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Rechtsprofessor: „Für Reparationen an Polen gibt es keine Rechtsgrundlage“

Lesezeit: 8 min
04.03.2023 00:40  Aktualisiert: 04.03.2023 00:40
Die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen sind derzeit nicht gut, unter anderem auch deswegen, weil die polnische Regierung von seinem Nachbarn Reparationen für den Zweiten Weltkrieg in Billionen-Euro-Höhe fordert. Der polnische Professor Robert Grzeszczak erläutert im Interview mit den DWN die Hintergründe und sagt, wie Deutschland damit umgehen soll.
Rechtsprofessor: „Für Reparationen an Polen gibt es keine Rechtsgrundlage“
Bundeskanzler Olaf Scholz (l, SPD) begrüßt Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki zum Westbalkan-Gipfel und geht mit ihm an der Flagge von Serbien vorbei. (Foto: dpa)

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Professor, könnten Sie noch einmal kurz erläutern, welche Reparationsforderungen Polen an Deutschland stellt?

Robert Grzeszczak: Die Reparationsfrage ist eine politische Neverendingstory, die als Ersatzthema fungiert. Sie taucht immer dann auf, wenn es ein politisches Interesse gibt, mit Schlagworten und Versprechungen riesige Geldsummen von Deutschland zu fordern. Doch in Wirklichkeit werden hier andere Ziele verfolgt – beispielsweise sollen damit Wählerstimmen gewonnen werden. Deshalb taucht das Thema Entschädigungs- und Restitutionsforderungen auch im 21. Jahrhundert immer wieder in der polnischen Politik auf.

Allgemeinen Analysen zufolge erscheint das Narrativ der nicht gezahlten Reparationen immer dann, wenn in Polen rechtsgerichtete Parteien mit stark populistischen Zügen an der Macht sind. Dabei handelt es sich jedoch eher um Erklärungen, die sich an die Wähler richten und innenpolitische Zwecke verfolgen. Sie stellen weniger einen Plan zum Handeln dar, um echte Ergebnisse auf der nationalen und internationalen Arena zu erzielen. Und genau die Situation haben wir jetzt im Jahr 2023. Das hat leider nicht nur innenpolitische Konsequenzen. Die ergriffenen Maßnahmen sind nicht nur ineffektiv, sondern kontraproduktiv: Sie führen unter anderem zu einer Verschlechterung der Beziehungen zu Deutschland. Polen wird in der internationalen Politik unberechenbar und unzuverlässig.

Und hier gibt es ein Paradoxon: Mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union im Jahr 2004 endeten logischerweise auch die Verhandlungen zur Mitgliedschaft und die Notwendigkeit, dass das Land stark durch Deutschland unterstützt wird. Und dadurch kam das Thema der Reparationen auch wieder auf die Tagesordnung. Daher verabschiedete der Sejm 2004 eine Resolution, in der er feststellte, dass Polen für die enormen Schäden, die durch die deutsche Aggression und Besatzung verursacht worden sind, keine angemessenen Kriegsreparationen erhalten hat. Der damalige Ministerpräsident Marek Belka von der linken SLD erklärte das Thema jedoch für rechtlich abgeschlossen. Das Vorgehen des Sejm hing damals auch mit der Befürchtung zusammen, dass mit dem Beitritt zur Europäischen Union und der Bindung Polens an das EU-Recht neue Möglichkeiten für individuelle Entschädigungsansprüche gegen Polen geschaffen würden.

Ich beziehe mich hier auf die Ansprüche von Spätaussiedlern, das heißt von polnischen Staatsbürgern, meist deutscher Nationalität, die seit den 1950er Jahren bis zur Wende in Polen, also bis 1989, nach Westdeutschland oder in die DDR gegangen waren. Sie konnten damals oft nur dann eine Reisepass erhalten und ausreisen, nachdem das Eigentum an den Staat übertragen oder möglicherweise weiterverkauft worden war. In vielen Fällen bedeutete die dauerhafte Ausreise ins Ausland den Verlust der polnischen Staatsbürgerschaft. Die Behörden der Volksrepublik Polen hielten sich damit nicht einmal an das damals geltende Recht. Und das ist die Grundlage für wirksame individuelle Ansprüche. Aber ich betone noch einmal, dass dies eine völlig andere Angelegenheit ist. Eine andere Sache sind die Reparationsforderungen zwischen Staaten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das heißt, die Forderungen nach Reparationen haben eigentlich keine rechtliche Grundlage, sondern sind eher ein politisches Mittel, um innenpolitisch zu punkten und außenpolitisch Druck auf Deutschland auszuüben. Kann man das sagen?

