Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wieder einmal hat die GDL gestreikt - und der Bahnstreik könnte in ein paar Wochen weitergehen. Haben Sie dafür Verständnis?
Arno Luik: Ja, klar. Denn die Forderungen der GDL sind nicht abwegig oder unverschämt – sie sind zeitgemäß, insbesondere ihre Hauptforderung: die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche. Die Bahn ist zu 100 Prozent im Staatsbesitz, und ich finde, ein Staatsbetrieb sollte ein Vorbild sein, was sein Verhalten gegenüber seinen Mitarbeitern betrifft. Und so ist es eine Frechheit der Bahnchefs, einen Tarifvertrag mit einer Laufzeit von 32 Monaten durchsetzen zu wollen: Die Zeiten sind überaus unsicher, ökonomische Verwerfungen jederzeit möglich, eine Rekordinflation nicht unwahrscheinlich. In einer solchen Situation seinen Angestellten einen Tarifvertrag über zweieinhalb Jahre anzubieten – das ist eine Provokation.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ihrer Meinung nach geht der Staatsbetrieb Bahn nicht anständig mit seinen Mitarbeitern um?
Arno Luik: Dieses Gefühl habe ich in der Tat. Ich kenne Lokomotivführer, die schieben – angehäuft in einem Jahr – 400 bis 600 Überstunden vor sich her. Da ist ein ordentliches Familienleben kaum möglich. Die 35-Stunden-Woche gibt es bei der IG-Metall schon seit drei Jahrzehnten, für viele Betriebe ist dieses Modell längst das Normalste der Welt. Und genauso müsste es für einen Staatskonzern sein. Wer zufrieden ist, streikt nicht. Streik ist Notwehr. Und noch etwas: Wenn man ins Ausland schaut, nach Österreich, Luxemburg, in die Schweiz, zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen der jeweiligen Bahnführung und den Angestellten gut funktioniert. Die dortigen Bahnmitarbeiter werden auch deutlich besser entlohnt, sie haben ordentliche Arbeitszeiten, nach Schichtdiensten geregelte Ruhezeiten. Warum geht das nicht in Deutschland? Hierzulande kommt ein Lokführer im Schnitt auf 35.000 bis 45.000 Euro, in Österreich auf 52.000 Euro, in der Schweiz – bei höheren Lebenshaltungskosten – auf bis zu 104.000 Franken (etwa 110.000 Euro). Und so kommt es, dass derzeit über 100 bei der Deutschen Bahn ausgebildete Lokführer in der Schweiz arbeiten.
Martin Seiler, Personalvorstand bei der Bahn, klagt, dass er zu wenige Lokführer hat. Vielleicht hat das etwas mit ihm zu tun, mit seiner Personalführung, mit den Löhnen, die er zahlt? GDL-Chef Claus Weselsky wird ja oft als der böse Bube dargestellt. Aber er ist kein Klassenkämpfer. Er ist Mitglied der CDU. Weselsky hat mit rund 20 Privatbahnen Tarifverträge abgeschlossen – ohne, dass die Öffentlichkeit etwas davon mitbekommen hätte. Es ging ratzfatz. Da war der Wille zum Ausgleich da. Überall gab es Einstiege in die 35-Stunden-Woche, geregelte Arbeitszeiten wurden vereinbart, Ruhezeiten nach Schichtarbeit. Man sieht: Weselsky ist nicht auf Krawall gebürstet.
Die Bahn ist faktisch pleite
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ist die Bahn nicht knapp bei Kasse? Kann sie sich derartige Lohnerhöhungen überhaupt leisten?
Arno Luik: Die Bahn ist knapp bei Kasse? Knapp? Sie ist – obwohl der deutsche Steuerzahler dieses Unternehmen Jahr für Jahr mit zig Milliarden subventioniert – so hochverschuldet, dass es den Bundeshaushalt gefährdet. Warum? Das hat sehr, sehr viel mit dem Unvermögen des Bahnmanagements zu tun. Und nun muss man die Worte Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit einführen: Die neun Vorstände der Bahn bekommen neun Millionen Euro an Boni ausgezahlt. Ihre Grundgehälter sind riesig.
