Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger sagte am Dienstag in einer Videoansprache an das Weltwirtschaftsforum (WEF), dass es keinen Sinn mehr mache, die Ukraine aus der Nato herauszuhalten. Eine Mitgliedschaft im westlichen Militärbündnis wäre ein "angemessenes Ergebnis" des Kriegs gegen Russland.
Damit vollzieht Kissinger eine Kehrtwende, da er einen Nato-Beitritt der Ukraine in der Vergangenheit abgelehnt hatte. Der 99-jährige Realpolitiker setzt sich seit Monaten für einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg ein, der seiner Ansicht nach auch einige militärische Fortschritte Russlands akzeptieren sollte.
"Vor diesem Krieg war ich gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato, weil ich befürchtete, dass damit genau der Prozess in Gang gesetzt würde, den wir jetzt erlebt haben", zitiert ihn die Nachrichtenagentur AFP. "Jetzt, da dieser Prozess so weit fortgeschritten ist, ist die Idee einer neutralen Ukraine unter diesen Bedingungen nicht mehr sinnvoll", so Kissinger.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte die Nato-Bestrebungen der Ukraine als eine Bedrohung für Russland bezeichnet, als er die am 24. Februar letzten Jahres begonnene Invasion rechtfertigte.
Die USA hatten darauf bestanden, dass die Entscheidung über die Nato bei der Ukraine liegt. Doch das Angebot fand bei den europäischen Mächten wenig Anklang, da sie die gegenseitigen Sicherheitsgarantien des Bündnisses nicht an ein Land weitergeben wollten, das sich bereits seit 2014 in einem Krieg niedriger Intensität mit Russland befindet.
Kissinger warnte letzten Monat in einem Essay in der konservativen britischen Zeitschrift The Spectator, dass der Ukraine-Konflikt Parallelen zu 1914 aufweise, als die Großmächte versehentlich in einen Weltkrieg eskalierten. Er forderte einen Waffenstillstand, bei dem sich Russland auf die Linien vor der Invasion zurückzieht, aber die Ostukraine und die 2014 annektierte Halbinsel Krim behalten soll.
In seinem Artikel im Spectator schlug Kissinger zudem schlug vor, dass Referenden abgehalten werden könnten, um Streitigkeiten über einige der von Russland in der Ukraine eroberten Gebiete beizulegen. Doch im Verlauf des letzten Monats scheint sich seine Meinung zu diesem Thema geändert zu haben.
Zwar rief er in seiner Davos-Rede am Dienstag immer noch zu Gesprächen mit Moskau auf. Doch die Kämpfe sollten seiner Ansicht nach erst dann beendet werden, wenn Russland auf die Linien vor der Invasion zurückgedrängt worden ist. "Ich glaube an einen Dialog mit Russland, solange der Krieg andauert, und an ein Ende der Kämpfe, wenn die Vorkriegslinie erreicht ist", sagte er.
In Davos sagte Kissinger aber weiterhin, es sei wichtig, "zu verhindern, dass der Krieg zu einem Krieg gegen Russland selbst wird" und "Russland die Möglichkeit zu geben, sich wieder in das internationale System einzufügen". Einige Länder, die einst von Moskau beherrscht wurden, zögern Kissinger zufolge. Es sei aber entscheidend, Instabilität in der riesigen, atomar bewaffneten Nation zu vermeiden.
Ein diplomatischer Prozess könnte Russland dabei helfen, "seine historische Position neu zu bewerten, die eine Mischung aus der Anziehungskraft der europäischen Kultur und der Furcht vor der Beherrschung durch Europa war", sagte Kissinger vor einem Bücherregal mit einem gerahmten Bild von Präsident Richard Nixon, unter dem er diente.
Die Aussichten auf Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien sind gering, da die Ukraine einen vollständigen Rückzug und ein Kriegsverbrechertribunal in Moskau fordert, bevor es zu Gesprächen kommen kann. Russland seinerseits erklärt, es sei offen für Gespräche, beharrt aber darauf, dass ein Abkommen den Beitritt der von ihm eroberten Gebiete an die Russische Föderation beinhalten muss.
Der ehemalige US-Außenminister verärgerte die ukrainische Führung, als er im Mai 2022 das letzte Mal vor dem World Economic Forum sprach. Damals schlug Kissinger vor, die Ukraine solle die Halbinsel Krim und das von Separatisten schon vor dem Krieg kontrollierte Gebiet im Donbass an Russland abtreten.
Kissinger hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges für eine freundlichere Haltung gegenüber Russland ausgesprochen. Im Jahr 2014, kurz nach dem von den USA unterstützten Sturz des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, warnte Kissinger, dass die Ukraine als "Brücke" zwischen Russland und dem Westen fungieren müsse, wenn sie "überleben und gedeihen" wolle.