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Skandal im Schachsport: US-Großmeister soll öfter betrogen haben als bisher bekannt

Lesezeit: 6 min
05.10.2022 12:03
US-Großmeister Hans Niemann hat im Schach offenbar mehr betrogen, als er bisher eingeräumt hat. Damit erhärten sich Vorwürfe von Schachweltmeister Magnus Carlsen.
Skandal im Schachsport: US-Großmeister soll öfter betrogen haben als bisher bekannt
Hier begann der Schach-Skandal 2022: Magnus Carlsen aus Norwegen verliert am 4. September in der dritten Runde des Sinquefield Cup im Saint Louis Chess Club gegen Hans Niemann aus den USA. (Foto: dpa)

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Letzten Monat schockte Schachweltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen die Schachwelt, als er sich nicht nur wiederholt weigerte, gegen den amerikanischen Großmeister Hans Moke Niemann zu spielen, sondern ihm zudem vorwarf, ein Betrüger zu sein. Der 19-jährige Niemann räumte daraufhin ein, dass er zwar betrogen habe, als er 12 und 16 Jahre alt war, aber das seien jugendliche Unüberlegtheiten gewesen. Die Betrugsvorwürfe von Carlsen wies Niemann vehement zurück und warf seinerseits führenden Schachspielern vor, sie wollten seinen Ruf ruinieren.

Nun hat die Plattform Chess.com, auf der führende Schachspieler und Millionen Schachfans in aller Welt online Schach gegeneinander spielen, eine umfangreiche Untersuchung von Niemanns Spiel durchgeführt. Demnach ist das Ausmaß des Schummelns durch den amerikanischen Großmeister Hans Niemann weitaus größer, als dieser öffentlich zugegeben hat. In dem Bericht dokumentiert Chess.com Fälle, die deutlich jünger sind, als die von dem Spieler geltend gemachten jugendlichen Unüberlegtheiten. Am Dienstag hatte bereits das Wall Street Journal über die Untersuchung von Chess.com berichtet.

Der Untersuchung von Chess.com zufolge hat Niemann wahrscheinlich in mehr als 100 Online-Partien, die bis ins Jahr 2020 reichen, illegale Unterstützung durch Schachcomputer erhalten. Zu diesen Spielen gehörten auch einige Wettbewerbe, bei denen es um Preisgelder ging. Chess.com verwendet eine Reihe von Werkzeugen, die Betrug feststellen können, etwa Analysen, welche die Züge der Spieler mit Zügen vergleichen, die von Schachcomputern empfohlen werden, die menschlichen Spielern seit vielen Jahren weit überlegen sind. Computer verfügen über „nahezu unfehlbare taktische Berechnungen“, heißt es in dem Bericht, und sind in der Lage, selbst den besten Menschen jedes Mal zu schlagen.

In dem Bericht von Chess.com heißt es, dass Niemann die Vorwürfe gegen ihn unter vier Augen zugegeben habe und daraufhin für eine gewisse Zeit von der Nutzung der Plattform ausgeschlossen wurde. Der 72-seitige Bericht weist auch auf Unregelmäßigkeiten in Niemanns Aufstieg in der Rangliste hin. Seine Verbesserung sei „statistisch außergewöhnlich“.

Allerdings hat Chess.com sich eigenen Angaben zufolge bisher nur mit der Aufdeckung von Betrügereien im Online-Schach, nicht aber im klassischen Offline-Schach am Brett befasst. Daher äußert sich die Plattform auch nicht ausdrücklich darüber, ob Niemann auch offline betrogen hat. Dennoch verweist Chess.con auf einige von Niemanns stärksten Spiele, die „weitere Untersuchungen auf der Grundlage der Daten verdienen“. Der Weltschachverband FIDE führt derzeit eine eigene Untersuchung in der Niemann-Carlsen-Affäre durch.

