Politik

Klimakleber brauchen Staatsbürgerkunde

Lesezeit: 6 min
13.05.2023 09:02  Aktualisiert: 13.05.2023 09:02
DWN-Kolumnist Ronald Barazon bleibt trotz aller Mängel ein Verfechter der Demokratie. Seine Kritik gilt den vermeintlichen Demokraten, die sich gebärden wie Untertanen.
Klimakleber brauchen Staatsbürgerkunde
Polizisten versuchen, Klimakleber mit Speiseöl von der Straße abzulösen. (Foto: dpa)

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Die Verwechslung von Demokratie mit Anarchie ist offenkundig. Vermeintliche Klimaschützer kleben sich auf Hauptstraßen fest und legen den Verkehr lahm, machen nicht einmal Platz für Rettungsfahrzeuge. Jugendliche schwänzen am Freitag die Schule und sind überzeugt, auf diese Weise den Klimawandel zu stoppen und die Menschheit in eine bessere Zukunft zu führen. Andere blockieren Kraftwerke und Fabriken und treiben auf sonstige Weise Allotria in der festen Überzeugung, aktive Demokratie zu leben und die Freiheit der Meinungsäußerung zu nutzen. Diese Phänomene bilden die sichtbare Spitze des weit verbreiteten Mangels an Kenntnissen über das Wesen der Demokratie.

Vermeintliche Demokraten verhalten sich wie Untertanen

Die deutsche Übersetzung des griechischen Wortes Demokratie lautet Herrschaft des Volkes und sagt bereits alles Notwendige. Nur die Realität sieht anders aus: Die meisten Aktivitäten bestehen in einer Forderung, Politiker und Politikerinnen mögen dieses oder jenes tun, bei den genannten Beispielen werden sie aufgefordert, die Klimakrise zu lösen. Ein ähnliches Verhalten ist in allen Bereichen zu beobachten, meist ohne das Bekleben von Straßen, aber der Unterschied ist nicht sehr groß. In Frankreich gehen Millionen auf die Straße und verlangen von den Politikern die Auszahlung nicht finanzierbarer Renten. Und überall erklingt der Schrei nach einer wundersamen Verhinderung der Preissteigerungen durch die Politik. Dieses Verhalten bedeutet übersetzt: Die Herrscher sollen alle Probleme lösen. Das ist ein Denkmuster aus Monarchien und Diktaturen.

„Die da oben“ können keine Wunder wirken. Auch kein „starker Mann“

Diese Einstellung ist nicht erstaunlich. Jahrhunderte wurden die Menschen daran gewöhnt, dass tüchtige Herrscher für ein gutes Leben der Untertanen sorgten, unfähige hingegen eine Zeit der Not zu verantworten hatten, die man allerdings als Bürger und Bürgerin geduldig hinnehmen musste. An diesem Schema hat sich in der vermeintlichen Herrschaft des Volkes wenig geändert. Niemand wird leugnen, dass auch in der Demokratie selbstverständlich tüchtige Damen und Herren in der Regierung hilfreich sind, weniger begabte unweigerlich versagen, wenn es um die Lösung von Problemen geht. Doch dürfte dieser Umstand nicht im Mittelpunkt des politischen Geschehens stehen. Zu analysieren und zu korrigieren ist vielmehr die Einstellung, „die da oben“ mögen Wunder wirken, „man kann als Einzelne, als Einzelner ohnehin nichts bewirken“, es „muss endlich ein starker Mann her, der für Ordnung sorgt“ – nach einer starken Frau wird kaum gerufen – und ähnliches mehr.

Wie eh und je - wir sitzen immer noch in Auerbachs Keller

Noch immer klingt das Zitat aus Auerbachs Keller in Goethes Faust nach: „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch‘ Lied! Ein leidig‘ Lied! Dankt Gott mit jedem Morgen, dass ihr nicht braucht für’s Röm’sche Reich zu sorgen! Ich halt’ es wenigstens für reichlichen Gewinn, dass ich nicht Kaiser oder Kanzler bin.“ Und in abertausenden Gesprächen wird auch heute ständig betont, man sei doch nicht blöd und gehe in die Politik. Um prompt zu erklären, was man alles von der Politik erwarte. Auf diese Weise gehen dem Staat der Einsatz und die Kreativität von Millionen Bürgern verloren. Dabei ist es gar nicht notwendig, dass jeder und jede das Kanzleramt als Ziel der Träume definieren, ein konstruktiver Einsatz in der unmittelbaren Umgebung wäre schon nützlich und würde einen Beitrag zur Entlastung der immer überforderten Politik leisten.

