Politik

„Jetzt ist alles anders“: Ideologie und Geopolitik entscheiden fortan über Wirtschaft und Wohlstand

Lesezeit: 6 min
24.02.2023 13:00
In einer interessanten Analyse beleuchtet Franklin Templeton die Zeitenwende – und ihre Verlierer und Gewinner.

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

In einem Kommentar beleuchtet Kim Catechis, Investment-Stratege beim Franklin Templeton Institut, die sich vollziehende Zeitenwende in Wirtschaft und Politik:

Geopolitische Spannungen scheinen sich nur sehr langsam zu entwickeln und haben kaum unmittelbare Auswirkungen auf die Kapitalmärkte. Diese Ansicht schien bis vor etwa einem Jahrzehnt gerechtfertigt. Die Realität sieht so aus, dass die Rivalitäten zwischen den Großmächten, die zu einer Eskalation des geopolitischen Drucks führen, ebenso wie der Klimawandel inzwischen unmittelbar, direkt und global sind, aber in ihrer Intensität ungleichmäßig. Geopolitische Erwägungen beeinflussen die Anlagerenditen sowohl direkt als auch indirekt über ihren Einfluss auf die politische Richtung in den betroffenen Ländern.

Die politische Richtung wiederum bestimmt den Kurs der wirtschaftlichen Entwicklung. In der Vergangenheit haben die Regierungen versucht, ihre Volkswirtschaften vor der "Strafe" zu schützen, die sich aus der Agressionen großer Handelspartner ergibt. Dieser Ansatz wird zunehmend als überholt und unhaltbar empfunden. Die Akzeptanz der neuen Situation zeigt sich in der Politik der Regierungen - Sanktionen, Handelsschranken, Zölle und Abbau kultureller und diplomatischer Verbindungen -, die den Kapitaltransfer erschweren und die Freizügigkeit zwischen den Ländern einschränken. All diese Maßnahmen schränken die Unternehmen des Privatsektors ein und begrenzen letztendlich das Gewinnwachstumspotenzial. Geopolitische Zwänge übertrumpfen die wirtschaftliche Logik. Was sind die Schlussfolgerungen daraus?

Erstens: Wer sind die Gewinner?

In diesem Umfeld glauben wir, dass eine Gruppe von Gewinnern diejenigen Länder sein werden, die von der Neukalibrierung der Lieferketten profitieren könnten. Dazu zählen etablierte Länder wie Mexiko, wo die Lohnstückkosten relativ niedrig sind, die Verkehrsinfrastruktur gut ist und es einen großen Pool an erfahrenen Maquiladora-Arbeitskräften sowie agile Unternehmen gibt, die sich schnell an die Anforderungen anpassen können.

Ebenfalls dazu gehören Länder, die einen bedeutenden Zugang zu bestimmten Rohstoffen haben, die für Halbleiter oder Batterien für Elektrofahrzeuge wichtig sind, und die in der Lage sind, eine stabile Basis für die Herstellung oder Verarbeitung zu bieten. Auch Mexiko profitiert hier, da es über wertvolle Ressourcen verfügt. Das United States Government Accountability Office (USGAO) hat eine Liste "kritischer" Mineralien zusammengestellt. Mexiko gehört bei 14 dieser Mineralien zu den drei wichtigsten Lieferanten und hat das Potenzial, weitere zu liefern, z. B. Lithium (EV-Batterien), Wismut (Pharmazeutika), Graphit (Halbleiter), Blei und Selen - die letzten drei sind besonders wertvoll, da sie Lieferungen aus China ersetzen können.

Ein weiterer offensichtlicher Anwärter auf der Gewinnerseite wäre aus unserer Sicht Indonesien, das den zusätzlichen Vorteil eines bedeutenden Verbrauchermarktes und einer strategischen Lage im Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) hat. Jakarta hat eine zusätzliche Anziehungskraft für ausländische Investoren - es hat mit 275 Millionen Einwohnern die viertgrößte Bevölkerung der Welt. Dies bedeutet, dass die Stadt für ausländische Direktinvestitionen attraktiv ist, da der Verbrauchermarkt schnell wächst. Darüber hinaus macht die Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen fast 16 % der Bevölkerung aus, so dass es eine demografische Dividende gibt.

Auf Unternehmens- und Sektorebene sind diejenigen Unternehmen, die bestehende und vorrangige Defizite bei spezialisierten Infrastrukturen beheben können, eindeutig in einer privilegierten Position. Der Bau von LNG-Terminals, Kurzstrecken-Pipelines und die Modernisierung von Industriemaschinen zur Steigerung der Energieeffizienz sind einige Beispiele. Zusammen mit dieser Gruppe sind sie die Enabler oder Nutznießer einer Beschleunigung der grünen Energiewende. Gemeinsam könnten diese Unternehmen unserer Analyse zufolge das Wirtschaftswachstum ankurbeln und die Grundlage für längerfristige Struktur- und Produktivitätsverbesserungen schaffen.