Personalvorstand Martin Seiler kommt alles in allem auf 1,3 Millionen Euro, dazu erhält er noch einen dicken Bonus. Für was? Dass er Tarifangebote macht, die keine Gewerkschaft akzeptieren kann? Dass die Bahn zu wenig Mitarbeiter hat? Bahn-Chef Richard Lutz hat ein Grundgehalt, das ungefähr dreimal so hoch ist wie das des Bundeskanzlers, dazu noch Boni in Höhe von zwei Millionen Euro. Für was bloß? Dass unter seiner Regentschaft die Bahn mit 35 Milliarden Euro in den Miesen ist, also: faktisch pleite. Die Eisenbahner – und viele, viele Bundesbürger – fragen sich: Wie kann es sein, dass diese Bahnchefs, die den Laden an die Wand gefahren haben, Stichworte sind Verspätungen, Zugausfälle, notorische Unzuverlässigkeit, dass diese Manager für ihr Versagen noch üppig belohnt werden? Das lässt sich niemandem vermitteln.
So entsteht Staatsverdrossenheit. So wächst dieses gefährliche Gefühl: „die da oben“ sahnen ab, das Gefühl: Es ist nicht gerecht, was hier abläuft. Auch die Bahn-Mitarbeiter sehen natürlich die absurd hohen Gehälter ihrer Vorstände, die völlig durchgeknallten und nicht zu rechtfertigenden Boni – das schafft Frust und Empörung gerade bei jenen, die diesen immer mehr zerfallenden Laden am Laufen halten. Gestresste Mitarbeiter, die tagtäglich die Aggressionen unzufriedener Kunden ertragen müssen – und das zu Löhnen, für die ihre Chefs im Berliner Bahnturm sich nicht aus ihren Ledersesseln erheben würden. Dieses Gefühl von Ungerechtigkeit stärkt die Streikbereitschaft.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Woran liegt es eigentlich, dass die Bahn so massiv mit Zugausfällen und Verspätungen zu kämpfen hat?
Arno Luik: Um es ganz klar zu sagen: An der Unfähigkeit des Bahnmanagements. Weselsky bezeichnet den Bahn-Vorstand als „Luschen“, „Versager“, „Duckmäuser“, als „Nieten in Nadelstreifen“. Nicht meine Worte. „Nieten in Nadelstreifen“ stimmt nicht, weil die Bahnchefs heute keine Nadelstreifen mehr tragen. Aber der Rest von Weselskys Einschätzung ist leider und unseligerweise durch Fakten gedeckt. Die Bahn befindet sich in einem desolaten Zustand. Und die Verantwortlichen dafür, ich wiederhole mich, sitzen in der Unternehmenszentrale in Berlin.
Mal grundsätzlich gesagt: Seit gut drei Jahrzehnten sind die Bahnchefs keine Bahnprofis. Sie haben das Handwerk nicht von der Pike auf gelernt – doch das Geschäft Bahnfahren ist eine hochkomplizierte Materie. An der Spitze waren und sind Menschen, die merkwürdigerweise aus Konkurrenzfirmen zum potenziell ökologischen Verkehrsunternehmen Bahn kamen: Dürr – Autoindustrie; Mehdorn – Autoindustrie; Grube – Autoindustrie, Luftfahrt. Alle Chefs, seit der Bahnreform 1994, waren zu Beginn ihrer Bahnkarriere Bahn-Azubis. Überbezahlte Bahn-Azubis. Kann das gutgehen? Wenn es die Politik ernst meint mit der angestrebten Verkehrswende, dann müssen wirkliche Bahnprofis an die Spitze dieses so wichtigen Unternehmens, wie in Österreich oder der Schweiz
Nun heißt es, Richard Lutz sei ja so ein Profi, er sei ein Bahner. Aber das stimmt so nicht. Lutz ist zwar schon lange bei der Bahn – als Finanzkontrolleur, als Finanzchef. Und er hat all die desaströsen Sparprogramme seiner Chefs, die die Bahn in diesen erbärmlichen Zustand brachten, abgesegnet. Es ist wirklich traurig. Wie schlecht es um die Bahn steht, merkt jeder Bürger, wenn er Zug fährt. Die Pünktlichkeitsquote liegt derzeit bei knapp 60 Prozent. Peinlich. Wobei diese Quote überhaupt nichts aussagt. Denn „ein Zug, der nicht losfährt, kann nun mal nicht zu spät ankommen“, sagt Bahnchef Lutz. Also tauchen ausgefallene Züge in der Statistik nicht auf. In der Logik des Bahnchefs, wäre eine perfekte Bahn also eine Bahn, bei der gar kein Zug mehr fährt.
