Politik

Die innere Logik des Stellungskriegs in der Ukraine

Lesezeit: 7 min
29.07.2023 09:30  Aktualisiert: 29.07.2023 09:30
In der Ukraine versuchen beide Seiten verzweifelt, vom Stellungskrieg in einen Bewegungskrieg zu wechseln, in dem sie den Gegner vor sich hertreiben könnten. Die Situation ähnelt dem Ersten Weltkrieg.

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Die Konfrontation zwischen der russischen und der ukrainischen Armee ist in einem Stellungskrieg erstarrt, aus dem beide verzweifelt versuchen, in einen Bewegungskrieg zu wechseln, in dem sie den Gegner vor sich hertreiben könnten. Das dürfte kaum gelingen, da die Erstarrung der inneren Logik dieses Krieges entspricht. Nicht zufällig erinnert die Situation an den Ersten Weltkrieg und die damalige Front zwischen Frankreich und Deutschland, als immer wieder auf beiden Seiten tausende Soldaten sterben mussten, um einige wenige Meter Land einer unwirtlichen Gegend in Nordostfrankreich zu erobern, die meist nur wenige Tage gehalten werden konnten.

Die historische Betrachtung des Krieges 1914-1918 ist mit mehr als hundert Jahren Abstand naturgemäß leichter als eine distanzierte Analyse des aktuellen Krieges. Was in der Ukraine derzeit geschieht, entspricht paradoxer Weise den Bestrebungen aller ukrainischen Regierungen seit dem Ende des letzten sowjetisch geprägten Regimes im Jahr 2004 und der „orangen Revolution“. Ein Kabinett nach dem anderen, ein Präsident nach dem anderen formulierte die immer gleiche Perspektive für die Zukunft des Landes. Man wollte Geld von der Europäischen Union und eine militärische Unterstützung von der NATO in einer Auseinandersetzung mit Russland: Die frühere Besatzungsmacht Russland wurde immer wieder scharf kritisiert und als ständige Bedrohung bezeichnet, gegen die man sich wehren müsse.

Man erinnerte an die Massenmorde unter Stalin und wollte die Anerkennung der Hungersnot 1931 bis 1933 als Völkermord. Stalin hatte in jedem Bezirk wahllos eine bestimmte Anzahl von Personen ermorden lassen, um den Widerstand der Bevölkerung zu brechen. Die Agrarreform vernichtete die selbstständigen Bauernhöfe und erzwang die Kollektivierung der Landwirtschaft in Kolchosen mit dem Ergebnis, dass die Produktion zusammenbrach und eine Hungersnot entstand, die Millionen tötete. Insgesamt hat Stalins Politik den Tod von etwa sechs Millionen Ukrainern verursacht. Der Schrei nach Rache ist neunzig Jahre später und nach dem Überfall der russischen Armee im Februar des Vorjahres aktueller denn je.

Der tief in allen ukrainischen Familien sitzende Zorn ist ein entscheidender Faktor. Doch ist mit dem Hass der Ukrainer gegen Russland der Stellungskrieg allein noch nicht erklärt. Die Verbissenheit, mit der dem Vorstoß der Russen begegnet wird, ist durch die Geschichte verständlich. An manchen Tagen, in diesem schon siebzehn Monate andauernden Krieg konnte man in Kiew sogar hoffen, dass die Rechnung aufgehen werde und man mit Hilfe des Westens die eigenen Rachegelüste befriedigen und die russische Armee bezwingen könne. Derzeit stockt die mit Hilfe von NATO-Waffen versuchte Gegenoffensive –im Stellungskrieg.

Dass Russland tausende Opfer in Kauf nimmt, um die Ukraine zu unterwerfen, ist emotional in der Bevölkerung nicht abgesichert. Der Betreiber des Krieges, Präsident Wladimir Putin, nimmt sogar einen weit verbreiteten Ärger über den Krieg in Kauf, der seine Beliebtheitswerte deutlich fallen lässt. Das dürfte den bellikösen Präsidenten wundern, konnte er doch 2014 mit der Annexion der Halbinsel Krim sogar eine Welle der nationalen Begeisterung auslösen.

