. Jedes Megawatt an Leistung hilft, einen großflächigen Stromausfall zu verhindern. Wir haben einfach keinen Spielraum mehr. Im Grunde ist es fahrlässig, eine Laufzeitenverlängerung nicht zu erwägen – angesichts der brisanten Lage in ganz Europa.
Was halten Sie von der Reaktivierung der Kohlekraftwerke?
Grundsätzlich richtig, aber auch hier tun sich enorme Probleme auf. Zum einen sind viele Kohlekraftwerke bereits sehr alt oder es wurde aufgrund der absehbaren Abschaltung nur mehr das notwendigste investiert, was die Störanfälligkeit erhöht. Zum anderen stammt ein großer Teil der deutschen Steinkohle aus Russland. Hierbei handelt es sich um eine spezielle Kohletype, die bloß noch in Australien und Südamerika vorkommt. Zusätzliche Mengen zu beschaffen, ist also nicht so einfach möglich. Außerdem sind die Flusspegelstände gerade so gering, dass Schiffe die Kohle nicht in ausreichender Menge zu den Kraftwerken transportieren können. Auch die Deutsche Bahn hat Transporte bereits storniert.
Würde Fracking etwas bringen oder würde es zu lange dauern, entsprechende Förderanlagen zu bauen?
Das ist das generelle Problem: Alle Lösungen sind kurzfristig nicht umsetzbar. Es gäbe ein österreichisches Patent für ein Fracking-Verfahren, bei dem es keine so großen Umweltschäden wie in den USA oder Kanada gäbe. Auch der Ausbau der Erneuerbaren und der dazugehörigen Speichertechnologien bräuchte viel Zeit. Wir benötigen in den kommenden Wochen bis Monaten zusätzliche Kapazitäten, nicht erst in Jahren.
Warum schätzt Robert Habeck das Blackout-Risiko geringer ein als Sie? Unterschätzen seine Berater die Blackout-Gefahr oder ist er nicht vollkommen ehrlich gegenüber der Bevölkerung?
Hier sind Berater am Werken, die technisch wenig Ahnung haben und sich auf Excel-Berechnungen stützen, aber nicht die Physik und tatsächlichen technischen Möglichkeiten berücksichtigen. Das ist hochgradig gefährlich. Habeck ist in einer schwierigen Situation – einerseits gegenüber der eigenen Basis, andererseits hat er nicht die besten Berater. Die jetzige Situation ist auch nicht die pauschale Schuld der Grünen. Über Jahrzehnte hat sich dieses Energieproblem aufgebaut. Viele technische Experten haben gute Miene zum bösen Spiel gemacht, anstatt Klarheit zu schaffen.
Gibt es Experten in Behörden oder Stromkonzernen, die sich einzig mit dem Thema Blackout beschäftigen oder zumindest einen großen Teil ihrer Arbeitszeit darauf verwenden?
Also ich habe noch niemanden gefunden – und ich beschäftige mich seit über zehn Jahren intensiv mit dem Thema. Und selbst wenn, wurden offenbar nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Wenn ich mich vorbereiten möchte, geht das nie ohne Öffentlichkeit.
In Süddeutschland wurde kürzlich ein Schwarzstart in einem Wasserkraftwerk geprobt – also das Hochfahren des Stromnetzes nach einem Blackout. Ist das ein Zeichen für ein Umdenken bei den Verantwortlichen?
Nein, diese Übung war offensichtlich die erste seit Langem. Außerdem wurde sie vier Jahren vorbereitet. Hier liegt massiv etwas im Argen, wenn man so viel Vorlaufzeit für einen Test benötigt – für etwas, dass eigentlich jederzeit funktionieren müsste.
Die Stromversorgung lässt sich nach einem Blackout bloß wieder mit Wasserkraftwerken hochfahren, oder?
Nicht nur, aber Pumpspeicherkraftwerke sind neben Gaskraftwerken besonders regelfähig, um ein instabiles System wieder hochfahren zu können. Und diesen Schwarzstart können auch nicht alle Kraftwerke. Ich fürchte aus meiner Erfahrung, dass Deutschland nach einem Blackout ein massives Problem haben wird, die Stromversorgung ohne ausländische Hilfe wieder hochzufahren.
Haben Sie zum Schluss noch einen Tipp für die Leser, wie man sich am besten auf einen Blackout vorbereitet?
Am besten sollte man Nahrungsmittel, lebenswichtige Medikamente und Wasser für zumindest 14 Tage zu Hause vorhalten. Solange würde es im Idealfall dauern, bis die Stromversorgung, Kommunikationsnetze und die Lebensmittelversorgung wieder hoffentlich einigermaßen funktionieren. Es geht eben nicht um den Stromausfall, sondern um den Logistikkollaps, den fast alle unterschätzen. Bei einer schweren Gasmangellage könnten Vorräte für zwei Wochen allerdings zu wenig sein. Wer den Wohnraum und das Geld hat, sollte mehr Reserven anlegen. Außerdem Ruhe bewahren, zusammenhalten und jene in die Schranken weisen, die meinen, sie können das mit Gewalt lösen. Das wird nicht funktionieren. Wir schaffen das nur gemeinsam und der wichtigste Schritt beginnt im Kopf: Vorbereitet sein, auf das, was kommen mag und trotzdem optimistisch bleiben.