2018 fielen mehr als 140.000 Züge komplett aus. Nur leicht übertrieben gesagt: Der einzige Zug, der in Deutschland pünktlich losfährt, ist der Rosenmontagszug in Mainz. Es ist wirklich tragisch: Die Bahn, die mal perfekt wie ein Uhrwerk funktionierte, Vorbild für fast alle Bahnen dieser Welt war, sie wurde in kurzer Zeit, in rund 30 Jahren, seit der Bahnreform, als das Unternehmen sexy für die Börse gemacht werden sollte und zur Aktiengesellschaft wurde, kaputtgespart und nachhaltig ruiniert.
„Fatale, weltumspannende Expansion“
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In anderen Ländern wie der Schweiz, Österreich oder Italien funktioniert es doch auch.
Arno Luik: Dort sind auch Menschen an der Spitze der Staatsbahnen, die ihr Handwerk beherrschen. Und, ganz wichtig, sie kümmern sich um ihre Bahnen – und sonst um nichts. Ein sehr wichtiger Grund, weshalb diese Deutsche Bahn kaum mehr funktioniert, ist die Tatsache, dass die Deutsche Bahn keine Deutsche Bahn mehr ist. Sie ist bloß noch ein Anhängsel in einem global agierenden Imperium, über dem die Sonne nicht untergeht.
2022 generierte die Bahn gut 50 Prozent ihrer Umsätze im Ausland. Viel Geld wird da bewegt, der Gewinn aber ist gering, die Konkurrenz beinhart. Mehr als zehn Milliarden Euro gingen für diese Auslandseinsätze drauf, Investitionen, die sich nicht amortisieren. Investitionen, die hier fehlten. Investitionen, von denen der Bürger hier nichts hat. Anstatt sich um die Kundschaft hier zu kümmern, kümmert sich diese Bahn um alles Mögliche und Unmögliche in aller Welt. Viele Seiten könnte ich nun mit Namen füllen, die vielleicht nicht einmal die Damen und Herren in ihrem Berliner Bahnhochhaus kennen: Malawi, Curacao, Mongolei, Moldawien, Ghana, Indonesien – in 140 Ländern war 2022 die Deutsche Bahn AG mit Bussen, Flugzeugen, Schiffen, PKWs, LKWs, Krankenwagen, Elektroautos unterwegs. Mit rund 800 Gesellschaften, Firmen und Firmenbeteiligungen agiert sie rund um den Globus. Für wen? Wozu?
Vor gut 20 Jahren hat Bahnchef Hartmut Mehdorn diese für den Bürger hierzulande so überaus fatale, weltumspannende Expansion begründet, sie ist der Grund, weshalb die Bahn hierzulande so kläglich dahinrumpelt: Wer in Katar das Streckennetz ausbaut, in Dubai mit Lufttaxis experimentiert, wer Marktführer im Schiffsverkehr zwischen China und den USA ist, wer einer der größten Luftfrachtunternehmer der Welt ist, hat der noch Lust und Zeit, Züge auf der Schwäbischen Alb, in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen pünktlich fahren zu lassen? Kümmert der sich um marode Brücken, die im ganzen Land die ICEs zum Langsamfahren zwingen?
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Warum wird denn die Bahn von der Politik so stiefmütterlich behandelt? Und gerade von Seiten der Ampel-Regierung, die sich doch die Energiewende auf die Fahnen geschrieben hat?
Arno Luik: Deutschland ist ein Auto-Land. Franz Münterfering, der ja in seiner langen SPD-Politkarriere auch mal Verkehrsminister war, sagte mal: „Die Bahn ist das Resteverkehrsmittel für jene, die sich ein Auto nicht leisten können.” Vorfahrt Auto. Dieses Bahnversagen ist natürlich ein Staatsversagen. Schuldig: die Herren und Damen im Bundeskanzleramt und ihre Verkehrsminister. Sie ließen es zu, dass der größte deutsche Staatskonzern ein Staat im Staat wurde. Und zu einer Geldvernichtungsmaschine. Sogar dem Verkehrsminister ist jetzt klar: „So wie es ist, kann es nicht bleiben.“ Das sagt er, aber: Wird es besser? Nein! Wird es endlich gut mit dieser Bahn? Die meisten der aktuellen Verheißungen sind ohne Bezug zur Realität. Seit 1994, seit der staatlich organisierte Zerfall mit der Bahnreform begann, die als Ziel Börsengang und Privatisierung hatte, wurde gespart an Menschen, Material, Reparaturen, Investitionen. Heute fehlt es an allem: an Gleisen, an Land für Gleise, an Lokomotiven, an Zügen, an Personal. Und: an Knowhow.
