Weltwirtschaft

Europa scheitert am kollektiven Unbewussten

Lesezeit: 7 min
05.08.2023 09:46  Aktualisiert: 05.08.2023 09:46
Der starke Rückgang der Wirtschaftsleistung im kleinen Steuerparadies Irland hat Europa in die Rezession gezerrt. Die Bestrafung der US-Konzerne wurde für die EU zum Eigentor. Doch die Schwäche der europäischen Wirtschaft hat tiefere Gründe.

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Irland zerrte Europa in die Rezession

Die EU-Statistiker haben es derzeit schwer. Die Union und insbesondere die Euro-Zone kommen nicht auf Touren. Das Jahr wurde gleich in den ersten Monaten mit einer Schrumpfung der Wirtschaftsleistung begonnen. Mittlerweile sieht es etwas besser aus und ein bescheidenes Wachstum um etwa mehr als 1 Prozent wird für 2023 als realistisch angesehen. Dass sich Europa bis zum Jahresende als globale Wirtschaftsmacht profiliert, ist nicht anzunehmen.

Paradoxer Weise ist einer der Faktoren, die die Statistiker nicht ruhen lassen, Irland. Das Steuerparadies, in dem die IT-Giganten wie Facebook und Apple sowie die US-amerikanischen Pharmariesen wie Pfizer Europa-Zentralen und große Fabriken unterhalten, musste im ersten Quartal einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um über 17 Prozent melden. Dieser Einbruch belastete die gesamten Euro-Daten, obwohl der Anteil des irischen BIP am Gesamtvolumen der EU zwischen 2 und 4 Prozent liegt. Wenn in den Konzernzentralen in Amerika beschlossen wird, die Aktivitäten in Irland zu drosseln, dann sinkt die irische Wirtschaftsleistung und mit ihr das BIP der EU und der Euro-Zone.

Die Bestrafung von Irland und der US-Konzerne wurde zum Eigentor

Die Begeisterung für Investitionen in Irland ist dem niedrigen Körperschaftssteueratz von 12,5 Prozent geschuldet und der Annehmlichkeit, von dem Euro-Staat aus bequem die europäischen Staaten und darüber hinaus andere Märkte bedienen zu können. Nachdem die EU-Kommission immer wieder Milliardenstrafen verhängt, die als Ausgleich für die von Irland gewährten Steuervorteile wirken sollen, ist die Liebe der Konzerne zu Irland etwas abgekühlt. Auch, weil Irland gezwungen wurde, die Begünstigungen für US-amerikanische Investitionen generell zu reduzieren.

Weil die schwankende und schwer abschätzbare Entwicklung die gesamte EU-Statistik belastet, kann man noch nicht schließen, dass das kleine Irland und seine amerikanischen Investoren Europa steuern. Die Umstände sind allerdings schon bemerkenswert. Auch die weiteren Konsequenzen: Da Irland durch die US-Konzerne zu einem der entscheidenden Standorte der Pharmaproduktion wurde, gilt heute: Die Versorgung Europas mit Medikamenten hängt wesentlich von den Kapazitäten in Irland ab. Eine Feststellung, die aktuell eine besondere Bedeutung hat, da gegenwärtig viele, wichtige Medikamente nicht lieferbar sind, weil weltweit Engpässe bestehen.

In Brüssel wäre man gut beraten, Irland nicht zu verfolgen. Das Land hat in der Kommission einen schlechten Ruf, weil es traditionell oft Entscheidungen der Union blockiert und nur nachgibt, wenn ihm die Zustimmung mit hohen Förderungen abgekauft wird. Die Attacken auf die von Irland geförderten US-Konzerne erweisen sich aber gerade heuer als Eigengoal.

