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DWN-Exklusiv-Interview: Sterberisiko Armut

Lesezeit: 8 min
29.05.2023 08:57  Aktualisiert: 29.05.2023 08:57
Wer arm ist, muss in der Regel früher sterben. Das liegt nicht allein an schlechterer Ernährung oder schlechterer medizinischer Versorgung. Andere Faktoren spielen hierbei eine größere Rolle. Darüber sprachen wir mit dem Vorsitzenden des Paritätischen Gesamtverbandes, Prof. Dr. Rolf Rosenbrock.
DWN-Exklusiv-Interview: Sterberisiko Armut
Foto: Kay Nietfeld

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Info zur Person: Prof. Dr. Rolf Rosenbrock ist Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband e.V. Von 1988 bis 2022 war er Leiter der Forschungsgruppe „Public Health" im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin und von 2010-2015 Mitglied der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO). Seine Forschungsschwerpunkte waren und sind u. a. Ökonomie und Politik der gesundheitlichen Versorgung, sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen sowie Prävention und Gesundheitsförderung.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Stimmt es, dass Menschen im schottischen Glasgow eine um 28 Jahre geringere Lebenserwartung haben, wenn sie in den ärmsten Stadtvierteln leben, verglichen mit denen, die in den reichsten Vierteln leben?

Rolf Rosenbrock: Die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2019 und sind, zumindest für dieses Jahr, korrekt. Sie stammen von dem britischen Gesundheitswissenschaftler Richard Wilkinson, einem der weltweit renommiertesten Experten zum Thema soziale Ungleichheit. Allerdings ist das Glasgower Beispiel auch extrem. In Deutschland ist die Lage nicht ganz so dramatisch, aber auch hier besorgniserregend. Hier sterben - nach Angaben des Robert Koch Instituts - Menschen, deren Bezüge sich im unteren Sechstel der Einkommensskala bewegen, im Schnitt fast zehn Jahre früher als die, deren Bezüge sich im oberen Sechstel der Einkommensskala befinden. Dabei ist die Diskrepanz bei Männern höher als bei Frauen. Ärmere Männer haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 71 Jahren, reichere von 80 Jahren. Bei den Frauen sind es, respektive, 75 und 82 Jahre.

Aber nicht nur sterben ärmere Menschen früher als reichere, sie werden auch öfter und früher von chronischen Krankheiten geplagt. Die setzen bei den Ärmeren im Schnitt schon im Alter von 58 Jahren ein, während es das oberste Sechstel erst mit 70 Jahren trifft. Auch hier gilt: Männer sind davon jeweils früher betroffen als Frauen. Aber auch schon bei Kindern geht die Schere auseinander. 3 - 17jährige aus ärmeren Haushalten haben im Schnitt dreimal häufiger schlechtere Gesundheitswerte verglichen mit Gleichaltrigen, die in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwachsen. Bei psychischen Auffälligkeiten ist der Unterschied sogar noch größer: Die zeigen 37,5 % der Kinder und Jugendlichen, die aus wirtschaftlich und sozial benachteiligten Haushalten stammen. Am anderen Ende der sozialen Leiter sieht es, auch was das anbelangt, um einiges besser aus. Hier sind in der gleichen Altersgruppe 11,5 % betroffen. Schlimm genug, doch deutlich weniger dramatisch. Die Karten sind eben von Anfang an ungleich verteilt - und daran ändert sich in der Regel im Verlauf eines Lebens auch nicht viel.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Aus welchen Gründen genau sterben ärmere Menschen früher als reichere?