„Außerhalb seines Online-Spiels ist Hans der am schnellsten aufsteigende Spitzenspieler im klassischen [Offline-]Schach in der modernen Geschichte“, heißt es in dem Bericht. Seine Fortschritt waren demnach schneller als die amerikanische Schach-Legende Bobby Fischer, der im Jahr 1972 im „Match des Jahrhunderts“ gegen Boris Spasski aus der Sowjetunion Schachweltmeister wurde und bis 1975 Weltmeister blieb. In dem Bericht heißt es: „Auch wenn wir nicht bezweifeln, dass Hans ein talentierter Spieler ist, stellen wir fest, dass seine Ergebnisse statistisch außergewöhnlich sind.“

Die Kontroverse brach Anfang September beim prestigeträchtigen Sinquefield Cup in St. Louis aus, als Niemann Carlsen beim Spielen mit den schwarzen Figuren, was ein Nachteil ist, aus dem Konzept brachte und besiegte. Carlsen brach daraufhin das Turnier abrupt ab. Obwohl der Norweger Niemann damals noch nicht des Fehlverhaltens beschuldigte, interpretierte die Schachgemeinschaft seine Aktion als offensichtlichen Protest. Einige Wochen später trafen die beiden in einer Online-Veranstaltung erneut aufeinander, und Carlsen gab die Partie nach nur einem Zug auf. Trotz des Punkteverlustes gegen Niemann gewann der Norweger das Turnier, was sowohl seine Führungsposition im Schach als auch seine Nervenstärke unterstrich.

Einige Tage später machte er seinen Verdacht gegen Niemann öffentlicht. „Ich glaube, dass Niemann mehr - und weniger weit in der Vergangenheit - betrogen hat, als er öffentlich zugegeben hat“, schrieb Carlsen in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme zu diesem Thema am 26. September. „Seine Fortschritte beim Am-Brett-Spielen [im Gegensatz zum Spielen offline, Anm.d.Red.] waren ungewöhnlich, und während unserer Partie beim Sinquefield Cup hatte ich den Eindruck, dass er in kritischen Stellungen nicht angespannt oder überhaupt voll auf die Partie konzentriert war, während er mich als Schwarzer auf eine Art und Weise überspielte, wie es meiner Meinung nach nur eine Handvoll Spieler schafft.“

Als Niemann sich im letzten Monat zu den Verdächtigungen äußerte, sagte er, der einzige Fall, in dem er bei einer Veranstaltung mit Preisgeld betrogen habe, sei gewesen, als er 12 Jahre alt war. Später sagte er, dass er als 16-Jähriger in „zufälligen Spielen“ betrogen habe und dass dies die größten Fehler seines Lebens gewesen seien. Er sagte auch, dass er nie beim Live-Streaming eines Spiels betrogen habe. „Ich könnte mir nicht einmal vorstellen, dies in einem echten Spiel [am Brett] zu tun“, sagte er.

Der Bericht von Chess.com widerspricht diesen Aussagen. Darin heißt es, dass unter den mehr als 100 verdächtigen Partien mehrere Preisgeldturniere sind und dass er 25 der Partien live gestreamt hat. Zudem sei Niemann bei den letzten Verstöße bereits 17 Jahre alt gewesen, weshalb Chess.com entschieden hat, Niemanns Account zu schließen. In einem Brief an Niemann, der dem Bericht beigefügt ist, wird auf „eklatante Betrügereien“ hingewiesen, um seine Wertungszahl in verschiedenen Partien zu verbessern, unter anderem in einer Partie gegen den russischen Großmeister Ian Nepomniachtchi, der bei der letzten Schachweltmeisterschaft Carlsens Herausforderer war.

Niemann gestand 2020 die Anschuldigungen in einem Telefongespräch mit Danny Rensch, dem Schachchef von Chess.com. Der Bericht enthält auch Screenshots von nachfolgenden Slack-Nachrichten zwischen den beiden, in denen sie eine mögliche Rückkehr auf die Seite diskutieren, die Spielern erlaubt werden kann, wenn sie ihr Fehlverhalten zugegeben haben.