Bei näherer Betrachtung zeigt nicht nur das Phänomen des Stellungskriegs eine Parallele zum Ersten Weltkrieg. Für Frankreich war seit Jahrhunderten der Besitz des linken,westlichren Rheinufers ein nationales Anliegen. Als nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 Elsaß-Lothringen an Deutschland abgetreten werden musste, wurde dies zu einer nationalen Wunde, die Staatspräsident Raymond Poincaré im Krieg 1914-1918 schließen wollte. Doch für Kaiser Wilhelm II und den deutschen Oberkommandierenden Paul von Hindenburg kam eine Rückgabe des linken Rheinufers nicht in Frage. Zum Vergleich: Für russische Nationalisten ist der Osten der Ukraine ab dem linken, östlichen Ufer des nach Süden fließenden Dnjepr bis zur russischen Grenze „Kleinrussland“ und somit ein Teil Russlands. Dass Kiew die Hauptstadt eines souveränen Nachbarstaats sein soll, ist für überzeugte Russen nicht akzeptabel, da die Geschichte Russlands mit dem Kiewer Rus und Kiew als erster Hauptstadt um 900 begonnen hat. Für Ukrainische Nationalisten ist der Osten des Landes, das linke Ufer des Dnjepr selbstverständlich ein Teil des nationalen Territoriums, das unter keinen Umständen an Russland fallen soll.

Blickt man etwas distanziert auf das Geschehen zwischen Kiew und der ukrainisch-russischen Grenze, so kann man sich leicht vorstellen, dass in einigen Jahrzehnten die beiden Feinde entdecken werden, dass sie Brüdervölker sind und gerne die nach 1945 entwickelte deutsch-französische Freundschaft als Vorbild annehmen werden. Womit dann niemand verstehen wird, warum im Sommer 2023 hunderttausende wegen ein paar Meter Land sterben mussten, wie auch heute niemand begreift, warum im September 1914 in Ostfrankreich tausende elend krepieren mussten, um dem Erzfeind ein paar Meter abzuringen.

Muss wieder gewartet werden, bis ein Charles de Gaulle und ein Konrad Adenauer fünfzig Jahre nach dem Blutbad an der Marne im Jänner 1963 die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich begruben. Sollte sich die Entwicklung nicht beschleunigen lassen, so wird es wohl 2073 werden bis an den Ufern des Dnjepr Frieden einzieht. Die Herren Selenskij und Putin könnten jetzt erste Vorarbeiten leisten. Sie dürften allerdings so wenig zueinander finden wie einst Poincaré und Hindenburg.

Der Triumph des „großer-Bruder-Syndroms“

Die aktuelle Militärpolitik wird weltweit von einem Irrtum beherrscht, der bereits in der Vergangenheit zu folgenschweren Fehleinschätzungen geführt hat. Man glaubt, durch Aufrüstung bereits den nächsten Sieg sicher gewonnen zu haben. Offensichtlich wird das Geschehen im Boxring oder anderen Sportplätzen auf das Militär projiziert. Man braucht nur einen Starken oder mehrere Kraftprotze und schon ist man sicher, dass die eigene Mannschaft den Ring triumphierend verlassen werde.

Dieser falschen Logik ist vor allem Putin erlegen. Er hat geglaubt, dass durch die seit zwanzig Jahren betriebene, umfangreiche Aufrüstung der russischen Armee der Überfall auf die Ukraine ein vergnüglicher Fitness-Lauf wird. Unvergessen ist sein Ausspruch, wenn ich will, bin ich in zwei Stunden in Kiew. Die zwei Stunden dauern jetzt schon siebzehn Monate.