Rolf Rosenbrock: Einige Punkte liegen ja auf der Hand. Zum einen ernähren sich ärmere Menschen weniger gut, das hat kulturelle und materielle Gründe: Großeinkäufe in einem Bio-Supermarkt können sie sich schlicht nicht leisten. Menschen aus unteren Sozialschichten rauchen auch mehr. Und natürlich ist auch deren medizinische Versorgung in manchen Fällen nicht ganz so gut wie die derjenigen, die sich eine Private Krankenversicherung mit Chefarztbehandlung leisten können. Allerdings wird der Einfluss der medizinischen Versorgung auf die Entwicklung der Lebenserwartung und der Ungleichheit regelmäßig überschätzt, vor allem dank des in Deutschland hohen Niveaus der Versorgung durch die GKV: die durchschnittliche Lebenserwartung steigt pro Jahrzehnt um ein bis zwei Jahre; lediglich ca. ein Drittel dieser Gesundheitsgewinne erklärt sich durch Verbesserungen der Versorgung und Fortschritte der Medizin. Andere Faktoren haben in der Summe ein sehr viel höheres Gewicht: So sind in der Regel die schlechter bezahlten Jobs gesundheitlich auch belastender. Auch die Wohnsituation spielt eine Rolle. Lebe ich in einer beengten Wohnung, an einer stark befahrenen Straße mit viel Lärm und hoher Feinstaubbelastung? Oder habe ich eine Villa im Grünen, wo ich morgens vom Zwitschern der Vögel geweckt werde - und nicht von einem LKW, der mit seinem Anhänger über den Asphalt donnert? All diese Faktoren zusammengerechnet machen etwa 50% der Gründe dafür aus, dass ärmere Menschen früher sterben als reiche.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Jetzt sind wir aber gespannt auf die restlichen 50%.

Rolf Rosenbrock: Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es der Mangel an Teilhabe ist – an erlebter selbstbestimmter Gestaltung des eigenen Lebens, an Anerkennung, Reputation aber natürlich auch am Konsum. Das führt dazu, dass die vier psychosozialen Kräfte, die uns gesund erhalten und weniger anfällig für Krankheiten machen, bei ärmeren Menschen im Durchschnitt deutlich schwächer ausgeprägt sind. Zudem trägt dieser Zusammenhang zwischen Teilhabemöglichkeiten und Resilienzkräften dazu bei, dass es so schwer ist, aus dem Teufelskreislauf aus Armut und armutsbedingter Krankheit auszubrechen. Diese vier Gründe sind erstens das Selbstwertgefühl, zweitens die Sicherheit, etwas bewirken zu können – alein oder mit anderen. Drittens tragfähige, auf Gegenseitigkeit gegründete soziale Netzwerke, und viertens die Frage, ob jemand in seinem Leben einen tieferen Sinn erkennt oder - um es weniger philosophisch auszudrücken - ob jemand weiß, was er will und eine Vorstellung davon hat, wie er seine Ziele erreichen kann.

Lassen Sie mich das näher ausführen: Unser Selbstwertgefühl wird von unserer Kindheit an durch äußere Faktoren stark beeinflusst und das hängt natürlich auch viel von der Familie ab. Kann die dem Kind die nötige Liebe geben, die es für eine gesunde Entwicklung braucht? Aber zur Ausbildung eines Selbstwertgefühls gehören eben auch andere Faktoren, etwa ob jemand ein eigenverantwortliches und zielgerichtetes Leben führen kann. Und da liegt es auf der Hand, dass starke ökonomische Einschränkungen dem im Wege stehen. Zumal, wenn durch die Inanspruchnahme von Sozialleistungen wie etwa Hartz 4 das Gefühl hinzukommt, nicht selbst über das eigene Schicksal bestimmen zu können, ständig unter sozialer Kontrolle zu stehen. Dass die Atmosphäre auf einigen Behörden diesen Eindruck zuweilen weiter verstärkt, kommt erschwerend hinzu. Und wer sich wirtschaftlich und psychisch in einer derart beengten Lage wiederfindet, wird es umso schwerer haben, sich als jemanden zu erleben, der etwas bewirken und verändern kann. Dabei möchte ich betonen, dass Arbeit und Beruf in unserer Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert haben und sich durch Spaziergänge im Wald oder Meditationsübungen nicht wirklich kompensieren lassen. Es geht den wenigsten darum, irgendwie Zeit zu verbringen, sondern einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Das Wort Beruf legt zudem nahe, dass man darin seine „Berufung“ finden möchte, und je näher jemand diesem Ideal kommt, desto besser ist es potentiell auch für dessen Gesundheit. Stress entsteht in der Regel auch nicht durch ein Zuviel an Arbeit an sich, sondern durch ein Zuviel an Arbeit, die als mehr oder weniger sinnlos empfunden wird.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Allerdings kann nicht jeder Opernsänger oder Filmregisseur werden. Das gelingt auch den Menschen im oberen Sechstel der Einkommensskala nicht immer.