Niemann stellte letzten Monat in Frage, warum er von der Chess.com Global Championship, einem mit einer Million Dollar dotierten Event, ausgeschlossen wurde. Kurz darauf schrieb Danny Rensch einen Brief an Niemann, in dem er erklärte, dass „es immer ernsthafte Bedenken darüber gab, wie weit verbreitet Ihre Betrügereien bei Preisgeld-Turnieren waren“ und dass zu viel auf dem Spiel stand. Der Brief fügte hinzu, dass Niemanns verdächtige Züge mit Momenten zusammenfielen, in denen er einen anderen Bildschirm auf seinem Computer geöffnet hatte - was bedeutet, dass er eine Schachengine für den besten Zug konsultierte.

„Wir können aussagekräftige statistische Beweise vorlegen, die jeden der oben genannten Fälle belegen, sowie eindeutige Beweise für das 'Umschalten' im Vergleich zum 'Nicht-Umschalten', da Sie viel besser abschneiden, wenn Sie während ihrer Züge auf einen anderen Bildschirm umschalten“, schrieb Danny Rensch an Hans Niemann.

Chess.com hat seine Verbote in der Vergangenheit vertraulich gehandhabt, so auch im Fall von Niemann im Jahr 2020. Doch im September wich die Plattform davon ab, nachdem Niemann selbst seine Kommunikation mit Chess.com und seinen Ausschluss von der Global Championship öffentlich angesprochen hatte. Der Bericht besagt, dass Chess.com sich „gezwungen sah“, die Grundlage für die Entscheidungen öffentlich zu machen.

Dem Bericht zufolge wurden bereits Dutzende von Großmeistern beim Schummeln auf der Website erwischt, darunter vier der 100 besten Spieler der Welt, die den Betrug gestanden haben. Doch die Feststellung von Verstößen bei Partien am Brett bleibt eine große Herausforderung. Der Hauptgrund dafür ist, dass Großmeister beim Betrügen nur sehr wenig Unterstützung benötigen. Für einen Großmeister können ein paar Züge an kritischen Stellen ausreichen, um den Weltmeister zu besiegen. Das macht es schwierig, Betrugsvorwürfe definitiv zu beweisen, es sei denn, ein Spieler wird auf frischer Tat ertappt, etwa indem er ein Telefon auf der Toilette benutzt, einen kleinen Ohrhörer trägt oder Signale von jemandem im Publikum empfängt.

Niemann überschritt Ende 2015 oder Anfang 2016 zum ersten Mal die Marke von 2300 Punkten im ELO-Rating-System, das in der Schachwelt verwendet wird. Dann dauerte es mehr als zwei Jahre, bis er die Zahl 2400 überschritt, und weitere zwei Jahre, bis er Ende 2020 in die Nähe der Großmeistermarke von 2500 Punkten kam. Im Januar 2021 erlangte er im Alter von 17 Jahren den Großmeisterstatus. Damit war er im Vergleich zu einigen seiner Altersgenossen ein Spätentwickler. In den nächsten 18 Monaten sammelte Niemann mehr als 180 ELO-Punkte.

Im ELO-System kann man am schnellsten große Sprünge machen, wenn man viel gewinnt und Leute schlägt, die ein höheres Rating haben als man selbst. Die von chess.com gesammelten Daten, die die Stärke seines Spiels messen, zeigen einen steileren Anstieg als bei allen anderen jungen Spitzenspielern der Welt. „Unserer Ansicht nach haben die Daten gezeigt, dass Hans eine uncharakteristische, unregelmäßige Wachstumsphase hatte, die von ständigen Plateaus durchzogen war“, heißt es in dem Bericht.

Der Bericht befasst sich auch mit einem Interview, worin Niemann im September direkt im Anschluss an seinen Sieg gegen Carlsen diese Partie analysierte. Nach Ansicht von Spitzenspielern zeigte Niemanns Analyse während des Interviews ein mangelndes Verständnis der Stellungen, die er gerade selbst gespielt hatte. Der Bericht sagt, dass Niemanns Analyse „im Widerspruch zu dem Niveau der Vorbereitung steht, die laut Hans in der Partie im Spiel war, und zu dem Niveau der Analyse, das erforderlich ist, um den Schachweltmeister zu besiegen“.


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