  • Wie viele Bäume haben die Klimakleber schon gepflanzt? An welchen Stränden haben sie sich an der Müllräumung beteiligt? Essen sie wenig Fleisch, um den Sojaverbrauch zu drosseln? Um Flächen für die Sojaproduktion zu gewinnen, werden CO2 speichernde Regenwälder gerodet.

  • Was tun die Konsumenten selbst, um die Inflation zu bekämpfen? Bringen sie mit einem überlegten Konsumverhalten die Preistreiber zur Räson?

  • Franzosen, die eine höhere Lebenserwartung als die meisten anderen Europäer haben, sollen zwei Jahre länger arbeiten und damit immer noch früher in die Rente wechseln als andere. Warum tun sie das nicht von selbst?

Das kostbare Wort „Staatsbürgerkunde“ ist verpönt

Die Politikwissenschaft, die Soziologie und die Psychologie erklären die Hintergründe des problematischen Umgangs der Bevölkerung mit dem Staat und der Gesellschaft, also mit der Res Publica. Ein Punkt, genauer ein Wort, wird allerdings nicht in den Mund genommen, obwohl es eine zentrale Rolle spielen müsste – der Begriff Staatsbürgerkunde. Dieses Wort wurde in der DDR als Bezeichnung der Unterrichtsstunde verwendet, in der die kommunistische Diktatur den Jugendlichen ihre menschenverachtende Ideologie als ideale Staatsform präsentierte. Aus diesem Grund ist der Einsatz dieses Worts heute verpönt, obwohl es genau das Thema anspricht, es geht um Staat, Bürger und Kenntnisse, allerdings in der Demokratie. Nicht nur, dass dieses Wort zum Unwort erklärt wurde, es wird durch einen problematischen Begriff ersetzt.

Das Fach „Politische Bindung“ fristet meist ein peinliches Schattendasein

In den Schulen wird heute „Politische Bildung“ unterrichtet und dieses Fach fristet in Deutschland wie in Österreich ein Schattendasein. Meist handelt es sich nicht einmal um eine eigene Sparte, sondern ist irgendwie der Geschichte oder einem anderen Fach zugeordnet. Auch steht nicht die klare Information über das Funktionieren des demokratischen Staates im Vordergrund. Es werden kaum brauchbare, praktisch anwendbare Antworten auf entscheidende Fragen gegeben, etwa „Wie wird man eigentlich Bundeskanzler?“ oder „Was tut der Bundespräsident?“ Vielmehr stehen die politischen Strömungen im Zentrum, weil man offenbar glaubt, die technischen Details seien ohnehin bekannt. Da geht es dann um Liberalismus, Neo-Liberalismus, Sozialismus, Sozialdemokratie, um links und rechts, um konservativ oder progressiv, um Marktwirtschaft oder staatliche Wirtschaftslenkung und vieles mehr. Ohne jeden Zweifel entscheidende Themen, die den Schülerinnen und Schülern nahegebracht werden müssen.

Ein Pflichtfach, in dem das Funktionieren des Staates unterrichtet wird

Wichtig wäre ein eigenes Fach mit eigenen Stunden und obligatorischen Prüfungen beim Abitur oder der Gesellenprüfung unter der Bezeichnung „Staatsbürgerkunde“. Dort hätten die Jugendlichen zu lernen, wie man beispielsweise Mitglied des lokalen Gemeinderats wird. Ganz banal: Es geht um die Adresse, wo man sich anmelden kann, ab welchem Alter man zugelassen ist, welche Parteien aktiv sind, wie viele Mitglieder der Gemeinderat hat, was der Gemeinderat entscheidet und welche Zuständigkeiten andere Gremien haben. Und weiter im Text: Zu unterrichten wäre, welcher Weg in den Bundestag führt. Auch, dass die Interessenvertretungen ein attraktiver Platz sind, um sich einzubringen. Diese Informationen dürfen nicht mit ideologischen Inhalten und Präferenzen für einzelne Parteien befrachtet werden, sie sind das Rüstzeug, das jeder und jede brauchen, um sich im Gemeinwesen, im Staat in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu engagieren. Leider sind diese Details weithin unbekannt.