Rolf Rosenbrock: Natürlich nicht. Es geht hier ja auch um die Ausgangsbedingungen für den Start in ein selbsterfülltes Leben und die sind - rein statistisch betrachtet - für den ärmeren Teil der Bevölkerung einfach schlechter. Aber wenn Sie Ihre Arbeit lieben, können Sie als Pflegekraft oder an der Supermarktkasse damit genauso zufrieden sein wie in jedem anderen Beruf auch. Dabei geht es allerdings darum, die Dinge selbstbestimmt zu tun und wirtschaftlich autark zu sein. Ist dies nicht der Fall, wirkt sich das potentiell schlecht auf die Gesundheit aus.

Auch die sozialen Netzwerke spielen eine entscheidende Rolle. Arbeitslosigkeit und finanzielle Not können das Familienleben belasten und das führt zu zusätzlichem Stress - was wiederum nicht gut für die Gesundheit ist. Und Freunde, die nicht nur ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte haben, sondern notfalls auch mal bei der einen oder anderen Arbeitsvermittlung weiterhelfen können, können dazu beitragen, dass man sich sicherer fühlt. Genauso wichtig wie Hilfe ist übrigens, dass man das Gefühl hat, gebraucht zu werden. Wer zu den oberen Gesellschaftsschichten gehört, kommt schon irgendwie weiter, oder zumindest unter und muss nicht zum Sozialamt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das berühmte Vitamin B.

Rolf Rosenbrock: Nicht nur, aber auch. Ein entscheidender Aspekt kommt noch hinzu: Wer von klein auf immer gezeigt bekommen hat, dass er toll und besonders schlau sei, der hält sich auch dafür. Untersuchungen haben gezeigt, dass Schüler, die viel Lob erhielten, allein dadurch in anschließenden Tests besser abschnitten als solche, denen vermittelt worden war, sie könnten nichts. Das hatte diese zweite Gruppe tatsächlich soweit konditioniert, dass sie in ihrem Leistungsniveau abfielen. Und das hatte weniger mit ihrem IQ oder ihrem Fleiß zu tun als vielmehr mit ihrer Erwartungshaltung. Wer sich dann irgendwann selbst damit abfindet, dass er nichts „Großes“ im Leben erreichen wird und sich deswegen mehr oder weniger freiwillig im unteren Sechstel der Einkommensskala einsortiert, verzichtet damit oft darauf, in ihm sicher schlummernde Potentiale wach zu küssen. Und das ist, wie wir gesehen haben, alles andere als gesundheitsfördernd. Sie sehen also, dass hier ein ganzer Strauß an Faktoren, die oft ungünstig miteinander verwoben sind, die soziale Stellung und damit auch indirekt die Gesundheit der Betroffenen mit bedingen. Das Psychische und das Soziale stellen hierbei übergeordnete Ebenen dar und wirken auf das Physisch-Körperliche ein, mit anderen Worten auf das Wohlergehen und die Gesundheit der Menschen. Chefarztbehandlung und gute Ernährung stellen also, so wichtig sie sein mögen, nur zwei Säulen der Gesundheit dar. Die anderen Punkte müssen wir aber dringend berücksichtigen, wollen wir dem Problem einer höheren Sterblichkeit in den ärmeren Bevölkerungsschichten wirksam begegnen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie könnte das gehen?