In jedem Fall werden die Rüstungsunternehmen im kommenden Jahrzehnt davon profitieren. Das liegt zum Teil an den Lehren aus dem Russland-Ukraine-Krieg. In großen Landkriegen werden enorme Mengen an normaler Munition verbraucht, und der Einsatz von relativ "dummer" Munition oder einfachen Drohnen kann immer noch sehr effektiv sein. Diese Wirksamkeit liegt zum Teil in ihrer Zerstörungskraft, aber auch in den wirtschaftlichen Aspekten des Krieges. Eine effektive Flugabwehr- und Raketenabwehrbatterie verwendet extrem teure Munition, um sehr billige Drohnen zu stoppen. All dies hat Auswirkungen darauf, wie der Beschaffungs- und Planungsprozess der NATO organisiert ist und wie Kriege in Zukunft wahrscheinlich geführt werden. Und für die am militärisch-industriellen Komplex beteiligten Unternehmen wird die oberste Priorität wahrscheinlich darin bestehen, in Kapazitätserweiterungen zu investieren, was noch mehr Spielraum für ein Umsatzwachstum im Teilsektor der Spezialtechnik bietet.

Bei den Rohstoffen sind die eindeutigen Nutznießer die "guten" Produzenten, da ihr Kundenstamm über 60 % des weltweiten BIP ausmacht. Es ist jedoch möglich, dass einige "neutrale" Produzenten zu den "guten" Produzenten abwandern, um von dem geringeren Wettbewerbsdruck zu profitieren, da die "schlechten" Produzenten von lukrativen Märkten ausgeschlossen werden.

Zweitens: Die Regierungen müssen mehr Schulden machen - der Inflationsdruck ist groß

Die Inflation hat der Emission von Schuldtiteln eine vorübergehende Obergrenze gesetzt, da die Zinskosten schnell gestiegen sind. Der weltweite Schuldenberg belief sich im dritten Quartal 2022 auf rund 294 Billionen US-Dollar, was einer BIP-Quote von schätzungsweise 343 % entspricht.[1] Dennoch erwarten wir, dass die Emission von Schuldtiteln in diesem Jahr wieder ansteigen wird, da die Regierungen versuchen, eine wachstumsfördernde Politik umzusetzen und die Investitionen in die Verteidigung anzukurbeln sowie die höheren Zinskosten in den Griff zu bekommen. Für viele stellt die Währungsschwäche zusätzlichen Gegenwind dar.

Das traditionelle Tabu hoher Schuldenquoten ist nur für die Länder relevant, die sich nicht leicht refinanzieren können. Japan kann eine Quote von 250 % des BIP verkraften, die Vereinigten Staaten könnten bis zu 150 % erreichen und so weiter. Der springende Punkt ist, dass die Länder mit hohem Einkommen besser in der Lage sein werden, die Kosten für den Schuldenausgleich zu tragen und weiterhin einen Markt für die Emission von Anleihen zu finden. Diese Entwicklung führt zwangsläufig zu einer stärkeren Polarisierung zwischen Ländern mit hohem Einkommen und Ländern mit niedrigem Einkommen. In den Entwicklungsländern ist die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP tendenziell niedriger als in der Vergangenheit. So entfällt in China der Großteil der Schulden auf den Sektor der Nicht-Finanzunternehmen (159 % des BIP), während die entsprechende Quote in Indonesien bei relativ bescheidenen 24 % liegt.[2] Der Druck ist in allen Ländern mit niedrigem Einkommen, wie Sri Lanka und Sambia, zu spüren. Nach Angaben der Weltbank "könnte sich ein Dutzend Entwicklungsländer als unfähig erweisen, ihre Schulden zu bedienen".[3]

Die Zahl der NATO-Mitglieder nimmt zu, wobei das neutrale Schweden und Finnland bald beitreten werden, und eine engagierte politische Klasse setzt sich dafür ein, dass mindestens 2 % des BIP für die Verteidigung aufgewendet werden. Dies ist nicht möglich, ohne erhebliche Schulden zu machen, und angesichts der geringen Produktionskapazitäten des militärisch-industriellen Komplexes auf beiden Seiten des Atlantiks wird dies wahrscheinlich zu einer Inflation führen.

Wenn man dann noch den Turboantrieb zur Beschleunigung der Umstellung auf umweltfreundliche Energien und die Welle von Investitionen der Industrieunternehmen zur Modernisierung von Industrieanlagen hinzunimmt, sehen wir für das nächste Jahrzehnt eine Reihe von Inflationswellen, die die Gültigkeit der historischen Inflationsziele von 2 % in Frage zu stellen scheinen. In der Praxis spielt es keine große Rolle, ob es 3 % oder 4 % sind, die Märkte werden sich entsprechend anpassen. Womit die Märkte zu kämpfen haben werden, ist die Volatilität der Inflation und folglich der Zinssätze.