Robert Grzeszczak: Vielleicht sollten wir erst einmal erklären, worum es geht: Reparationen sind zwischenstaatliche Ansprüche auf Ausgleich von Kriegsverlusten und Schäden, die der Aggressor-Staat verursacht hat. Sie sind klar von individuellen Reparationsansprüchen zu trennen. Der Anspruch auf Reparationen verjährt nicht, auch nicht viele Jahrzehnte nach Kriegsende. Die Rede ist von den vermögensrechtlichen Ansprüchen Polens gegenüber Deutschland, die übrigens kürzlich von einem parlamentarischen Sonderausschuss auf mehr als sechs Billionen Złoty im Jahr 2022 geschätzt wurden (Redaktion: etwa 1,3 Billionen Euro, ein Drittel der deutschen Wirtschaftsleistung).

Wie die jüngste Geschichte zeigt, tauchte das Thema Forderungen in der Regel während der Regierungszeit der Partei Recht und Gerechtigkeit auf, also in den Jahren 2005 bis 2007 und nach 2016. Das zeigt, dass dieses Thema immer dann aufkommt, wenn rechtsgerichtete und populistische Parteien die Wahlen gewinnen. Allerdings, und das muss deutlich betont werden, fehlten von Anfang an überzeugenden Argumenten und eine Rechtsgrundlage für solche Forderungen. Das wird daran ersichtlich, dass bisher in dieser Hinsicht nichts unternommen worden ist. Verbindliche politische und rechtliche Entscheidungen wurden bereits vor mehreren Jahrzehnten (in den 1950er Jahren) getroffen. Was wir jetzt haben, ist eine politische Manifestation, die sich an unsere eigenen Wähler richtet und nicht an das Ausland.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie ist dieser Fall aus völkerrechtlicher Sicht zu bewerten?

Robert Grzeszczak: In dieser Hinsicht ist der Fall abgeschlossen. Der Verzicht auf Reparationen durch die Siegerstaaten des Zweiten Weltkriegs lässt sich über zwei Linien hin verfolgen, die so verlaufen, wie damals die politische Landkarte Europas geteilt war. Zunächst waren es die westlichen Staaten, die beschlossen, dass es besser sei, Deutschland als Staat zu restituieren, als es zu besetzen. Die Alliierten verzichteten auf Reparationen an die entstehende Bundesrepublik Deutschland und ergriffen Maßnahmen, die auch nach dem Ersten Weltkrieg gegen deutsches Eigentum angewendet worden waren. Die Ostblockstaaten hingegen stützten die Frage der Reparationen auf die Nichtanerkennung der BRD und auf Lösungen, die faktisch schon geschaffen waren.

Die Westmächte verzichteten auf der Grundlage der Bonn-Paris-Verträge vom 26. Mai 1952 und vom 23. Oktober 1954 zur Regelung von Kriegs- und Besatzungsfragen auf Reparationen aus laufender Produktion. Die Sowjetunion hingegen schuf die Deutsche Demokratische Republik - also „ihr“ Deutschland - und beendete 1953 die Reparationen, von denen sie einen Teil an Polen abtreten sollte, das gemäß des Potsdamer Abkommens Anspruch auf 15 Prozent der Reparationen hatte, die der Sowjetunion zustanden. Am 23. August 1953 erklärte Boleslaw Bierut, der Präsident der Volksrepublik Polen und formell die Regierung des Landes, dass Polen ebenso wie die UdSSR auf seine Ansprüche auf weitere Reparationen gegenüber Deutschland verzichtet und anerkennt, dass diese bereits erfüllt wurden. Diese Rechtskonstruktion, die die Ordnung des Nachkriegseuropas bildete, wurde unter anderem im Dezember 1970 bestätigt, als Deutschland die Oder-Neiße-Grenze anerkannte. Später fand sie sich in den Pariser Verhandlungen über das so genannte 2 plus 4-Abkommen und im Vertrag über gutnachbarliche Beziehungen von 1991 wider.

