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War die Gegenoffensive der Ukraine zum Scheitern verurteilt?

Lesezeit: 4 min
23.07.2023 17:18  Aktualisiert: 23.07.2023 17:18
Westliche Militärs wussten bereits im Vorfeld der Gegenoffensive der Ukraine, dass es kaum eine Chance auf Erfolg gab. Doch die Operation wurde dennoch gestartet. Die westliche Militärdoktrin wurde dabei ignoriert.

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Als die Ukraine in diesem Frühjahr ihre lang angekündigte große Gegenoffensive startete, wussten westliche Militärs, dass Kiew weder über die nötige Ausbildung noch über die nötigen Waffen verfügte, um die russischen Streitkräfte zurückzudrängen, berichtet das Wall Street Journal. Tiefe Minenfelder, ausgedehnte Befestigungen und die russische Luftwaffe haben dem Bericht zufolge einen nennenswerten Vormarsch der ukrainischen Truppen weitgehend verhindert.

Trotz aller ukrainischen Verluste und fehlender militärischer Erfolge erklärte General Mark Milley, der Vorsitzende des US-Generalstabs, am 14. Juli, dass die Gegenoffensive der Ukraine "bei weitem nicht gescheitert" sei und dass der bevorstehende Kampf "lang" und "blutig" sein werde. Doch Milley ist bekannt dafür, dass er ungeachtet seines militärischen Urteils stets das sagt, was das Weiße Haus hören will.

Ähnlich äußerte sich am Sonntag US-Außenminister Antony Blinken. Die jüngste Gegenoffensive der Ukraine stehe erst in den Anfängen und werde ein "sehr harter Kampf", sagt er gegenüber dem Sender CNN. "Sie wird sich nicht in den nächsten ein, zwei Wochen abspielen", so Blinken weiter. Vermutlich werde die Gegenoffensive noch "mehrere Monate" dauern.

Warum die militärische Unterstützung zurückgehen könnte

Am 19. Juli kündigten die USA zusätzliche Sicherheitshilfen für die Ukraine in Höhe von rund 1,3 Milliarden Dollar an. Nach Angaben des Pentagons umfasst das jüngste Paket vier NASAMS-Boden-Luft-Raketensysteme (National Advanced Surface-to-Air Missile Systems) und Munition, 152-Millimeter-Artilleriegeschosse, Minenräumgeräte und Drohnen. Doch die militärische Unterstützung aus den USA könnte bald deutlich zurückgehen.

US-Präsident Joe Biden steht im Herbst 2024 zur Wiederwahl, und viele in Washington glauben, dass die Besorgnis über negative Auswirkungen des Kriegs auf den Wahlkampf zu einem Nachlassen der Unterstützung für die Ukraine führen wird. Und wenn die USA ihre Unterstützung zurückfahren, wird Europa wahrscheinlich nicht in Lücke springen und seine Unterstützung für Kiew deutlich erhöhen, sagen westlichen Diplomaten.

Denn zwar haben in den letzten Monaten immer mehr europäische Staats- und Regierungschefs gefordert, dass Russland den Krieg verlieren müsse, um die Sicherheit des Kontinents zu gewährleisten. Doch die europäischen Streitkräfte verfügen gar nicht über ausreichende Ressourcen, um die Ukraine mit all dem zu versorgen, was sie brauchen würde, um die russische Armee aus den rund 20 Prozent des Landes zu vertreiben, die sie derzeit kontrolliert.

Laut dem ukrainischen und westlichen Geheimdiensten leidet das russische Militär unter einer niedrigen Moral, die auf Erschöpfung, schlechte Versorgung und interne Streitigkeiten in der russischen Führung zurückzuführen sei. Russland hat demnach gerade noch genug Soldaten, um seine Befestigungsanlagen und Flugzeuge zu bemannen, sei aber nicht in der Lage zu sein, die Initiative zu ergreifen und ukrainische Stellungen anzugreifen.

Westliche Militärdoktrin wurde ignoriert

Die westliche Militärdoktrin besagt, dass die angreifenden Truppen mindestens dreimal so groß sein müssen wie der Feind und eine gut koordinierte Kombination aus Luft- und Landstreitkräften einsetzen müssen, um einen eingegrabenen Gegner anzugreifen. Doch die ukrainischen Truppen verfügen weder über die Truppengröße, noch über die nötige Ausbildung und die nötigen Ressourcen, um diese Vorgaben zu erfüllen.

Die russischen Truppen hatten monatelang Zeit, umfangreiche Verteidigungsanlagen wie Minenfelder, Sperren und Bunker zu errichten. "Die Ukraine muss wirklich in der Lage sein, ihre militärischen Operationen zu verstärken und zu synchronisieren, wenn sie in der Lage sein will, die russische Verteidigung zu durchbrechen", zitiert das Wall Street Journal den Militäranalysten Franz-Stefan Gady, der kürzlich die ukrainischen Frontlinien besuchte.