Allen Beteuerungen der Regierenden zum Trotz: Das Thema Bahn ist den Regierenden nicht wirklich wichtig – das zeigt ein Blick in den Koalitionsvertrag. Nicht mal eine Seite umfasst dort das Thema Zugverkehr. Diese Passage ist eine lose Aneinanderreihung all der Verheißungen, die man seit Jahren hört, also dies: Reaktivierung von Strecken, Elektrifizierung, Stilllegungen vermeiden, Kapazitätserweiterung. Klimafreundliches wird gewunden formuliert und sofort relativiert: „Bei neuen Gewerbe- und Industriegebieten soll die Schienenanbindung verpflichtend geprüft werden.”
Zieht trotz alledem nun – weil es so dringend sein müsste – Vernunft ein in die Verkehrspolitik? Ja, sagen nun fast alle Politiker, wir haben dazu gelernt, wir geben der Bahn in den kommenden Jahren viel Geld, richtig viel Geld: 60, 70, ja, 90, vielleicht sogar 150 Milliarden Euro Steuergeld! Darf ich mich als Bürger und Bahnfahrer über diese astronomischen Summen freuen? Nein, unglücklicherweise nicht. Gerade wenn ich mir Sorgen um das Klima mache. Die einzig gute Idee, die Ex-Bahnchef Grube hatte, war es, die ICEs nicht schneller als Tempo 250 fahren zu lassen. Aber jetzt will man wieder Strecken bauen für Tempo 330. Das ist Ökofrevel. Unsummen sollen in unökologischen und unökonomischen Großbetonprojekten versenkt werden, wieder und immer noch in Stuttgart 21, in Münchens zweiter Stammstrecke, in einen Tiefbahnhof unter Frankfurt, in die Verlegung des Bahnhofs Hamburg-Altona nach Diebsteich, in eine Neubaustrecke von Dresden nach Prag samt riesigem Tunnel. Was da geschehen soll, ist Klimakill pur. Der Bau eines einzigen Tunnelkilometers setzt so viel CO2 frei wie 26.000 Autos, die je 13.000 Kilometer, des Bundesbürgers Durchschnittsstrecke, fahren.
Dramatische Unvernunft, allüberall: In Mexiko beteiligt sich der Staatskonzern über eine Tochter an dem gigantischen Bahnprojekt „Tren Maya“, einer Trasse von über 1.500 Kilometern – auch quer durch Regenwälder. Dort lebende Nachfahren der Maya kämpfen gegen den Bau, sie fürchten, dass der Zug das sensible Ökosystem gefährdet, ihre Lebensgrundlagen zerstört und sie dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Das ist dieselbe Bahn, die sich hierzulande als Zeichen der Umweltliebe grüne Streifen auf die ICEs klebt.
Diese Bahn, die hierzulande nicht in der Lage ist, ihre Strecken zeitgemäß zu elektrifizieren, vermeldet voller Stolz, dass sie „das größte Bahnprojekt in der Geschichte Ägyptens und mit 2.000 Streckenkilometern sechstgrößte Hochgeschwindigkeitsnetz der Welt übernehmen“ wird. Was soll dieser Auslandseinsatz? Angesichts des erbärmlichen Zustands der Bahn hierzulande? Hier sind gerade mal 61 Prozent der Strecken elektrifiziert. Eine Schande für dieses Industrieland. Diese Bahn ist eine Zumutung. Und ich staune, mit welch buddhistischer Geduld die Bürger das alles hinnehmen: diese Verspätungen, diese Zugausfälle, diese strukturelle Unzuverlässigkeit, den offensichtlichen Zerfall dieses so wichtigen Verkehrsmittels.
Deutsche Bahn zieht sich aus dem Güterverkehr zurück
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie ist eigentlich die Situation in den USA? Auch da scheint ja die Bahn, zumindest was den Personenverkehr anbelangt, nicht beliebt zu sein.
Arno Luik: In den USA funktioniert der Personenverkehr zwischen den wichtigen Metropolen, etwa zwischen New York und Washington, recht gut. Also für die Businessleute, die Politiker, die Betuchten. Ansonsten hat sich die Bahn in Sachen Personenverkehr nahezu komplett aus allen Städten verabschiedet. Es ist ja häufig so, dass sich die Dinge, die in den USA geschehen, sich nach einigen Jahren in Deutschland wiederholen. Bei uns fließt das versprochene Geld, weit über 90 Prozent, wie gesagt in Großprojekte und in die ICE-Bolzstrecken zwischen den Metropolen. Primär für die Businessleute also, gerade mal 140 Millionen Bürger sind im Fernverkehr unterwegs. Fast kein Geld aber fließt in den Nah- und Regionalverkehr. Aber dort sind fast drei Milliarden Menschen jährlich unterwegs, für die wird so gut wie nichts getan. Auch das schafft Staatsverdrossenheit – gerade auf dem Land. Die Menschen dort fühlen sich abgehängt, vernachlässigt.