Die Eigenleistung, die persönliche Initiative wurde von den EU-Staaten für überflüssig erklärt

Auch ohne die Verwerfungen durch Irland leidet die EU und im Besondern der Euro-Raum unter einer anhaltenden Schwäche der Wirtschaft, die die Konkurrenzfähigkeit des alten Kontinents gegenüber den USA, China, Indien und Japan lähmt. Es fehlt die Bereitschaft, die letztlich eine Begeisterung sein sollte, die Herausforderungen der Gegenwart anzunehmen. Sogar Deutschland, der Motor der Euro-Zone, schwächelt. Man ist versucht, den Erfolgsspruch, der Barack Obama zum US-Präsidenten machte, abzuwandeln. Wir sollten gerade jetzt in Europa sagen, „Yes, We Can,“ stattdessen lautet das tatsächliche Motto „No, We Cannot.“ Leistungsbereitschaft, Begeisterung, Selbstvertrauen sind psychische Faktoren und so muss man tief in die psychosozialen Faktoren blicken, die für Europa im Laufe der Jahrhunderte bestimmend wurden.

Der jüngste psychosoziale Super-GAU, der sich an die lange Reihe der vorherigen Geschehnisse anschließt, hat erst vor kurzem stattgefunden. Zuerst die Corona-Krise und dann der Ukraine-Krieg wurden zum Anlass genommen, um der Bevölkerung zu signalisieren, dass niemand sich Herausforderungen stellen muss, niemand nachdenken muss, wie er oder sie mit Schwierigkeiten fertig werden könnte. Das ist nicht notwendig, der Staat sorgt für alles, für den Ersatz von Löhnen und Gehältern, Umsätzen und Gewinnen. Auch für die Abgeltung von höheren Energiepreisen stehen staatliche Gelder zur Verfügung. Also: Auf in die Hängematte. Manna fällt nicht vom Himmel, aber aus der Staatskasse.

Wenn die Initiative der Einzelnen vom Staat für überflüssig erklärt wird, dann regt sich in der Bevölkerung nicht die Lust am Abenteuer, an der Eroberung neuer Dimensionen, am Aufbruch zu neuen Ufern. Und gerade dieser Mangel wurde auch durch die früheren psychosozialen Erschütterungen begünstigt.

Ein wesentliches Element bildet in diesem Zusammenhang die Sozialversicherung, die in Europa in den meisten Ländern zu einem umfassenden Schutz bei Krankheiten, Unfällen und im Alter ausgebaut wurde. Die Sozialpolitik baut auf dem Prinzip der Versorgung möglichst der gesamten Bevölkerung in allen schwierigen Lebenssituationen einschließlich der Arbeitslosigkeit auf. Sie wird in der Bevölkerung als gleichsam staatliche Einrichtung erlebt, als Leistung der Obrigkeit, auch wenn die Finanzierung aus den Beiträgen und Zuschüssen aus der Steuerleistung von allen kommt.

Schützende Herrscher, geschützte Untertanen

Diese Sicht der Sozialpolitik erinnert unwillkürlich an einen Rechtsgrundsatz des Mittelalters, wonach die Untertanen eines Fürsten seine Schutzbefohlenen waren, für die er zu sorgen hatte. Man konnte von einer Art Vertrag ausgehen, die Bürger wurden beschützt und agierten im Gegenzug als Gefolgsleute vor allem bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Somit ergab sich die Notwendigkeit, von der Arbeit am Hof auf das Schlachtfeld zu wechseln. Einen vergleichbaren Vertrag gibt es heute nicht. Geblieben ist aber der Gedanke, der Fürst ist verpflichtet, für das Wohlergehen der Bevölkerung zu sorgen.

Eine Bevölkerung, eine Gesellschaft beruht immer auf einem Vertrag wie Jean Jacques Rousseau in seinem Werk „Du Contrat social“ 1762 aufgezeigt hat. Und so beruht auch die Sozialversicherung auf einem Gesellschaftsvertrag, der die Bürger, die etwas verdienen, verpflichtet, für die Mitbürger in Not aufzukommen. Es zahlt also nicht mehr der Fürst, sondern die Masse der Arbeitnehmer und sonstigen Steuerzahler sichern mit ihren Beiträgen das Funktionieren des Vertrages.

