Drei Stühle, eine Meinung! Und trotzdem wurde es auf dem Podium und im Haus der Berliner Wirtschaft nie langweilig. Lorenz Maroldt, Chefredakteur des Berliner „Tagesspiegel", diskutierte mit Peter Schink, dem neuen Chef der traditionsreichen „Berliner Morgenpost", sowie Helene Bubrowski, frühere Hauptstadt-Korrespondentin der „Frankfurter Allgemeinen" und nun Teil der Chefredaktion von Table Media, über die Landespolitik in Berlin. Der Verein Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI) hatte eingeladen. Es ging zu Tisch!
Während in deutschen Kleinstädten manchmal ja die Gefahr besteht, dass Bürgermeister und örtliche Tageszeitung ihr gegenseitiges Verhältnis der „checks and balances" tätschelnd mit Samthandschuhen austragen, kann man das von den Medien in der Hauptstadt wirklich nicht behaupten. Der Lokalpatriotismus ist in Berlin zwar dezidiert und ausgeprägt, die Regierenden im Roten Rathaus müssen sich ihren Respekt aber erst verdienen. Ein Jahr hat dafür nicht ausgereicht, im Fall von Schwarz-Rot, der Vernunftsehe aus CDU und SPD, in der ausgerechnet die Wahlverliererin Franziska Giffey ihr Amt als Regierende Bürgermeisterin für den Posten der Wirtschaftssenatorin eingetauscht hat.
Mit Personal- und Stilfragen wurde das Gespräch denn auch gleich ziemlich schonungslos eröffnet. Helene Bubrowski verlieh freimütig ihrer Verwunderung Ausdruck, wie eine einstmals ambitionierte Sozialpolitikerin plötzlich repräsentativ „über sechs Weihnachtsmärkte am Tag" stolziert, um den Schein zu wahren. „Ihre Chuzpe, einfach so weiter zumachen", bereite ihr „Unbehagen", betonte Bubrowski. An die unschöne Sache mit Giffeys verlorenem Doktor-Titel wegen Plagiatsvorwürfen musste sie natürlich auch noch mal erinnern.
Den Einwand, dass man derlei Dinge auf sich beruhen lassen könnte, entgegnete Bubrowski mit ihrer Erkenntnis, selbst im Senat würde man „statt Sachfragen nun mal lieber Personalfragen" erörtern, das sei nicht nur eine Vorliebe der Medien. Insofern nahm auch der immer noch nicht ausgeräumte Verdacht gegen Kai Wegner breiten Raum ein. Laut Lorenz Maroldt habe der offenkundig „seiner Geliebten den Job als Wissenschaftssenatorin verschafft", um ihr dann obendrein noch eine Carte blanche bei den Haushaltsberatungen zu gewähren, während andere Ressorts zum Sparen verdonnert wurden.
Alter JU-Rabauke eröffnet Lesben-Wohnprojekt
Das wollte nicht jeder im Saal goutieren. Doch Maroldt ließ es sich nicht nehmen, endlich Aufklärung in Sachen „Kai in der Kiste" einzufordern - und in der Frage, wie es der Regierende Bürgermeister mit der Wahrheit hält. Ohnehin ist der einstige „Junge-Union-Rabauke" aus Spandau, der heute in Berlin bei Eröffnungen und Einladungen in den Berliner Bezirken „den Regenbogen und das lesbische Leben" zelebriert, für Maroldt eine rätselhafte Erscheinung. „Wegner muss aufpassen, dass er nicht zum doppelten Wowereit wird", sagte Maroldt, während Helene Bubrowski die 365 Tage im Amt als die seltsame „Entpuppung Kai Wegners" wahrgenommen hat.
Damit war der Bogen zu Berlins Zukunft und den drückenden Sachfragen gespannt. Peter Schink von der „Morgenpost" befürchtet, dass Wegner im Wahlkampf „die Latte sehr hoch gelegt" hat - und nun allerorten die Enttäuschung Raum greift, dass sich nicht sonderlich viel verbessert oder gar verändert hat im vergangenen Jahr. Die nach der erfolgreichen Volksabstimmung von Teilen der Bürgerschaft geforderte Enteignung der großen Wohnungsunternehmen steht noch immer in der Koalitionsvereinbarung und schwebt über Wegner wie ein Damoklesschwert. Für Schink „ein totales Verlierer-Thema", dass der Regierende Bürgermeister nicht wirklich angehen könne, ohne sein Gesicht zu verlieren. Ähnlich ist die Lage bei der Mobilität. Der Stadtrand hat mit senen Stimmen die Radwege abgewählt. Nun „führen die ins Nirgendwo" oder brechen unvermittelt an irgendeiner Kreuzung ab. „Derweil wird über Poller auf den Straßen diskutiert", ärgert sich Schink.
