Politik

Nur 719 Festnahmen: Frankreichs Innenminister spricht von „ruhigerer Nacht“

Lesezeit: 3 min
02.07.2023 12:10  Aktualisiert: 02.07.2023 12:10
In der fünften Nacht in Folge kam es in französischen Städten zu schweren Ausschreitungen. Allerdings war es laut Innenministerium „ruhiger“ als in den Nächten zuvor. Nur 719 Menschen wurden festgenommen.
Nur 719 Festnahmen: Frankreichs Innenminister spricht von „ruhigerer Nacht“
Das Rathaus des Pariser Vororts L'haÿ-Les-Roses wird nach versuchten Angriffen mit Stacheldraht geschützt. (Foto: dpa)

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

In Frankreich hat es auch in der Nacht zum Sonntag Ausschreitungen gegeben, allerdings sind sie laut Regierung weniger massiv ausgefallen als in den Nächten zuvor. "Ruhigere Nacht dank des entschlossenen Vorgehens der Polizei", schrieb Innenminister Gérald Darmanin am Sonntag auf Twitter. Vor allem in der Region Paris und in Marseille kam es die fünfte Nacht in Folge zu Krawallen. Laut Innenministerium wurden 719 Menschen festgenommen - deutlich weniger als die 1311 in der Nacht zu Samstag.

Ausgelöst wurden die Krawalle durch den Tod eines 17-Jährigen nordafrikanischer Abstammung, der am Dienstag von einem Polizisten bei einer Verkehrskontrolle erschossen worden war. Nahel M. wurde am Samstag in Nanterre, einem Vorort von Paris, beigesetzt. Hunderte Menschen nahmen am Gottesdienst in der Moschee von Nanterre teil. Wegen der Unruhen hat Präsident Emmanuel Macron am Samstag kurzfristig seinen Deutschland-Besuch abgesagt, der an diesem Sonntag beginnen sollte.

"45.000 Polizisten und Tausende Feuerwehrleute wurden mobilisiert, um die Ordnung durchzusetzen", erklärte das Innenministerium auf Twitter. "Ihr Einsatz ... sorgte für eine ruhigere Nacht." In Marseille, Lyon und Grenoble wurden die Sicherheitskräfte verstärkt. Örtliche Behörden im gesamten Land hatten Demonstrationen verboten und angeordnet, dass die öffentlichen Verkehrsmittel am Abend nicht mehr fahren dürfen.

GRÖSSTER KRISENHERD IST MARSEILLE

Dennoch kam es in einigen Orten zu teils massiven Gewaltausbrüchen. Der größte Krisenherd war in der Nacht Marseille im Süden Frankreichs. In der Innenstadt kam es zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei, die Tränengas einsetzte. Etliche Menschen versuchten, Geschäfte zu plündern. In Frankreichs zweitgrößter Stadt leben zahlreiche Menschen nordafrikanischer Herkunft - wie der in Nanterre erschossene Nahel M., der marokkanische und algerische Wurzeln hat. Auch in Nizza sowie in Straßburg kam es vereinzelt zu Zusammenstößen.

In Paris hatten sich am Samstagabend in der Nähe der Prachtstraße Champs-Elysées zahlreiche überwiegend junge Menschen versammelt. Ihnen stand ein Großaufgebot der Polizei gegenüber. Zahlreiche Geschäfte hatten ihre Schaufenster mit Brettern vernagelt, um Zerstörungen und Plünderungen zu verhindern. Vereinzelt kam es zu Zusammenstößen zwischen Protestierenden und der Polizei. Nach deren Angaben wurden in der Nacht zum Sonntag sechs öffentliche Gebäude beschädigt und fünf Polizisten verletzt. Allein in der Hauptstadt gab es demnach 315 Festnahmen.

HAUS DES BÜRGERMEISTERS VON STADT BEI PARIS ATTACKIERT

Im Außenbezirk von Paris wurde in der Stadt L’Haÿ-les-Roses das Haus des Bürgermeisters, Vincent Jeanbrun, angegriffen. Aus seinem Umfeld hieß es, in der Nacht seien mehrere Personen mit einem Fahrzeug gewaltsam durch das Tor des Hauses eingedrungen. Sie hätten dieses Auto und das des Bürgermeisters sowie Mülleimer in Brand gesteckt. Es gelang den Eindringlingen demnach nicht, das Haus zu betreten, aber sie seien der Frau und den beiden fünf und sieben Jahre alten Kindern des Bürgermeisters in ihren Garten hinter dem Haus gefolgt. Die Familie habe sich auf das Nachbargrundstück retten können. Seine Frau und eines seiner Kinder hätten sich dabei verletzt, schrieb Jeanbrun auf Twitter. "Um 01.30 Uhr, als ich wie in den beiden Nächten zuvor im Rathaus war, überfielen die Leute mein Haus und legten dann ein Feuer, um mein Haus, in dem meine Frau und meine beiden kleinen Kinder schliefen, in Brand zu stecken." Laut Staatsanwaltschaft wurde eine Ermittlung wegen versuchten Mordes eingeleitet, bislang seien keine Verdächtigen festgenommen worden. In der im Département Val-de-Marne gelegenen Stadt war es auch in den vergangenen Nächten zu Krawallen gekommen.

