Der ehemalige US-General Mark Hertling warnt vor zu viel Optimismus im Ukraine-Krieg. Seit es der Ukraine Mitte November gelungen ist, die wichtige Stadt Cherson im Süden des Landes zurückzuerobern, mehren sich die euphorischen Stimmen in der Politik. Mark Hertling kommandierte die in Deutschland stationierte 1st Armored Division und war von 2007-2009 Kommandeur der 28.000 Mann starken Task Force im Nordirak und von März 2011 bis November 2012 Kommandeur der United States Army Europe.
Hertling beobachtet, dass viele Politiker der ukrainischen Seite vorschlagen, das Momentum zu nutzen, wie er auf seinem Twitter-Kanal erklärt: „Viele schlagen vor, die Ukraine solle ‚die Dynamik‘ gegen die Russen im Nordosten (Donbass) aufrechterhalten und gleichzeitig nach Melitopol (weiter östlich in der Oblast Cherson) vorstoßen. Beides ist sicherlich wünschenswert, aber es wird schwierig werden.“
Ex-US-General warnt vor zu viel Optimismus
In seiner umfangreichen Analyse blickt Hertling zunächst in den Nordosten, die Donbass Region. Seit 2014 herrschen im Donbass Grabenkämpfe. Die Grenze zwischen den Volksrepubliken ist zum Niemandsland geworden und Russland versuche den Konflikt einzufrieren. Vor dem 24. September habe es auf beiden Seiten nicht viele Gebietsgewinne gegeben. Die Ausdehnung dieses Gebiets sei ein früheres und in den Augen von Hertling gescheitertes operatives Ziel Russlands gewesen.
Obwohl in den letzten Monaten heftige Kämpfe stattgefunden hätten und die Ukraine große Fortschritte in diesem Bereich gemacht habe, seien beide Seiten zu der früheren LOC („line of contact“, Frontline) zurückgekehrt. Hertling zieht historische Parallelen zur Geschichte der Grabenkämpfe und vergleicht die Gegebenheiten in der Grenzregion der Volksrepubliken Donezk und Luhansk mit dem französischen Verdun im ersten Weltkrieg und erklärt die Schwierigkeit eines solchen Krieges:
„Ein ‚Graben‘ ist in Wirklichkeit eine ausgedehnte Verteidigungsstellung mit Minen, eingegrabenen Truppen, vorgeplanter Artillerie und direkten Feuerwaffen sowie offenem Raum, der keine Deckung bietet. Es ist schwierig, ihn anzugreifen. Eine Truppe kann einen eingegrabenen Feind umgehen, über, unter oder durch ihn hindurch gehen.“
Durchbruch im Donbass wird hart und erfordert Zeit
Hertling erklärt, dass in den Ausbildungszentren der US-Armee sogenannte Combined-Arms-Durchbruchsoperationen trainiert werden. Dabei werde alles eingesetzt, was man habe: Aufklärung, Unterdrückung, Panzer, Präzisionsartillerie, Infanterie, Pioniere und mehr. Um einen Durchbruch in einem Grabenkrieg zu schaffen, benötigt es kombinierte Waffen, was eine der schwierigsten Aufgaben sei, die man sich vorstellen kann: „Der Durchbruch erfordert eine umfassende Ausbildung, viel Übung, eine Kombination von Ressourcen, über die nur fortgeschrittene Armeen verfügen, sowie anpassungsfähige und kluge Führer.“
Hertling prognostiziert, dass die ukrainische Armee einen harten Kampf führen muss. Sie wird dabei Präzisionsartillerie, eine hervorragende Führung und eine ständig wachsende Fähigkeit zu kombinierten Waffen benötigen. Es sei nicht nur ein harter Kampf, sondern wird auch Zeit brauchen. Der Kampf werde die ukrainischen Streitkräfte zermürben, dennoch werde die ukrainische Armee in seinen Augen erfolgreich sein, aber nicht schnell.