Das Verhältnis zwischen jedem Fürsten und seinen Gefolgsleuten wurde von dem einzelnen Betrieb, der einzelnen Herrschaft auf den ganzen Staat übertragen, sodass der Herrscher, der König oder der Kaiser letztlich für alle die Verantwortung zu übernehmen hatte. Diese These galt durch Jahrhunderte und sorgt auch heute noch für die ständig anzutreffende Erwartung, dass die jeweilige Regierung für jedes Problem eine Lösung finden müsse. Es ist verblüffend, wie beliebige Personen, die zufällig auf einem Ministersessel landen, diese Erwartung annehmen und unbekümmert Versprechen abgeben, dass sie dieses oder jenes gewünschte Wunder selbstverständlich liefern werden.

Die Verantwortung der Obrigkeit, die Versorgung durch den Staat ergeben ein allgemeines Bewusstsein, das der Übernahme von Eigenverantwortung, dem Ergreifen von Initiativen abträglich ist. Dazu kommt, dass in Jahrhunderten gelernt wurde, dass die Initiativen, die Aufmüpfigen, die Querköpfe immer verfolgt wurden und immer noch werden. Die Volksweisheit konnte daher nur lauten: Ducken und kuschen, ja nicht auffallen. In Goethes Faust liest man: „Die wenigen, die was davon erkannt, die töricht g'nug ihr volles Herz nicht wahrten, dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, hat man von je gekreuzigt und verbrannt.“

Die europäischen Auswanderer haben Amerika groß gemacht

Und was haben die Initiativen gemacht? Letztlich sind sie gegangen. Auf den Auswanderer-Schiffen saßen nicht die angepassten Personen, die sich der Autorität unterwerfen. Nein, da waren jene, die eine neue Existenz aufbauen wollten, da waren diejenigen, die man unbedingt hätte im Land halten müssen, weil das waren jene, die zupacken wollten und dies in ihren neuen Heimaten auch unter dem Motto und in der Überzeugung, „Yes, We Can,“ taten. Da diese Analyse mit Irland begonnen hat, sei daran erinnert, dass Irland im Gefolge von mehreren, katastrophalen Hungersnöten enorme Auswanderungswellen verkraften musste. Von den 45 US-Präsidenten waren 22 irischer Abstammung. Der Mann, der das Alltagsverhalten fast aller Zeitgenossen verändert hat, der Erfinder des I-Phones, Steve Jobs, war der Sohn eines Einwanderers in die USA, nicht aus Irland, aber aus Syrien. Zahllose Hollywood-Stars stammten aus Mittel- und Osteuropa oder aus Irland. Der Philosoph Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882), formulierte in seinen Werken als „Denker des Lebens in der Gegenwart und in der Zukunft“ den Geist Amerikas.

Man kann davon ausgehen, dass die Kinder und Kindeskinder von querköpfigen und unternehmenslustigen Menschen ähnlich geartet sein werden. Auf die vergangenen Jahrhunderte zurückblickend muss man den Eindruck bekommen, dass in Europa eine Art Selektion stattgefunden hat, die nun für eine Übermacht der Angepassten sorgt. Wenn hier bedauert wird, dass der Geist von „Yes, We Can“ fehlt, so muss auch an die vielen Herrschaftsdynastien erinnert werden, die über Jahrhunderte jeden Widerstand brutal unterdrückt haben. Da sind zahllose genealogische Linien gekappt worden, die fortzeugend immer neue eigenständig initiative Menschen produziert hätten.

Die Auswanderer haben sogar, ohne es zu bemerken, die richtige Botschaft an die alte Heimat gesendet. Die Französische Revolution war, wie die moderne Geschichtsschreibung weiß, eine Folge des Aufstands der jungen USA gegen die britische Herrschaft. Die revolutionären Gedanken wurden von Marquis de La Fayette nach Paris gebracht. Die französische Armee und die Flotte unterstützten die Aufständischen gegen Großbritannien, La Fayette kämpfte selbst auf der Seite der Amerikaner gegen die Engländer.