Drittens: Jetzt ist alles anders

Aus unserer Sicht scheinen die guten Zeiten der ungebremsten Globalisierung und des Zusammenwachsens der Volkswirtschaften auf einem höheren Wachstumspfad zu Ende gehen, da nationale Sicherheitsinteressen und Ideologie nun Vorrang vor wirtschaftlicher Logik haben. Das Ergebnis ist eine zersplitterte Welt mit Handelsschranken und zunehmend regionalisierten Handelszonen, die durch Ideologie, geopolitische Ausrichtung und vermeintliche nationale Sicherheitserwägungen gestützt werden.

Wir glauben, dass wir eine massive Umschichtung von Ressourcen benötigen, was positive Realzinsen voraussetzt. Der Grund dafür ist, dass sowohl die Regierungen als auch der private Sektor so viele Emissionen tätigen werden, dass es einen Wettbewerb um die Gelder der Anleger geben wird. Die traditionellen Quellen langfristiger Ersparnisse könnten im Laufe der Zeit beschnitten oder sogar reduziert werden, da die arbeitende Bevölkerung in den meisten Ländern mit hohem Einkommen schrumpft und ihre Sozialkosten steigen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Nationale Rentendienst (NPS) in Südkorea, der aufgrund der alternden Bevölkerung des Landes bis 2055 kein Geld mehr haben wird[4] . In den meisten westlichen Ländern werden die staatlichen Eingriffe zunehmen - nicht immer effizient oder gar sinnvoll.

Kurzfristig scheinen sich die Vermögenspreise allgemein nach unten korrigiert zu haben, und es herrscht Optimismus hinsichtlich des Wirtschaftswachstums. Festverzinsliche Anlagen sind wieder attraktiv, aber die Aktienmärkte müssen möglicherweise die Erwartungen an das Gewinnwachstum dämpfen, und die Inflation könnte mehrere Jahre lang über dem traditionellen Ziel von 2 % liegen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir uns an einer globalen Zeitwende befinden, deren Auswirkungen von strukturell höheren Schulden, Inflation und Zinssätzen bis hin zu der Forderung nach höheren Anlagerenditen in einer Zeit des wirtschaftlichen Auseinanderbrechens der Welt reichen. Unseres Erachtens ist in diesem Szenario jede Anlageentscheidung mit impliziten Faktorgewichtungen belastet, die derzeit nicht zum Mainstream gehören.

*****

Kim Catechis ist Investment-Stratege beim Franklin Templeton Institut. Foto: Franklin Templeton.


Mehr zum Thema:  

DWN
Politik
Politik Erdgas: Preis der Energiewende viel zu hoch - warnt Gazprom
15.11.2024

Während die Welt auf erneuerbare Energien setzt, geht Gazprom einen anderen Weg: Der russische Energieriese glaubt, dass Erdgas der...

DWN
Politik
Politik CDU und SPD für neuen Konsultationsmechanismus - BSW will in Sachsen konstruktiv sein
15.11.2024

In Sachsen wollen CDU und SPD als Minderheitsregierung einen «Koalitionsmechanismus» einführen, um eine Mehrheit für ihre Vorhaben zu...

DWN
Politik
Politik Scholz telefoniert erstmals seit zwei Jahren mit Putin und fordert Abzug aus Ukraine
15.11.2024

Seit Monaten signalisiert Kanzler Scholz, dass er grundsätzlich zu einem Telefonat mit Kremlchef Putin bereit sei. Man müsse nur den...

DWN
Politik
Politik Nach Ampel-Aus: Bundestag streicht Sitzungswoche
15.11.2024

Die kommende Sitzungswoche im Bundestag war für Haushaltsberatungen reserviert. Nach dem Ampel-Bruch gibt es keinen Haushalt und die Woche...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Party der Öl-Industrie? 1.700 Lobbyisten auf Klimagipfel
15.11.2024

Worum es Baku beim Klimagipfel geht - darüber scheint es sehr unterschiedliche Ansichten geben. Umweltaktivisten sehen sich mit 1700...

DWN
Finanzen
Finanzen EU-Kommission senkt Konjunkturprognose für Deutschland
15.11.2024

Hohe Unsicherheit, Arbeitskräftemangel und sparsame Verbraucher - was alles die Stimmung drückt in Deutschland.: Auch Brüssel zeichnet...

DWN
Finanzen
Finanzen Goldpreis: Nicht jeder Anleger ist von Trump-Aktienrally überzeugt - was nun wichtig ist!
15.11.2024

Seit der Wiederwahl von Donald Trump steigen die Aktienkurse an den US-Börsen kräftig. Aktien von Unternehmen wie Tesla oder Anbieter aus...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Inflationsausgleichsprämie 2024: Was kommt danach? Lösungen für eine nachhaltige Mitarbeitermotivation
15.11.2024

Letzte Chance für die Inflationsausgleichsprämie, auch kurz als Inflationsprämie bezeichnet: Bis Ende 2024 können Arbeitgeber bis zu...