Paradoxer Weise beging Selenskij den gleichen Fehler. Für ihn galt und gilt die NATO als die dominante, unbesiegbare Militärmacht auf dem Globus. Wenn es gelingt, die Unterstützung dieses Giganten zu bekommen, dann könne dem kleinen David Ukraine im Kampf gegen den Riesen Russland nichts passieren. Es gab zwar viele Freundschaftserklärungen, die Ukraine wurde aber nicht Mitglied der NATO und so konnte Selenskij die Militärallianz nicht in den Krieg zerren und als Mitglied den Beistand aller NATO-Mitglieder einfordern. Beschweren kann sich die Ukraine allerdings nicht. Obwohl kein Mitglied der Allianz, werden ständig Waffen geliefert und Milliarden überwiesen, die den Kauf weiterer Ausrüstungsgegenstände ermöglichen. Es ist sehr fraglich, ob die Ukraine als Mitglied der NATO mehr Unterstützung bekäme als dies derzeit der Fall ist, ob tatsächlich die anderen Mitglieder ihre Armeen an den Kriegsschauplatz im Sinne der Beistandspflicht senden würden.

Die aus dem Schulhof und aus den von Jugendlichen frequentierten Parks bekannte Drohung „warte nur, ich hole meinen großen Bruder und der wird es Dir schon zeigen,“ wurde generell zum militärpolitischen Grundsatz. Dieses Phänomen ist durch den Einsatz der USA in den beiden Weltkriegen entstanden. Tatsächlich hat in beiden Fällen das Eingreifen der militärischen Großmacht USA den Alliierten zum Sieg verholfen. Und heute entsteht bei einem Bedrohungsszenario in beinahe jeder Regierung das Bestreben, sich unter den Schutz der NATO und somit im Endeffekt unter den Schutz der USA zu begeben. Das „Große-Bruder-Syndrom“ hat dazu geführt, dass die NATO bereits 31 Mitgliedstaaten zählt.

Zur Relativierung aller Muskelspiele. Übermacht ist keine Erfolgsgarantie. Auch im Ersten Weltkrieg 1914-1918 überschätzten die Regierungen die Kampfkraft ihrer Armeen. Das war in Preußen so, das 1870 Frankreich in Sedan eine demütigende Niederlage zugefügt hat. 1866 hatte man dem ambitionierten Österreich-Ungarn in Königgrätz gezeigt, dass das deutsche Reich in Berlin zu Hause ist und nicht in Wien. Als gemeinsame Mittelmächte fühlte man sich 1914 in Berlin und in Wien extrem stark. In London war man durch den erfolgreichen Aufbau des britischen Weltreichs im 19. Jahrhundert sehr selbstbewusst. Wohl ein Grund, warum geradezu eine Begeisterung für einen Krieg auf dem Kontinent entstand. Die Folge war, dass die Briten mit einer Hurra-Stimmung in den Krieg zogen. Im Stellungskrieg verloren tausende junge Männer aus den führenden Familien des Landes ihr Leben. Die Lücken bildeten die Schwachstellen der folgenden Jahrzehnte und trugen entscheidend zur schrittweisen Auflösung des Empire bei.

Die einzig brauchbare Lektion aus der vielfältigen Militärgeschichte kommt nicht und nicht bei den Verantwortungsträgern in den Staaten an: Es gibt keinen gewonnenen Krieg. Jeder Krieg hinterlässt lange nachwirkende schmerzhafte Verluste bei allen Teilnehmern. Jeder vermeintliche Sieg stellt sich letztlich als Pyrrhussieg heraus, da nie ein Gegner nur schwach und wehrlos ist.