Rolf Rosenbrock: Das ist natürlich eine gewaltige Herausforderung. Und, dies sei vorausgeschickt, es gibt keine großen Lösungen, vielmehr sind es unendlich viele kleine Schräubchen, an denen man drehen muss. Entscheidend scheint mir aber zu sein, dass sich die Leute ihrer eigenen Kraft und ihrer eigenen Kreativität bewusstwerden, dabei können wir sie zum Beispiel unterstützen. Als hilfreich erweist es sich beispielsweise immer wieder, wenn Menschen in Entscheidungen eingebunden werden, wenn sie merken, dass ihre Stimme zählt, dass sie etwas bewirken können, etwa, wenn es um Entscheidungen am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft geht, im Kiez, in der Schule etwa um den Bau eines neuen Spielplatzes oder die Organisation eines Straßenfestes. Und vor allem sollten wir uns mehr um die Kinder kümmern. Wenn sie anregende Erfahrungen machen, ein Instrument lernen, mal verreisen können, macht man ihnen ein großartiges Geschenk. Bei Kindern fällt so etwas auf fruchtbaren Boden und wird sich positiv auf den weiteren Verlauf ihres Lebens auswirken.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Musikschule und Klassenfahrten für alle? Wer soll das bezahlen?

Rolf Rosenbrock: Diese neoliberale Ausdrucksweise, die Sie hier bemühen, offenbart ein grundsätzliches Missverständnis. Denn wenn wir in das Wohlergehen der Kinder - und natürlich auch insgesamt in das der unteren Einkommensschichten - investieren, erhöht das die gesamtgesellschaftlichen Kosten keineswegs. Ganz im Gegenteil: Sie würden mittel- bis langfristig erheblich sinken. Denn ein erfüllteres Leben führt natürlich auch zu mehr Gesundheit und damit automatisch zu höherer Produktivität und geringeren Kosten für Krankenversorgung. Sind die Menschen beispielsweise mit ihrer Arbeit zufrieden, liegt die Arbeitsunfähigkeit um 30% niedriger - gut für die Betriebe und das Sozialversicherungssystem. Aber nicht nur das: Ein größerer sozialer Ausgleich wirkt sich auch positiv auf die Gesundheit der Reichen aus. Zwar leben Reiche auf der Welt überall länger als Arme. Insgesamt kann man aber sagen, dass es bei der Frage, wie gesund eine Bevölkerung ist - und damit sind hier ausdrücklich auch die Reichen gemeint - weniger darauf ankommt, wie hoch das durchschnittliche Prokopfeinkommen in einem jeweiligen Land ist, sondern darauf, wie gleich oder ungleich die Einkommen verteilt sind. Denn soziale Spannungen, Misstrauen und Kriminalität wirken sich auch auf diejenigen aus, die zwar nicht direkt, aber eben doch indirekt, davon betroffen sind. Auch wenn Sie sich in Mexiko in einer „Gated Community“ verschanzen und dort sicher wähnen oder in Sao Paolo mit dem Hubschrauber von Hochhausdach zu Hochhausdach fliegen, um den Gangs zu entgehen, die in den Straßenschluchten auf Sie lauern mögen, führt das doch zu einer latenten Daueranspannung und damit zu potentiellen Gesundheitseinbußen.

Das können Sie anhand des sogenannten Gini-Koeffizienten, dem Maß für Ungleichverteilungen in einer Gesellschaft, leicht erkennen: Japan steht hier besser da als Großbritannien - eingangs hatten Sie ja das Glasgower Beispiel erwähnt - Schweden besser als Portugal. Und in den USA, einem der reichsten Länder der Welt, scheint die durchschnittliche Lebenserwartung derzeit sogar absolut zu sinken. Und die Vermutung liegt nahe, dass dies eine Folge der dort steigenden sozialen Ungleichheit ist.


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