Das kleinräumige Vorgehen, das für die Befehlshaber leichter zu bewerkstelligen ist als das Vorrücken von Bodentruppen unter Artillerieschutz, bringt eigene Probleme mit sich, wie etwa die eingeschränkte Mobilität. Der sichere Abtransport verwundeter Soldaten von der Front und die Versorgung mit frischer Munition ist bei Operationen auf Kompanieebene schwieriger, da die Sanitäts- und Logistikeinheiten weniger geschützt sind.

Die Durchführung synchronisierter, groß angelegter Angriffe wäre auch für westliche Streitkräfte schwierig, obwohl sie über mehr und bessere Ausrüstung verfügen. Denn es ist sehr schwierig ist, eine große Anzahl von Land- und Luftstreitkräften in einen schnellen Frontalangriff zu integrieren. Zudem würde kein westliches Militär versuchen, die bestehenden Verteidigungsanlagen zu durchbrechen, ohne den Luftraum zu kontrollieren.

Die USA hätten eine solche Offensive niemals versucht

"Amerika würde niemals versuchen, eine vorbereitete Verteidigung ohne Luftüberlegenheit zu besiegen, aber sie [die Ukrainer] haben keine Luftüberlegenheit", zitiert das Wall Street Journal John Nagl, außerordentlicher Professor für Kriegsführungsstudien am U.S. Army War College. "Man kann gar nicht hoch genug einschätzen, wie wichtig die Luftüberlegenheit ist, um einen Bodenkampf mit einem vertretbaren Aufkommen an Opfern zu führen."

Russische Drohnen und Kampfhubschrauber, insbesondere die Kamov Ka-52 "Alligator"-Kampfhubschrauber, haben sich als besonders wirksam erwiesen. Die Ka-52, die zu den modernsten Flugzeugen Russlands gehören, können weit hinter den russischen Linien bleiben und sich auf die Zieldaten von Aufklärungsdrohnen verlassen. Ihre lasergesteuerten Vikhr-Raketen haben eine doppelt so hohe Reichweite wie alle tragbaren Flugabwehrraketen im ukrainischen Arsenal.

Analysten des US-Verteidigungsministeriums wussten schon Anfang des Jahres, dass die ukrainischen Truppen nur schwer gegen russische Luftangriffe ankommen würden. In einer durchgesickerte geheimen Pentagon-Einschätzung vom Februar wurde eine winzige Anzahl von ukrainischen Waffen aufgeführt, die in der Lage sind, weit entfernte Flugzeuge zu treffen, und es wurde darauf hingewiesen, dass "die russische Luftüberlegenheit nicht verhindert werden kann".

Kiew verfügt nicht über genügend Luftverteidigungsausrüstung wie etwa Patriot-Batterien aus US-Produktion oder mobilere deutsche Gepard-Systeme, um viele davon in der Nähe der Front einzusetzen. Patriots und andere große Systeme sind zudem anfällig für russische Drohnenangriffe. Daher konnte Russland bisher den Himmel entlang eines Großteils der Front dominieren.

Was bringt die mögliche Lieferung von F16-Kampfjets?

"Die Russen sind jetzt in der Lage, ihre Luftstreitkräfte besser zu nutzen", zitiert das Wall Street Journal Douglas Barrie, einen Senior Fellow am International Institute for Strategic Studies, einer Denkfabrik in London. "Russland hat zwar keine Luftüberlegenheit über der gesamten Ukraine, aber aus Sicht der Verteidiger sind sie in einer viel besseren Position."

Die Ukraine verfügt nur über eine kleine Luftwaffe mit Flugzeugen und Hubschraubern aus sowjetischer Produktion. Daher wirbt Zelensky seit Monaten bei den USA und ihren Verbündeten für die Lieferung von in den USA hergestellten F-16-Kampfjets. Diese gehören nicht zu den neuesten US-Kampfflugzeugen, könnten aber eine ausreichende Bedrohung für die russischen Flugzeuge darstellen, um die ukrainischen Bodentruppen zu entlasten.

Ukrainische Piloten und Mechaniker bereiten sich derzeit darauf vor, von einer Koalition aus mindestens zehn europäischen Ländern für den Flug und die Wartung der komplexen Jets ausgebildet zu werden. US-Präsident Biden hat jedoch noch nicht die erforderliche Genehmigung für die Lieferung der F-16 an die Ukraine erteilt, und der Aufbau von Versorgungsketten zur Unterstützung und Reparatur der Flugzeuge würde Monate dauern.

Laut Analysten werden die F-16 wahrscheinlich frühestens Anfang 2024 auf dem Schlachtfeld erscheinen. Ihre Auswirkung auf die Kampfhandlungen hängt von vielen Faktoren ab, etwa von der Anzahl der gelieferten Flugzeuge, der Ausgereiftheit ihrer Bordausrüstung und den Waffensystemen, mit denen sie ausgerüstet werden. Ihre Einbindung in die Gefechtspläne wäre zudem kompliziert und würde eine weitere Ebene der Synchronisierung der Operationen erfordern.


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