Aber natürlich lassen sich immer Argumente finden, um frühere Vereinbarungen und Regelungen in Frage zu stellen. Es ist ein bisschen wie in dem Roman „Alice im Wunderland“, als Alice die Grinsekatze trifft. Sie fragt, wo das weiße Kaninchen ist, eine andere Figur. Die Katze gibt keine klaren Antworten, weicht aus und verschwindet schließlich, ohne Alice zu helfen. Ihr charakteristisches Merkmal ist ihr ständiges breites Lächeln. Experten verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen interpretieren diese bekannte Szene der Weltliteratur auf unterschiedliche Weise. Und die Szene lässt sich in gewissem Sinne auch auf die aktuelle Politik übertragen:

Der heutige Anspruch des Jahres 2023 ist wie das Lächeln einer Katze, aber ohne die Katze. Mit anderen Worten, wenn wir uns ansehen, was das polnische Außenministerium in Bezug auf die Verfolgung von Ansprüchen Deutschlands für die Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs getan hat, dann jagen wir eigentlich nur das Kaninchen, aber niemand will es fangen. Das heißt, man spricht das Thema an, aber nicht die Schlussfolgerung. Es geht um die Verfolgung politischer Interessen: es geht darum, die Herzen der polnischen Wähler zu gewinnen. Die Tatsache, dass dieses Thema immer wieder aufgegriffen wird und in der Öffentlichkeit Unterstützung findet, ist jedoch auch das Ergebnis der jahrzehntelangen Vernachlässigung der Bildung, die wir in Polen haben.

Die Polen sind in der Tat von dieser durch und durch populistischen Losung eingenommen: „Wir verdienen eine Sonderbehandlung, zum Beispiel vom reichen Deutschland für Reparationen oder Hilfsgelder von der EU“. Jahrzehntelang lebten wir im Schatten der Sowjetunion, die die Polen verabscheuten; außerdem verglichen wir uns verständlicherweise mit Westdeutschland. Ab den 1990er Jahren, als die DDR nicht mehr existierte, hatten wir dann direkten Kontakt zu Deutschland, das aus unserer Sicht über einen Wohlstand verfügte, den wir auch haben wollten. Wir mussten Armut hinnehmen und wollten so leben wie die Deutschen. Das wird von der Politik geschickt ausgenutzt. Das ist einfach ein Mangel an staatsbürgerlicher Bildung.

Alle Regierenden in Polen - sowohl die SLD als auch die PO und die PiS - haben jahrzehntelang keine gesunde und objektive staatsbürgerliche Bildung geleistet. So ist es leicht, das Volk zu manipulieren. Der Mythos des Zweiten Weltkriegs ist in Polen immer noch unvorstellbar stark. Das sehen wir, wenn wir uns das polnische Kino, die Literatur und allgemein die Kultur der kommunistischen Ära anschauen, die nach wie vor die heutige Wahrnehmung der Vergangenheit stark beeinflussen. Natürlich dürfen die Bedeutung und die Tragödie des Zweiten Weltkriegs sowie die Verantwortung für ihn nicht geschmälert werden. Doch als Jurist beurteile ich die Fakten und die Rechtslage.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Polen ist politisch einer der wichtigsten Partner Deutschlands. Wenn der deutsche Außenminister sein Amt antritt, fährt er erst nach Brüssel, dann nach Polen oder Frankreich. Deutschland ist eigentlich der größte Investor, und der deutsch-polnische Außenhandel trägt ein Viertel zur polnischen Wirtschaft bei. Wir haben eigentlich eine sehr gute Nachbarschaft. Ist es nicht ein bisschen irritierend, dass die Polen immer noch unzufrieden sind?

Robert Grzeszczak: Die Erinnerung daran, wie sehr die Deutschen zum Beispiel Warschau zerstört haben, ist in dieser Stadt noch allgegenwärtig. Zur Veranschaulichung: Ich bin jetzt in Powiśle in der Nähe des Präsidentenpalastes. Wenn ich die 450 Meter zum Palast laufen will, komme ich an mindestens drei Denkmälern vorbei, die an die Nazi-Verbrechen erinnern. Das gibt es hier in Warschau überall.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Politisch hat sich jedoch bereits alles geändert. Unsere Medien berichten, dass sich Polen nun als neues Zentrum Europas sieht. Der Krieg Russlands mit der Ukraine hat die internationale Rolle Polens verändert, schreibt das Portal der ARD. Lange als Problemfall in der EU kritisiert, sieht sich Warschau nun als neues Zentrum Europas. Wie beurteilen Sie das?

