Politik

Dramatisch: In Deutschland ist bald jedes zweite Kind seelisch krank

Vier Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind psychisch krank. Rund die Hälfte dieser müsste medizinisch behandelt werden. Aus Unkenntnis, Scham oder Ignoranz unterbleibt der Gang zum Arzt. In nur sechs Jahren wird die Zahl der seelischen Erkrankungen dramatisch in die Höhe schnellen. Eine ganze Generation ruft um Hilfe.
21.11.2013 01:58
Lesezeit: 2 min

20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden unter seelischen Erkrankungen. Eine Zahl, die dem Vorstandsvorsitzenden der Stiftung für psychische Gesundheit von Kindern, Gerd Lehmkuhl, zufolge Sorgen machen muss - vor allem, weil sich qualitativ offenbar unter der Oberfläche dramatische Veränderungen abspielen: „Wir haben Hinweise, dass Kinder häufiger an schweren Erkrankungen leiden“, sagte Lehmkuhl den Deutschen Wirtschafts Nachrichten. Zusätzlich dazu gebe es  heute „eine größere Sensibilität für die psychischen Auffälligkeiten und damit mehr Diagnosen und Behandlungsfälle“, bestätigte Kay Funke-Kaiser von der Bundeskammer der Psychotherapeuten den Deutschen Wirtschafts Nachrichten.

Experten rechnen dennoch damit, dass bis 2020 die Zahl der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen im Kindesalter international auf über 50 Prozent ansteigen wird, so die Stiftung für psychische Gesundheit von Kindern. Dann würden seelische Erkrankungen zu den fünf häufigsten Ursachen von Krankheits- und Sterbefällen in dieser Altersgruppe gehören.

Durch alle Altersklassen

Je nach Alter sind unterschiedliche Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen vorzufinden. Bei Säuglingen und Kleinkindern zum Beispiel spricht man bei sehr häufigen Schreien, vermindertem Interesse oder Schwierigkeiten beim Füttern von Auffälligkeiten, erklärt die LVR-Klinik Viersen (Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie). Während der Kindergarten- und Schulzeit können Trennungsangst, Lernprobleme, aggressives Verhalten, Einnässen und Aufmerksamkeitsdefizitstörungen Anzeichen für eine seelische Erkrankung sein. Bei Jugendlichen äußert sich dies ähnlich wie bei Erwachsenen in Ess-Störungen, Schizophrenie, Depression, Zwangsstörungen etc.. Die am häufigsten vorkommenden seelischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind Angststörungen, depressive Störungen, Ess-Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit bzw. Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), so die Stiftung für psychische Gesundheit von Kindern.

Soziales Umfeld wichtig

Grundsätzlich kann die Erkrankung an einer psychischen Störung nicht nur auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden. Doch das soziale Umfeld, die familiären Verhältnisse des Kindes bzw. der Jugendlichen, spielt dabei eine große Rolle – kann eine negative gesundheitliche Entwicklung zumindest begünstigen. Thomas Lampert vom Robert-Koch-Institut hat etwa die materielle Benachteiligung „zweifellos“ Auswirkungen auf die Psyche des Kindes oder des Jugendlichen. „Eltern, die mit ihrer eigenen Lebenssituation zu kämpfen haben, können ihren Kindern häufig nicht die gleiche Zeit widmen und auch nicht die gleiche emotionale Sicherheit geben wie Väter und Mütter mit einer positiven Lebensperspektive“, so Lampert in einem Bericht des Robert-Koch-Instituts. „Tatsächlich beobachten wir, dass Jungen und Mädchen aus benachteiligten Familien deutlich anfälliger für Entwicklungsstörungen und psychische Probleme sind.“

In diesem Zusammenhang ist auch eine Studie der Kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätskliniken in Ulm und Basel zu sehen. Dafür wurden über mehrere Jahre hinweg in 64 Heimen der Schweiz Kinder und Jugendliche  untersucht. Das Ergebnis: 75 Prozent der Heimkinder sind psychisch krank. „Diese erschreckenden Zahlen zu psychischen Erkrankungen bei Heimkindern weisen auf einen großen Handlungsbedarf auch in Deutschland hin“, sagt Peter Lehndorfer, Vorstandmitglied der Bundespsychotherapeutenkammer. Durch ein rechtzeitiges und niedrigschwelliges Angebot psychotherapeutischer Hilfen könnten aber Risikoentwicklungen verhindert werden.

