Indien gerät zunehmend in den Fokus von Unternehmern und Investoren. Viele erhoffen sich in dem asiatischen Giganten eine Alternative zu dem autoritär geführten China. Doch Indien ist noch weit davon entfernt, die neue Werkbank der Welt zu werden.
De-Risking: Der Westen entfernt sich von China
Chinas Wirtschaftswachstum bleibt hinter den internationalen Erwartungen zurück. Die rigorose Pandemiepolitik Xi Jinpins führte zu einer Abwanderung ausländischer Firmen aus dem Land sowie einer nachhaltigen Verunsicherung von Investoren und Unternehmern. Die Nähe Pekings zu Moskau, die autoritäre Führung im Landesinneren und die latenten Drohungen gegen den Inselstaat Taiwan sind westlichen Handelspartnern ein Dorn im Auge. Auch produziert Peking viele Schlüsseltechnologien mittlerweile selbst, anstatt sie aus dem Westen zu importieren.
Um einer Abhängigkeit zu entgehen, versuchen westliche Volkswirtschaften, Peking aus ihren Lieferketten zu streichen. Infolgedessen ist vom De-Risking die Rede, das insbesondere in Deutschland eine große Herausforderung darstellt. China soll als Wirtschaftsmacht zunehmend von anderen Partnern ersetzt werden. Auch Peking selbst strebt eine Selbstversorgung an, und verdrängt beispielsweise internationale Firmen wie Tesla und VW aus dem eigenen Markt, indem es eine aggressive Preispolitik auf eigene Firmen wie BYD führt. Die Entfremdung von China und dem Westen beruht in Teilen also auf Gegenseitigkeit.
Enge Verflechtungen zwischen Berlin und Peking
Doch insbesondere in Deutschland tun sich viele Unternehmen schwer mit der Suche nach einem Ersatz für China. Laut einer Umfrage der Bundesbank gaben 80 Prozent der befragten Unternehmen an, die Entkopplung von China wäre „enorm schwierig“. Lange war China der wichtigste Handelspartner der Bundesrepublik. Doch die Konjunktur stottert, jüngsten Meldungen zufolge könnten die USA bald wichtigster Handelspartner Deutschlands werden. China hielt aber wichtige Aufgaben inne, die kaum von den USA übernommen werden können: Die Produktion günstiger Waren und wichtiger Teile etwa für Autos, aber auch essenzielle Halbleiter-Technologien wurden in China produziert.
Indien: die neue Werkbank der Welt?
Indien hat China als das bevölkerungsreichste Land der Welt überholt. Eine junge, dynamische Bevölkerung mit guter Ausbildung zeigt sich offen für Investitionen und anspruchsvolle Aufgaben, von Dienstleistungen bis hin zu Vorleistungen in unterschiedlichsten Wirtschaftszweigen wie dem Baugewerbe, elektrischer Ausrüstung, dem Maschinenbau und mehr. Investitionen etwa der taiwanesischen Firmen Foxtron, bekannt für die Montage von Elektroautos, und Pegatron für EDV- und Elektronikartikel, zahlten sich aus. Schnell stellten sich indische Arbeiter den neuen Aufgaben und übernehmen seither wichtige Funktionen innerhalb der Lieferkette für die investierenden Firmen.
Problematisch ist aber beispielsweise der Umstand, dass der indische Arbeitsmarkt vorrangig Männern vorbehalten ist. Zwar werden laut Schätzungen der UN bis 2030 20 Prozent der 15- bis 64-jährigen Menschen weltweit Inder sein, doch nur rund ein Drittel der Frauen im arbeitsfähigen Alter nimmt tatsächlich einen Beruf auf, während es in China rund 71 Prozent sind.
So gleicht zwar die Bevölkerungspyramide Indiens der Chinas von vor 30 Jahren. Doch diese jüngere Bevölkerung ist nicht im gleichen Ausmaß zur Arbeit bereit wie die Chinas. Und sie altert schon jetzt. Mit einer Geburtenrate von etwas weniger als 2,1 Kindern pro Frau liegt Indiens Fertilitätsrate unter dem Bestandserhaltungsniveau, sodass die Bevölkerung spätestens ab den 2060er Jahren ebenfalls schrumpfen dürfte. Chinas Bevölkerung altert derzeit rapide aufgrund seiner sehr geringen Fertilitätsrate von 1,3 Kindern pro Frau, eine späte Nachwehe der Einkindpolitik und rigoroser Arbeitskultur. Doch die kommunistische Partei will mit aller Macht eine Dreikindpolitik in der Bevölkerung durchsetzen — und auch wenn Peking seine Ziele zuweilen nur langsam erreicht, ist es doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder erfolgreich beim Erreichen seiner Vorhaben geworden.