Im Süden ist die Breite des Dnipro das Hauptproblem
Im Süden des Landes sieht Hertling ein anderes Problem. Der Kampf in der Region Cherson erfordere eine andere Herangehensweise mit konventionellen Streitkräften (mit guten Informationen, solider Manövrierfähigkeit und Feuerkraft, präziser Zielgenauigkeit) sowie die Unterstützung durch Territorialkräfte und Widerstand. Anders als bei einem Angriff auf einen eingegrabenen, sich verteidigenden Feind, wie es in der Grenze zu den Volksrepubliken der Fall sei, werde dieser Kampf mehr Manöver, Präzisionsschläge, Spezialoperationen und die Fähigkeit zur Flussüberquerung erfordern.
Hertling kritisiert dabei auch die Experten, die meinen die Ukraine müsse in der Region Cherson weiter nach Osten ziehen: „Diese Leute sollte neben der Karte der Ukraine auch die Breite des Dnipro berücksichtigen. Zudem ist es eine Tatsache, dass die meisten Brücken in der Ost-West-Richtung zerstört wurde. Wer die Breite des Flusses sieht und die Zerstörung der Brücken berücksichtigt, dem wird klar, wie schwierig eine Flussüberquerung mit einer großen Anzahl von Truppen sein wird.“
Vergleich mit der Überquerung des Rheins
Hertling geht hierbei auf den Zweiten Weltkrieg zurück und vergleicht die Problematik mit der Überquerung des Rhein durch die Alliierten. Es sei die große Sorge der Alliierten gewesen, über den Rhein zu kommen, um den Kampf fortzusetzen. Die deutschen Streitkräfte hatten hinter sich alle Brücken gesprengt, um die Alliierten am Vorrücken zu hindern. US-General Pattons Truppen hätten damals das Glück gehabt, so Hertling, eine Brücke bei Remagen zu erobern und das habe am Ende den Unterschied gemacht.
Die Situation in der Region Cherson sei ähnlich kompliziert: „Wenn der Angriff auf eine Grabenlinie mit einer Bresche die schwierigste Aufgabe ist, dann ist eine gegnerische Flussüberquerung und die Fortsetzung eines Angriffs die zweitschwerste. Der Ukraine bleibt nur keine andere Wahl. Die Überquerung des Dnipro ist der Schlüssel um den Angriff nach Osten, in Richtung Melitopol, und darüber hinaus fortzusetzen.“ Diese vierte Phase des Krieges wird sehr hart und lang werden. Dennoch ist der Ex-General davon überzeugt, dass die Ukraine mit der Unterstützung der NATO und der USA erfolgreich sein kann.
Generalstabschef schlug Friedensverhandlungen vor
Hertling ist nicht der einzige US-Militärexperte, der vor zu viel Optimismus warnt. Laut CNN erklärte US-Generalstabschef Mark Milley in einer Pressekonferenz kurz nach der Rückeroberung Chersons, dass das russische Militär nach fast neun Monaten Krieg keines seiner Ziele erreicht habe und „wirklich schwer angeschlagen“ sei.
„Die Ukrainer haben einen Erfolg nach dem anderen errungen“, sagte Milley, während die Russen jedes Mal versagt hätten. Diese Misserfolge, so Milley, könnten es der Ukraine sogar ermöglichen, auf etwas zu drängen, was sie militärisch wahrscheinlich nicht erreichen wird: einen Rückzug der russischen Streitkräfte.
„Es könnte eine politische Lösung geben, bei der sich die Russen politisch zurückziehen“, so Milley. „Man will zu einem Zeitpunkt verhandeln, an dem man selbst stark ist und der Gegner schwach ist. Und es ist vielleicht möglich, dass es eine politische Lösung gibt. Ich will damit nur sagen, dass es eine Möglichkeit dafür gibt.“
Aus diesem Grund schlug Milley Gespräche Anfang Friedensverhandlungen vor und stoß damit in Kiew auf wenig Gegenliebe. Milley argumentierte, dass man jetzt aus einem Gefühl der Stärke heraus Verhandlungen führen könne. Ähnlich wie Hertling prognostizierte Milley auch einen harten Kampf für die Ukraine der lange andauern würde. Gleichzeitig stellte er aber auch klar, dass ein Sieg der russischen Armee gegen Null tendiere. Wahrscheinlicher sei ein Szenario eines langen Stellungskrieges.