Die Französische Revolution hätte die europäische Gesellschaft von Grund auf reformieren können und wir würden heute noch in einem freieren, offeneren Europa leben. In Frankreich selbst ist die Revolution schon nach kurzer Zeit in Napoleons Kaiserreich untergegangen. Nach dem Ende von Napoleon beeilten sich die traditionellen Herrscherfamilien die alte Ordnung wieder herzustellen und das neunzehnte Jahrhundert verlief mit gelegentlichen Mini-Korrekturen in den alten Bahnen:

  • Der Autoritarismus mit den Herrschern als Bewahrer der Autorität und den Untertanen als weiterhin willige Gefolgsleute, die die Unterwerfung unter die Autorität für selbstverständlich, für geradezu gottgewollt hielten, bestimmte as 19. Jahrhundert.

Die Gemengelage der Geschichte verlangt nach einer Archäologie

Das Eintauchen in die vielen psycho-sozialen Faktoren, die immer noch bestimmend sind, rückt einen Gedanken in den Vordergrund, den der französische Philosoph, Michel Foucault, in den sechziger Jahren formuliert hat. Er machte auf die Gemengelage der Geschichte aufmerksam und zeigte, dass in der jeweiligen Gegenwart die verschiedensten Faktoren als gegenwärtig erlebt werden. Foucault sprach von der Notwendigkeit einer Archäologie des Wissens. Man kann diese Gedanken auch illustrieren: Wenn man ein modernes Auto vor einem antiken Gebäude stehen sieht, wird man kaum spontan eine Störung empfinden. Das antike Gebäude ist ein Teil des akzeptierten Straßenbilds und der Wagen ein Teil des akzeptierten Verkehrs. Man nimmt das Gemenge aus zwei Zeiten selbstverständlich zur Kenntnis.

Spannend wäre eine Archäologie der psycho-sozialen Bestimmungsfaktoren. Eine derartige Analyse könnte vielleicht einen Weg aufzeigen, aus der aktuellen Lähmung der europäischen Gesellschaft in eine dynamische, abenteuerlustige Geisteshaltung.

Im Zusammenhang mit dem europäischen „We Cannot“ wurde bislang noch wenig beachtet, dass bereits Vorarbeiten für die Archäologie der psycho-sozialen Störungen geleistet wurden. Der Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, C.G. Jung (1875-1961) hat den Begriff des kollektiven Unbewussten geprägt. Er verstand darunter die bewusst oder unbewusst im Gedächtnis der Menschen über die Jahrtausende angesammelten, bestimmenden Instinkte und Gedanken und kulturellen Strömungen. Aus diesem Sammelsurium würden immer wieder Impulse kommen, die das Verhalten der Menschen beeinflussen. Mit dem kollektiven Unbewussten könnte man besser verstehen, wieso in einer aufgeklärten und demokratischen Staatsform viele Menschen immer noch von einer Obrigkeit die Lösung aller Probleme erwarten.

Hoffnung aus Brüssel oder durch die Zuwanderung

Hoffnung für Europa besteht in der Aussicht, dass durch einen glücklichen Zufall in einer einflussreichen Institution wie der EU-Kommission Persönlichkeiten im Geiste von Barack Obama oder Ralph Waldo Emerson überzeugend verkünden, dass Europa die Kraft und die Kreativität hat, die Zukunft des Globus zu gestalten So könnte sich eine neue Schicht im kollektiven Unbewussten bilden, die künftig dem Autoritarismus Paroli bietet. Von der aktuellen EU-Kommission ist diese Revolution nicht zu erwarten. Das krause Brüsseler Gewirr aus einem manischen Kontroll- und Regulierungseifer verbunden mit der Illusion, man könne mit Subventionen und sonstigen Förderungen die Menschen animieren, die Welt zu verändern, schafft keine Abenteurer, die die Zukunft erobern.

Die hungrigen Auswanderer aus Irland und aus Osteuropa haben die USA zur Weltmacht aufsteigen lassen. Vielleicht leisten die hungrigen Auswanderer aus Afrika und Asien, die gerade nach Europa drängen, eines Tages einen vergleichbaren Beitrag zum Aufstieg des alten Europa zu neuem Glanz und neuer Gloria. Im Moment werden sie jedenfalls nach Möglichkeit nicht hereingelassen. Nur: Auch die Geschichte der amerikanischen Immigration hat viele Phasen, in denen auch die Einwanderung nach Möglichkeit gebremst wurde. Letztlich haben die Migranten aber doch ihren Platz erobert.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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