Einer der größten Düngemittelproduzenten in Deutschland, die SKW Stickstoffwerke Piesteritz in Wittenberg, hat angesichts der Gaskrise die Produktion von Ammoniak-Produkten stillgelegt – mit möglicherweise dramatischen Folgen für die Logistik und die gesamte deutsche Volkswirtschaft.
Wie die Verkehrsrundschau am 1. September berichtete, standen die Produktionsanlagen bei SKW bereits still und es drohe Kurzarbeit, so ein Sprecher des Unternehmens. Es rechne sich aktuell auch nicht mehr, eine wieder zur Verfügung stehende Ammoniakanlage hochzufahren. Mit einem möglichen Betrieb würde man in einem Monat so viel Geld verlieren, wie man in einem Jahr an Gewinn erwirtschafte, zitiert das Blatt den SKW-Sprecher. Inzwischen, so berichtete die Nachrichtenagentur Reuters am Mittwoch, stehen die SKW-Anlagen seit zwei bis drei Wochen still.
„AdBlue“-Mangel: Weitreichende Folgen für die Wirtschaft
Besonders kritisch: Bei SKW wird in großem Umfang das Mittel „AdBlue“ hergestellt. Die Harnstofflösung – Nebenprodukt der Düngemittelherstellung – wird bei der Abgasnachbehandlung von Dieselmotoren eingesetzt und bewirkt eine Verringerung der ausgestoßenen Stickoxide um bis zu 90 Prozent. Nahezu jeder Lastwagen der Speditions-, Logistik und Transportbranche in Deutschland fährt mit Diesel. „Die Fahrzeuge bringen auch die Lebensmittel in die Supermärkte“, warnte ein SKW-Sprecher Anfang September.
Fällt demnach die Produktion bei SKW in Wittenberg aus, könnte dies dramatische Auswirkungen auf die gesamte deutsche Infrastruktur und Logistik haben, weil viele Lastwagen dann nicht mehr fahren können. Dies hätte gravierende Folgen für die Wirtschaft in Deutschland, für Zulieferer, Unternehmen und viele Familien in der strukturschwachen Region.
Ein Sprecher von SKW Piesteritz sagte am Mittwoch: „Wir laufen trocken. Da wir nichts mehr produzieren, leeren sich unsere Lager.“ Das Unternehmen aus Wittenberg gehört mit BASF und Yara zu den größten Herstellern des Spezialstoffes in Deutschland. „Kein AdBlue bedeutet keine Brummis. Und das bedeutet keine Versorgung für Deutschland“, hatte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Gütertransport und Logistik (BGL), Dirk Engelhardt, der Bild-Zeitung gesagt und dabei auch auf den Produktionsstillstand bei SKW verwiesen. Bereits in zwei Wochen könne es zu ersten Engpässen im Handel kommen, so Engelhardt.
SKW hat mit dem BGL zwar eine Notfallreserve vereinbart. Von dieser waren eigenen Angaben zufolge zuletzt aber nur noch rund eine Million Liter AdBlue übrig. Doch nach Angaben des Konzerns benötigt die Logistik in Deutschland 2,5 Millionen Liter „AdBlue“ pro Tag, alle Pkw alleine fünf Millionen Liter pro Tag.
Das Problem: Lkw-Motoren und andere moderne Diesel-Motoren werden inzwischen so gebaut, dass sie „AdBlue“ zwingend benötigen, um überhaupt zu funktionieren. Ohne das Zusatzmittel schalten die Motoren automatisch in den Notbetrieb und regeln die Geschwindigkeit drastisch herunter. Brancheninsidern zufolge können Lastwagen dann nur noch 20 oder 30 Stundenkilometer schnell fahren.