Für Waffen wird bereits so viel Geld ausgegeben wie für Sozialleistungen

Diese ernüchternde Tatsache wird nicht zur Kenntnis genommen. Im Vertrauen auf die Wirkung immer größerer Waffen investieren beinahe alle Länder der Erde eifrig in die militärische Ausrüstung. Nach den Erhebungen des schwedischen Forschungsinstituts SIPRI waren es allein im Jahr 2022 2.200 Milliarden US-Dollar: Besonders eifrig war man in Europa, wo unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs die Ausgaben im Schnitt um 13 Prozent gesteigert wurden. Die im Rahmen der NATO entstandene These, ein Land müsse 2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für das Militär aufwenden, wird immer stärker beachtet und von Vielen ernst genommen.

Tatsächlich ist diese Maxime beinahe schon Realität. Das Bruttoinlandsprodukt der Welt liegt bei knapp 100.000 Milliarden US-Dollar. Wenn also schon über 2.000 Milliarden für Waffen ausgegeben werden, sind das 2 Prozent.

Waffen bleiben nicht unberührt in Depots, Waffen, die zur Verfügung stehen, kommen auch zum Einsatz. Heere schlafen nicht tatenlos in Quartieren, sondern bekommen auch Marschbefehle.

Ständig wird betont, dass die gigantischen Arsenale Aggressoren abschrecken würden. Man geht also davon aus, dass Aggressoren vorweg als Statistiker agieren und die Frage stellen, wie viele Raketen, Flugzeuge, Munitionslager, Soldaten etc. die ins Visier genommenen Feinde haben und bei einer Übermacht ihre Angriffspläne begraben. Diese Überlegung stammt aus der Zeit des Kalten Krieges und dem Aufbau der Atomwaffen. Damals wurde argumentiert, man brauche eine so genannte overkilling-capacity. Hat man genug Atombomben um den Feind zu vernichten, dann befinde man sich in Sicherheit. Die aktuelle Überlegung ist schlichter, weniger dramatisch. „Je mehr Raketen, Drohnen, Panzer, Kampfflugzeuge umso besser.“

Mit dem Ergebnis, dass nach und nach alle Länder Armeen aufbauen, die sich in Friedenzeiten nur als Belastung erweisen.

Die zum Fetisch erhobenen 2 Prozent des BIP für das Militär müssen in Relation zu anderen Prozenten gesehen werden. Die Überforderung der Volkswirtschaften durch hohe Sozialleistungen treibt die Staatshaushalte bereits in Defizite. Als längerfristig verträgliche Größenordnung werden Abgänge in der Höhe von 2 bis 2,5 Prozent des BIP angesehen. Die Wirtschafts- und Währungspolitik ist in der Regel bemüht, die Defizite unter diesen Marken zu halten. An dieser Ausrichtung hat sich auch in letzter Zeit nichts geändert. Mit der Formel 2 Prozent für das Militär haben die Volkswirtschaften nun zwei Mal „2 Prozent zu verkraften, ein Mal für die Sozialpolitik und ein weiteres Mal für Waffen. Da Staatshaushalte ständig unter Sparzwang stehen, stellt sich nun die Frage, welcher Bereich in den kommenden Jahren sich von der 2-Prozent-Dotation verabschieden wird müssen. Die jüngste Entwicklung legt die Vermutung nahe, dass man eher auf eine Sozialhilfe als auf ein Maschinengewehr verzichten wird.

Und wieder überschätzt ein Präsident sein Militär

Der nächste Staatenlenker, der gerade dabei ist, zu verkennen, dass es keinen gewonnenen Krieg gibt, ist der chinesische Staatspräsident Xi, der nach einem gigantischen Aufrüstungswettlauf glaubt, Taiwan und den gesamten pazifischen Raum leicht erobern zu können. Ein Land nach dem anderen rüstet gegen die drohende Aggression auf. Dass China unbeschadet eine Auseinandersetzung mit dem kampfwilligen Nationalchina auf Taiwan, mit Japan, den USA, Südkorea, den Philippinen, Australien und Großbritannien übersteht, ist nicht anzunehmen. Im Moment steuert China auf einen katastrophalen Pazifik-Krieg zu, der das Interesse für die Ukraine rasch beseitigen würde

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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