Was in den USA noch passiert, ist bemerkenswert: Rund 40 Prozent der Güter werden dort mit der Bahn befördert. Pro Kopf transportieren die US-Güterzüge zehnmal so viel wie im Rest der Welt. Das hat Gründe: Die Transportkosten in den USA sind auf der Schiene deutlich günstiger als auf der Straße. In den USA gibt es für die Züge, auch wenn sie die Rocky Mountains überfahren, kaum Tunnel, die die Kosten in die Höhe schießen lassen. Auch sind die Güterzüge dort viel länger: bis zu 3 660 Meter. In Europa sind sie nur im Ausnahmefall länger als 700 Meter, und auch die zulässige Achslast ist in den USA um 60 Prozent höher als in Europa. Folge: Ein US-Güterzug schleppt die Last von sieben europäischen Güterzügen. Und noch etwas: In den USA transportieren die Züge häufig Container doppelstöckig – also zehnmal so viele Container wie auf den einstöckigen Zügen in Europa. Die US-Verhältnisse lassen sich nicht nach Europa übertragen. Aber so kümmerlich wie es um den Güterzugverkehr in Deutschland steht, das muss nicht sein. Das ist ein geplantes Desaster der Politik: Der Kotau vor der Autoindustrie.
Die Deutsche Bahn, so muss man konstatieren, zieht sich aus dem Güterverkehr zurück bzw. hat sich schon längst, was den Gütertransport vor allem über kurze und mittlere Distanzen anbelangt, praktisch komplett abgemeldet. Ihr Anteil an der Güterbeförderung in Deutschland liegt bei gerade mal 16 Prozent – und ist ein Minusgeschäft. Das ist peinlich. Vor allem dann, wenn man ins Ausland schaut. Auf Schweizer Autobahnen sieht man kaum LKWs, die mit Containern beladen sind, man sieht dort überhaupt wenig LKWs. Wer wissen möchte, wie man mit Gebühren eine ökologischere Verkehrspolitik erwirkt, muss an die Schweizer Grenze bei Lörrach. Dort wird die LKW-Fracht auf Züge umgeladen. Die Spediteure haben keine Lust, die Straßenmaut, die in der Schweiz dreimal so hoch ist wie in Deutschland, zu bezahlen. Und so kommt es, dass in der Schweiz über 35 Prozent des Güterverkehrs Zug fährt – mehr als doppelt so viel wie in Deutschland. Das eklatante Versagen der hochsubventionierten Bahn AG im Güterverkehr ist vor allem ein Managementfehler, den die Politik hinnimmt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ihr Fazit? Ist die Deutsche Bahn noch zu retten?
Arno Luik: Ich halte diese Bahn für nicht mehr reparabel. Es ist sehr einfach, etwas zu zerstören, aber viel schwerer ist es, das Zerstörte zu reparieren. Wie sehr diese Bahn demoliert wurde, zeigt sich beispielhaft an ein paar Zahlen: Um auf den Standard der Schweiz zu kommen, müsste das Bahnnetz augenblicklich um 25.000 Kilometer erweitert werden – ein Ding der Unmöglichkeit. Wo früher Gleise und Rangierbahnhöfe waren, stehen heute Einkaufszentren, Büro- und Wohngebäude. Oder gar nichts, aber irgendetwas Unschönes wird schon noch kommen.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind über 100 Städte vom Fernverkehrsnetz abgehängt worden, Mittel- und Großstädte wie etwa Chemnitz (240.000 Einwohner), Potsdam (172.000), Krefeld (234.000), Heilbronn (122.000), Bremerhaven (114.000). Für Millionen Menschen wurde durch dieses Abkoppeln das Bahnfahren erschwert und unattraktiv. Noch etwas: Hatte die Bahn 1994 noch über 130.000 Weichen und Kreuzungen sind es heute um die 70.000. Aber jede rausgerissene Weiche heißt: weniger Überhol- und Ausweichmöglichkeiten. Heißt: Verspätungen. Heißt: Frust. Enttäuschung bei den Kunden. Gab es 1994 noch 12.000 Gleisanschlüsse für Industriebetriebe, sind es heute bloß noch knapp 2.000. Wie soll so eine ökologische Verkehrswende möglich sein?