Hoher schulischer Druck und der steigende Medienkonsum mit „vielfältigen Multitasking“ und zunehmender Belastung und Stress spielen Gerd Lehmkuhl zufolge auch eine Rolle bei der seelischer Erkrankungen von Kindern. Deshalb wären eine bessere familiäre Einbindung, eine intensivere schulische Unterstützung und auch eine höhere Sensibilität der Gesellschaft für die psychischen Nöte und Belastungen von Kindern vonnöten.

Achtung bei falscher Medikation

In jedem Fall sei es wichtig, dass bei dem Verdacht einer psychischen Erkrankung „richtig diagnostiziert und angemessen behandelt wird“, sagte Kay Funke Kaiser den Deutschen Wirtschafts Nachrichten. „Davon können wir allerdings nicht immer ausgehen, weil die Wartezeiten für eine Untersuchung durch einen Psychotherapeuten oder qualifizierten Facharzt lang sind und hier gegebenenfalls vorschnell eine Diagnose vom Kinderarzt gestellt und Psychopharmaka verordnet werden.“ Daher sei es wichtig, dass nicht vorschnell und womöglich falsch behandelt werde. „Dazu gehört Prävention durch klare Strukturen, kindgerechte Anforderungen, emotionale Zuwendung und Unterstützung und die Akzeptanz von Unterschiedlichkeit und Individualität.“

Hinweis: Arte zeigt hier eine einstündige Dokumentation zu dem Thema.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Politik
Politik Trump kündigt Erklärung zu Russland an – neue Dynamik oder taktisches Manöver?
11.07.2025

Ein Treffen in Malaysia, neue russische Vorschläge und Trumps Ankündigung einer großen Russland-Erklärung: Zeichnet sich eine Wende im...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin-Kurs aktuell: Wichtigste Kryptowährung setzt Rekordjagd fort – was das für Anleger bedeutet
11.07.2025

Der Bitcoin-Kurs ist auf ein historisches Allzeithoch gestiegen und über die Marke von 118.000 US-Dollar geklettert. Wie geht es weiter...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Insolvenzverwalter: „Enorme Geldverbrennung“ bei Wirecard
11.07.2025

Der Anwalt Jaffé ist seit fünf Jahren mit der Sicherung des übrig gebliebenen Vermögens beschäftigt. Er fand nach eigenen Angaben im...

DWN
Finanzen
Finanzen Kupferpreis explodiert: Was Trumps Zollfantasien auslösen
11.07.2025

Eine 50-Prozent-Zollandrohung von Trump lässt den Kupferpreis durch die Decke schießen – und sorgt für ein historisches Börsenchaos....

DWN
Politik
Politik Putins Imperium zerbröckelt: Aserbaidschan demütigt den Kreml – mit Hilfe der Türkei
10.07.2025

Aserbaidschan widersetzt sich offen Moskau, schließt russische Propagandakanäle und greift zur Verhaftung von Russen – ein Tabubruch in...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Neues Gasfeld vor Zypern könnte Europas Energiestrategie neu ausrichten
10.07.2025

Ein neues Erdgasfeld vor Zypern könnte zum Wendepunkt in Europas Energiepolitik werden.

DWN
Unternehmen
Unternehmen Baywa Milliardenverlust: Jahreszahlen zeigen das ganze Ausmaß der Krise beim Mischkonzern
10.07.2025

Jetzt ist der Milliardenverlust bei der Baywa amtlich: Das Minus von 1,6 Milliarden Euro ist vor allem auf Abschreibungen bei der...

DWN
Finanzen
Finanzen Trumps Rechnung für die Private-Equity-Branche: 79 Milliarden
10.07.2025

Donald Trumps Zollkurs und globale Kriege setzen der Private-Equity-Branche massiv zu. Was hinter dem dramatischen Kapitalschwund steckt...