Robert Grzeszczak: Ja, es ist richtig, Polen spielt jetzt eine Schlüsselrolle in Europa. Aber diese Position wird sich wahrscheinlich in nächster Zeit ändern, da sie nur aufgrund des Ausbruchs des Krieges in der Ukraine und durch die geografischen Lage Polens entstanden ist. Diese zentrale Stellung und diese Bedeutung ist aber nicht auf die rationale Politik unserer Regierung zurückzuführen. Im Gegenteil, wir haben ständig Konflikte mit der EU, die sich immer weiter verschärfen. Die Regierung verfolgt keine konstruktive Außenpolitik. Deshalb glaube ich, dass dies leider nur eine vorübergehend ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Schauen wir uns nun andere Dinge an, zum Beispiel den Tourismus, der sich derzeit sehr gut entwickelt. Im Februar hat die Hauptstadt Warschau die prestigeträchtige Auszeichnung „European Best Destination 2023“ als beliebtestes und attraktivstes Reiseziel der Welt gewonnen. Mehr als eine halbe Million Besucher aus aller Welt stimmten im Auftrag des Branchenportals in 178 Ländern ab, wohin sie am liebsten reisen würden, und entschieden sich mit überwältigender Mehrheit für Warschau. Wie lange werden das Bedürfnis nach Mythologisieren des Zweiten Weltkriegs und die antideutsche Stimmung in diesem Land noch anhalten?

Robert Grzeszczak: Dies gibt es schon seit Jahrzehnten. Solange wir die Art und Weise der Erziehung nicht ändern, kann dieses Thema wieder aufgewärmt werden. Die Reparationsfrage ist so gesehen Kalter Kaffee, der einfach wieder einmal aufgewärmt worden ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie sollte die deutsche Regierung darauf reagieren?

Robert Grzeszczak: Das Thema Reparationen kommt seit etwa zwei Jahren wieder in aller Schärfe auf den Tisch. Aber, wie ich schon sagte, nicht zum ersten Mal. Und ich glaube, dass die deutsche Regierung die beste Strategie wählt, nämlich nichts oder sehr wenig zu tun. Nichts in den Medien, nichts Offizielles, nichts Lautes, sondern eine abwartende Haltung. Sie reagiert auf die diplomatischen Noten, aber mehr auch nicht. Meiner Meinung nach hat es keinen Sinn, das Thema anzusprechen, denn der Fall ist abgeschlossen, wie die Regierungen Polens und Deutschlands sehr wohl wissen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Haben positive Informationen überhaupt eine Chance, akzeptiert zu werden?

Robert Grzeszczak: Ich habe heute Morgen mit einem ehemaligen Verfassungsrichter aus alten Zeiten gesprochen. Ich habe ihm gesagt, dass ich heute über die Forderungsfrage sprechen werde. Und er sagte, er sei überrascht, dass die Deutschen in Polen überhaupt keine Eigenwerbung machen. Kaum jemand weiß, wie viele Gebäude in Warschau mit Mitteln und Hilfe aus Deutschland renoviert wurden, weil an diesen Orten nur kleine Tafeln darüber Auskunft geben. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, dass Deutschland in Polen aktiver wird und seinen guten Einfluss auf die Wirtschaft Polens zeigt. Denn bisher hat sich die deutsche Politik versteckt, unterstützt - aber irgendwie aus dem Hintergrund heraus. Selbst die Form des deutschen Botschaftsgebäudes in Warschau ist extrem nüchtern, sie zeigt nicht den Wohlstand Deutschlands. Und das war auch gut so. Aber vielleicht ist es an der Zeit, das zu ändern. Vielleicht sollte die Botschaft mehr auf die Menschen zugehen und die konkreten Auswirkungen der guten Beziehungen zu Polen zeigen. Wir haben jetzt ein Bild von Deutschland, das seit 2015 von der Regierung geprägt wird. Jaroslaw Kaczynski versteht die Realitäten der Welt und der internationalen Politik im 21. Jahrhundert einfach nicht und versucht, das Land von einer Hand aus zu lenken, wobei er leider seine persönlichen Ressentiments und Phobien einfließen lässt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Professor, ganz herzlichen Dank für dieses sehr interessante Gespräch.

Zur Person: Robert Grzeszczak ist Professor an der Universität Warschau (UW). Der 49jährige fungiert gleichzeitig als Vorsitzender des Ausschusses für Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften und als Leiter des Zentrums für Studien zum System der Europäischen Union an der UW.


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