Ein Letztes: Betrug die Netzlänge 1994 noch über 40.000 Kilometer, sind es heute bloß noch rund 33.000 Kilometer. Diesen Raubbau spüren die Wartenden an den Bahnsteigen, die Gestrandeten im Nirgendwo, die Verspäteten im ICE, vor dem ein Güterzug schleicht. Denn auf dem reduzierten Gleisangebot können gerade mal noch zwei Drittel der Züge ordentlich fahren. Für ein Drittel der Züge, klagen Disponenten der Bahn, also jene, die zunehmend verzweifelt versuchen, die Züge irgendwie noch fahren zu lassen, muss man irgendwelche Nischen finden, sie irgendwie hin- und herschieben. Pünktlichkeit ist strukturell auf unabsehbare Zeit nicht machbar. Fahrplan ade. Ein paar Jahre lang konnte man den schleichenden Verfall der Bahn kaschieren, schließlich war die Bahn vorher ein sehr robustes System. Früher bewunderte die Welt Deutschland für sein perfektes Bahnsystem. „Pünktlich wie die Eisenbahn“ war ein geflügeltes Wort. Heute ist das geflügelte Wort: „Schaden in der Oberleitung“. Jetzt steht die Bahn vor dem Kollaps. Ich fürchte, sie hat den Kipppunkt bereits überschritten. Jetzt kommen ja diese Generalsanierungen, mit denen alles gut werden soll. Solche oft monatelange Sperrungen von Hauptverkehrsstrecken – etwa bei einer der wichtigsten Strecken Europas: von Frankfurt nach Mannheim. Vollsperrungen wegen Sanierung: Das gab es früher nicht. Da wurde „unterm laufenden Rad“ repariert – meist vom Bahnfahrer unbemerkt. So ist das weltweit. Diese Generalsanierungen zeigen jedem Bürger, dass das Bahnmanagement unfähig ist, dass es in den vergangenen Jahren die Infrastruktur sträflich vernachlässigt hat. Diese Generalsanierungen sind fatal. Sie sind ein gigantisches Umerziehungsprogramm. Etwas verzweifelt formuliert: Bahnkunden werden zum Autofahrer gemacht.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie klingen total pessimistisch.
Arno Luik: Ich bin fassungslos. Und traurig, weil etwas sehr Gutes unnötiger- und sträflicherweise total ramponiert wurde. Völlig ausgeschlossen ist es aber, diesen allgemeinen Zerfall der Bahn mit dem aktuellen Vorstand zu stoppen. Die Damen und Herren dort sind für den desolaten Zustand verantwortlich. Wie soll der Täter zum Retter werden? Brandstifter macht man doch auch nicht zu Feuerwehrkommandanten.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Info zur Person: Arno Luik, geb. 1955, war Reporter für Geo und den Berliner Tagesspiegel, Chefredakteur der taz, Vize-Chef der Münchner Abendzeitung und langjähriger Autor des Stern. Für seine Berichterstattung in Sachen Stuttgart 21 erhielt er 2010 den »Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen« der Journalistenvereinigung „Netzwerk Recherche“. 2015, bei der Anhörung des Deutschen Bundestags zum Thema »Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären«, war Luik als Sachverständiger geladen. Sein Buch „Schaden in der Oberleitung – das geplante Desaster der Deutschen Bahn“ ist im Westend Verlag erschienen.
Gespräche von „Deutschlands führendem Interviewer“ (taz) sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt worden; für sein Gespräch mit Inge und Walter Jens wurde Luik 2008 als „Kulturjournalist des Jahres“ ausgezeichnet. Seine besten Interviews hat er gerade veröffentlicht, der Titel des Gesprächbands ist ein Zitat von Angela Merkel: „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna“ (Westend, 2022, 287 Seiten, 24 Euro) Zuletzt erschien von ihm „Rauhnächte“ (Westend, 2023, 188 Seiten, 22 Euro). Nach seiner Krebsdiagnose im Spätsommer 2022schreibt Luik ein Tagebuch: Er notiert seinen Innenansichten, den Schrecken, die Albträume, seine Sehnsucht nach Leben – aber plötzlich geht es um viel mehr als das persönliche Drama: um diese zerrissene, malträtierte Welt. Die so schön sein könnte, wenn, zum Beispiel, die Regierenden nicht … „So aufwühlend geraten Bücher selten“ (Harald Welzer)