Der Münchner Merkur berichtet, das viele Fahrzeuge gar nicht mehr fahren können, wenn das Mittel fehlt. „Ist der AdBlue-Tank leer, verweigert die Motorsteuerung in modernen Fahrzeugen einen Neustart, das Fahrzeug – egal ob Pkw oder Lkw, Lieferwagen, Rettungs- oder Löschfahrzeug – bleibt dann stehen, erklärt der ADAC. Betroffen wären also deutlich mehr Fahrzeuge als nur Lkw.“
„AdBlue“ wird infolge der Engpässe immer teurer. Die Zeitung In Franken berichtet, dass ein Kubikmeter inzwischen rund 1.000 Euro kostet. Noch vor wenigen Wochen lagen die Notierungen bei etwa 130 Euro.
Im Notfall muss der Naturschutz weichen
Kommt es hart auf hart und Deutschlands Logistik-Branche erhält auf breiter Front kein „AdBlue“ mehr, müsste die Software in den Lastwagen in großem Stil umprogrammiert werden, damit die Fahrzeuge wieder normal fahren können. Dazu bedarf es jedoch rascher Gesetzesänderungen, weil der Zusatz des Mittels seit dem Jahr 2009 gesetzlich vorgeschrieben ist.
Die Änderung der Software würde bewirken, dass Diesel-Fahrzeuge wieder viel mehr Stickoxide ausstoßen. Doch angesichts der Alternative – nämlich einer wirtschaftlichen Kernschmelze und schwerer gesellschaftlicher Notlagen – dürfte der Politik keine andere Wahl bleiben, als die Naturschutz-Regelungen zu kippen.
SKW – ein systemrelevantes Unternehmen
Auf SKW entfallen Schätzungen zufolge rund 40 Prozent der in Deutschland produzierten „AdBlue“-Gesamtproduktion. Dem Unternehmen kommt dadurch eine systemische Bedeutung für das Funktionieren der deutschen Wirtschaft zu. Dies ist auch der Grund, warum sich die Politik in den Fall eingeschaltet hat. Sowohl die Landesregierung Sachsen-Anhalts als auch die Bundesregierung versuchen derzeit Medienberichten zufolge, Lösungsansätze für SKW zu erarbeiten. Bislang sind keine konkreten Schritte bekanntgeworden.
Als großer Düngemittel-Produzent ist SKW darüber hinaus auch systemrelevant für die Landwirtschaft und die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung.
Gaskrise schlägt voll durch
Grund für die Krise im Markt für „AdBlue“ sind die extrem hohen Gaspreise und die umstrittene Gasumlage, wie ein Sprecher des Unternehmens bereits Mitte August der Nachrichtenagentur dpa sagte. Die Energiekrise treffe das Unternehmen extrem hart. Die Produktion benötige sehr viel Gas.
SKW müsse nun monatlich 30 Millionen Euro Gasumlage zahlen. Das sei finanziell nicht zu stemmen. Das Unternehmen fordere Entlastungen bei der Umlage. Es gehe nicht darum, bevorzugt zu werden. „Es geht uns darum, international wettbewerbsfähig zu bleiben“, sagte der Sprecher. „Wenn alles so bleibt wie jetzt, dann werden wir gezwungen sein, spätestens zum 1. Oktober Kurzarbeit anzumelden“, sagte er.
Wirtschaftsministerium erkennt keine Mangellage
Das Bundeswirtschaftsministerium hingegen sieht derzeit keine Mangellage bei der Produktion von „AdBlue“. Falls es wirklich dazu kommen sollte, werde man reagieren, sagte ein Sprecher des Ministeriums am Mittwoch in Berlin.
Das Bundeswirtschaftsministerin verwies darauf, dass man die Lage seit längerem aufmerksam beobachte und mit dem Hersteller in Kontakt stehe. Zur Versorgungslage sagte der Sprecher, dass es aber mehrere Hersteller in Deutschland gebe und auch die Möglichkeit von Importen bestehe. „Eine echte Mangellage konnten wir nicht feststellen. Aber falls diese eintreten sollte, werden wir Maßnahmen ergreifen.“ Er verwies auf die Hilfsinstrumente für Unternehmen, mit denen die Regierung für ausreichende Liquidität der Firmen sorgen wolle. Diese würden auch noch ausgeweitet.