Aber auch in Sachen Verwaltungsreform müsse „die Stadt schneller werden", forderte Schink, der als Newcomer für sich einen ungetrübten Blick reklamierte. Es gehe nicht voran. Neue Strukturen habe der Senat großspurig angekündigt, aber bis heute nicht geliefert. Die von Kai Wegner angeheuerte IT-Beauftragte wirkt aus Bubrowskis Sicht so, als würde sie unbeteiligt „den Prozess mit Staunen und Verwunderung von außen verfolgen". Der Bürger bekommt leider weiterhin keinen zeitnahen Termin beim Bürgeramt, obwohl dort 40 Prozent der Terminslots gar nicht eingehalten werden. Dann vielleicht doch besser auf dem Flur auf den nächsten Termin warten?
„Berlin bleibt anders" - was soll das nur bedeuten?
Eine Vision, wie es mit der Stadt weitergehen soll, sei nicht zu erkennen, da besteht ebenfalls weitgehend Einigkeit. Maroldt mokierte sich über den Versuch von Rot-Rot-Grün, der Stadt eine neuen Catchphrase zu verpassen. Der nichtssagende Spruch „Berlin bleibt anders" sei bei der Auswahl schließlich übriggeblieben. Etwas Neues habe Schwarz-Rot dem auch nicht hinzuzufügen.
Früher war Berlin wenigstens noch bekannt für den einst von Klaus Wowereit (SPD) geprägten Slogan „Arm, aber sexy!". Für keinen der drei Chronisten hat der heute noch so Gültigkeit. „So ganz arm ist Berlin ja heute nicht mehr", sagte Maroldt mit Blick insbesondere auf die vielen Startups in der Wirtschaft und vor allem den Wissenschaftsstandort. Gerade der sei „einer der größten Schätze der Stadt und sicherlich ein Unique Selling Point", findet Maroldt. Leider spielt die Wissenschaft in der Wertschätzung des Senats „keine Rolle" und habe „nicht einmal Erwähnung in der Koalitionsvereinbarung" gefunden.
Die Hauptstadt gefangen im „Sarrazinismus"
Sonderlich „sexy ist Berlin auch nicht mehr", findet wiederum Helene Bubrowski, die sich über die Identitätsfragen und Ideologie in der Stadt ärgert. „All das Gerede von der Gentrifizierung", so Bubrowski. Es wirke für sie „wahnsinnig provinziell", wie sich Berlin „ständig mit sich beschäftigt" und „in der Kiezkultur verhaftet" sei. Die Debatten um die Bebauung des Tempelhofer Feldes, das als Liegewiese genutzte historische Flughafengelände, seien dafür ein Beispiel.
Nicht zu wenig Fläche sei das Problem beim Wohnungsbau in Berlin, sondern das fehlende Geld. Wohnung hochzuziehen ist eine teure Angelegenheit geworden - beim Bau, tadelte Maroldt, „stehen keine Polen mehr Schlange". Berlin habe seine besten Jahre „im totalen Blindflug" verschwendet. Statt für die Zukunft zu planen, habe die Berliner Politik vor lauter „Sarrazinismus", wie Maroldt die verlorene Zeit der Hauptstadt zu Zeiten unter SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin nennt, seine Sozialwohnungen verjuxt und jeglichen Bewegungsspielraum eingebüßt.
Immerhin gab es ein versöhnliches Zwischenfazit: „Berlin macht trotz der Politik immer noch Spaß", so Maroldts Hoffnung - und große Freude. Während Helene Bubrowski zum Abschluss meinte: „Es könnte ja alles auch viel schlimmer sein." Wegners große Leistung bestehe darin, nach Jahren des rot-rot-grünen Aktionismus im Senat „endlich für Ruhe gesorgt" zu haben. Die Frage ist, ob dies (bis zur nächsten Wahl 2026) nicht „in Wirklichkeit Stillstand" bedeutet.