Man müsste in Prüfungen nachweisen, dass man die Aufgaben des Parlaments und der Regierung unterscheiden kann und auch weiß, wofür der Bundespräsident zuständig ist. Alle leben in einem Bundesland und so sollten auch die Aufgaben der Regionen klar sein. Unter diesen Voraussetzungen sind der oder die Einzelne leichter unterwegs, um sich politisch zu engagieren. Dabei ist die politische Ausrichtung Nebensache, es geht um die selbstverständliche Kenntnis der demokratischen Einrichtungen.

Politische Arbeit ist mühsamer als die meisten anderen Tätigkeiten

Politik besteht aus Widerspruch. Auch dieser Umstand müsste in „Staatsbürgerkunde“ gelehrt werden, ohne jede ideologische Befrachtung des Themas. Der Widerspruch ist zur Kenntnis zu nehmen, die Vertreter anderer Positionen sind zu respektieren. Die politische Arbeit besteht in der Verteidigung der eigenen Argumente, im Bemühen, die Menschen und die Gegner zu überzeugen, aber dabei stets auch die Opposition zu achten und den Minderheiten eine Vertretung im Staat zu sichern. Es gibt hierfür keine bessere Formulierung als jene des französischen Philosophen Voltaire. „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen!“ Politische Arbeit ist mühsam und mühsamer als viele andere Tätigkeiten. Dass da Viele sagen „Ich bin doch nicht blöd, das tue ich mir nicht an“, ist nachvollziehbar, trägt aber zum Untergang der Demokratie bei.

Die Demokratie ist die einzige Staatsform, in der die Freiheit der Einzelnen gesichert ist

Im leider derzeit kaum existierenden Fach „Staatsbürgerkunde“ wäre den Jugendlichen klar zu machen, dass die Demokratie die einzige Staatsform ist, in der verschiedene politische Richtungen sich entwickeln und entfalten können. Aufzuzeigen ist, dass jede Gruppierung letztlich überzeugt ist, die beste Regierungsform zu vertreten und daher ihr Verständnis von „Wahrheit“ durchsetzen möchte. Genau diese Überzeugung ist gleichbedeutend mit der Unterdrückung der Anderen, die in einer Demokratie verhindert wird. Ohne dieses Korrektiv kommt es zur Diktatur, in der die Vertreter einer anderen „Wahrheit“ als jene der Herrschenden im Gefängnis landen. „Staatsbürgerkunde“ ist neutral, ohne Bevorzugung einer Partei zu vermitteln, allerdings muss bei den Jugendlichen das Sensorium für die Gefahr geschärft werden, die von politischen Strömungen ausgeht, die die Demokratie in Frage stellen.

Jeder und jede entwickeln irgendwann politische Interessen und jeder und jede sind dann ohne Demokratie in ihrer persönlichen Existenz bedroht. Das Thema betrifft also alle. Das Bewusstsein dieser Gefahr ist im heutigen Westeuropa nach den vielen Jahrzehnten des Lebens in Freiheit und Demokratie kaum präsent. Man nimmt die Freiheit als gegeben an, glaubt, sich jede politische Kapriole erlauben zu können und sieht nicht, dass die Demokratie ein kostbares, aber heikles Gut ist, auf das mit großem Einsatz geachtet werden muss. Eine heute betriebene Staatsbürgerkunde würde zur Verhinderung von Diktaturen in der Zukunft beitragen.

Ein kluges Sprichwort bringt diesen Aspekt auf den Punkt: „Wenn Du Dich nicht um die Politik kümmerst, dann kümmert sich die Politik irgendwann um Dich!“ Dieser Spruch stammt paradoxer Weise aus Russland, wo seit Jahrhunderten Diktaturen regieren und nach dem kurzen Aufflackern der Demokratie im Gefolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion nun wieder alle Kritiker des Regimes im Gefängnis landen. Es ist in den wenigen Jahren der Freiheit nicht gelungen, diese Freiheit zu festigen und zu sichern, man glaubte plötzlich sich alles erlauben zu können, landete prompt im Chaos, das die Rückkehr zur Diktatur begünstigte.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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