URSACHEN DER UNRUHEN SEIT LANGEM BEKANNT

Der Gewaltausbruch hat Präsident Macron und seine Regierung in die schwerste Krise seit Beginn der Gelbwesten-Proteste im Jahr 2018 gestürzt. Um sich darum zu kümmern, sagte Macron seinen Deutschland-Besuch ab. Er habe mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier telefoniert und diesen über die Situation in seinem Land unterrichtet, sagte eine Sprecherin Steinmeiers am Samstag. "Präsident Macron hat darum gebeten, den geplanten Staatsbesuch in Deutschland zu verschieben."

Die Ursachen für den Gewaltausbruch reichen weit zurück, die Probleme der Banlieus sind seit langem bekannt. Viele Menschen aus armen Stadtvierteln und tristen Arbeiter-Vorstädten, in denen Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft leben, fühlen sich benachteiligt und von der Regierung vernachlässigt. Sie beklagen mangelnde Perspektiven. Es herrschen Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Seit Jahren häufen sich zudem Beschwerden über Polizeigewalt und Rassismus.

Bei den seit Tagen andauernden Krawallen ist erheblicher Sachschaden entstanden. Finanzminister Bruno Le Maire gab am Samstag bekannt, seit Dienstag seien mehr als 700 Läden, Supermärkte, Restaurants und Bankfilialen geplündert oder sogar zerstört worden.

Die Krawalle erinnern an die Straßenschlachten im Jahr 2005, die drei Wochen lang dauerten. Damals hatten sich in Paris zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorenhäuschen versteckt und kamen durch Stromschlag ums Leben. Präsident Jacques Chirac sah sich seinerzeit gezwungen, den Ausnahmezustand zu verhängen. Zu diesem Mittel hat Macron bislang nicht gegriffen. Ausgeschlossen hat dies sein Innenminister allerdings nicht. (Reuters)


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Yulin Delegation - Erfolgreich veranstaltetes Wirtschafts- und Handelsaustauschtreffen in Berlin

Am 25. April 2024 organisierte eine Delegation aus der chinesischen Stadt Yulin ein erfolgreiches Wirtschafts- und Handelsaustauschtreffen...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Elektroauto-Krise schwächt deutsche Autokonzerne kaum - bisher
28.04.2024

Trotz der Marktflaute bei E-Autos und der schwachen Nachfrage in Deutschland erwirtschaften Volkswagen und BMW tolle Gewinne. Bei anderen...

DWN
Technologie
Technologie Neurotechnologie und Transhumanismus: Fortschritt, Chancen und Herausforderungen
28.04.2024

Wie sind die aktuellen Trends und potenziellen Auswirkungen von Neurotechnologie? Neben der Künstlichen Intelligenz entwickelt sich dieser...

DWN
Panorama
Panorama Neue Regelungen im Mai: Ticketsteuer, Biosprit und Autokauf
28.04.2024

Der Mai bringt frische Regulierungen und Veränderungen in verschiedenen Bereichen: Flugtickets könnten teurer werden, Autofahrer können...

DWN
Finanzen
Finanzen Welche Anlagestrategie an der Börse passt zu mir?
28.04.2024

Wenn Sie sich im Dschungel der Anlageoptionen verirren, kann die Wahl der richtigen Strategie eine Herausforderung sein. Dieser Artikel...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Ressource Nummer 1 auf unserem blauen Planeten – das Geschäft um Trinkwasser
28.04.2024

Lange war es eine Selbstverständlichkeit, dass es genug Wasser gibt auf der Welt. Und bei uns ist das ja auch ganz einfach: Hahn aufdrehen...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Konfliktlösung ohne Gericht: Verbraucherschlichtung als Chance für Ihr Business
27.04.2024

Verabschieden Sie sich von langwierigen Gerichtsverfahren! Mit dem Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) senken Sie Ihre Kosten,...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Krieg in der Ukraine: So ist die Lage
27.04.2024

Wegen Waffenknappheit setzt der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, auf Ausbau der heimischen Rüstungsindustrie, um sein Land...

DWN
Finanzen
Finanzen Hohes Shiller-KGV: Sind die Aktienmärkte überbewertet?
27.04.2024

Bestimmte Welt-Aktienmärkte sind derzeit sehr teuer. Diese sind auch in Indizes wie dem MSCI World hoch gewichtet. Manche Experten sehen...