Auch das Wesen der „stürmischen Demokratie“ Indiens sei vielen potenziellen Investoren ein Dorn im Auge, heißt es im Wall Street Journal. „Nach Angaben der Welthandelsorganisation hatte Indien im Jahr 2022 weltweit die höchsten Einfuhrzölle, mit einem durchschnittlichen Meistbegünstigungssatz von 18,1 Prozent. Im Vergleich dazu lag China bei 7,5 Prozent, die Europäische Union bei 5,1 Prozent und die USA bei 3,3 Prozent. Solche Einfuhrbeschränkungen können für Hersteller, die für die Montage und den Export ihrer Produkte auf den Import von Komponenten angewiesen sind, lästig sein“, so der Report.
Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Kluft zwischen Land und Stadt. Während China größtenteils urbanisiert ist und selbst das chinesische Hinterland für die Produktion genutzt wird, ist Indien ein weitgehend ruraler Staat, dessen Bewohner nur ungern ihren Standort verlassen. Zudem ist der Staat hoch verschuldet. Es ist fraglich, ob Neu-Delhi genügend Investitionen in die Infrastruktur aufbringen kann, um eine attraktive Basis für Fabriken, Großunternehmen und Start-ups zu schaffen. Indiens große Aufgabe besteht also darin, ausländische Direktinvestitionen anzukurbeln, um ein starker Konkurrent zu den asiatischen Tigern wie Taiwan und Südkorea, insbesondere aber China zu werden.
Die deutsche Verflechtung mit China
Doch selbst wenn es Neu-Delhi gelingen sollte, Investitionen in Indien zu verstärken und eine Alternative zu China zu etablieren, könnte die deutsche Wirtschaft sich trotzdem nicht ohne Weiteres von Peking lösen. Im Monatsbericht der Deutschen Bundesbank wird das Extremszenario einer wirtschaftlichen Abkopplung Deutschlands von China beschrieben.
Seit Chinas Beitritt zur WTO im Jahr 2001 knüpfte Deutschlands Wirtschaft enge Beziehungen zur Volksrepublik. Diese Verflechtungen führten dazu, dass „manche direkt in China engagierte Unternehmen […] um einen substanziellen Teil ihrer Umsätze und Gewinne fürchten“ müssten, sollte es zu einer plötzlichen Abkopplung kommen. Viele Vorleistungsgüter könnten kurzfristig nicht oder nur schwerlich ersetzt werden. Auch sei mit einer erhöhten Ausfallwahrscheinlichkeit von Krediten zu rechnen, da viele deutsche Unternehmen von China abhängen.
Infolgedessen, so der Bericht, liegt der Fortbestand der engen Verbindung beider Länder im gegenseitigen Interesse. Dennoch müssten Politik und Unternehmen ihre eigene Resilienz stärken und nach Alternativen China suchen.
Ob aber Politik und Unternehmen im Ernstfall diese Verbindungen aufbrechen und nach Alternativen in Indien suchen werden, bleibt fraglich. Die Vorleistungen aus China sind mittlerweile so speziell, dass es schwierig wird, diese zügig aus einem anderen Land zu beziehen. Indien könnte langfristig ein geeigneter Partner für die deutsche Wirtschaft werden, um das De-Risking voranzubringen. Doch bislang scheint die Verflechtung mit China zu verlockend, um sie aufzugeben. Auf dem WEF in Davos schien es entlarvend, dass Li Qiang, Ministerpräsident Chinas, von keinem westlichen Vertreter zum Taiwankonflikt befragt wurde. Stattdessen bot man ihm die Bühne, um über die Zukunft der künstlichen Intelligenz zu sprechen. Dieser Sektor ist einer von vielen, in denen China weltweit eine Führungsposition einnimmt, von der Indien noch weit entfernt ist.