Politik

Zweiter Teil des DWN-Interviews: Deutsche Offiziere haben Warnungen ignoriert

Lesezeit: 5 min
26.05.2024 08:25  Aktualisiert: 26.05.2024 15:25
In dieser Fortsetzung des Gesprächs mit dem norwegischen Militärexperten Tor Ivar Strømmen (von gestern) erfahren Sie, warum deutsche Offiziere Strømmens Warnungen vor Russland militärischen Fähigkeiten lange ignoriert haben. Es geht auch darum, welche Rolle Deutschland gegen Russland einnimmt und was wir von Norwegen im Umgang mit Russland lernen können.
Zweiter Teil des DWN-Interviews: Deutsche Offiziere haben Warnungen ignoriert
Gebirgsjäger der Bundeswehr nehmen an der Nato-Übung Nordic Response 2024 teil. Militärexperte Tor Ivar Strømmen sieht für Deutschland eine führende Rolle in Europas Sicherheitspolitik vor. (Foto: dpa)
Foto: Kay Nietfeld

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DWN: Wie beurteilen Sie die Kommunikation und den Informationsaustausch zwischen Norwegen und seinen Partnern, insbesondere mit Deutschland, im Hinblick auf die russischen militärischen Aktivitäten?

Strømmen: Innerhalb der NATO erfolgt kein freier Austausch von Geheimdienstinformationen. Es handelt sich vielmehr um ein System des Informationsaustauschs zwischen verschiedenen Nationen, das wir nutzen, um Nachrichtendienstinformationen mit anderen NATO-Mitgliedern auszutauschen. Dies schließt Deutschland ein, mit dem wir kontinuierlich Informationen austauschen und nachrichtendienstlich zusammenarbeiten.

DWN: Glauben Sie, dass die deutschen Behörden die Informationen und Bedenken Norwegens gegenüber Russland ernst genug nehmen? Was könnte verbessert werden?

Strømmen: Vor etwa zehn Jahren betrachtete ein Großteil Europas Russland als Freund oder zukünftigen Verbündeten, während wir es weiterhin als Bedrohung ansahen. Viele Offiziere aus anderen NATO-Staaten belächelten meine Kollegen und mich, wenn wir vor den Fähigkeiten Russlands warnten, taten sie als unbedeutend ab und behaupteten, Russland stelle keine Bedrohung dar. Vor allem deutsche Offiziere stimmten in diesen Chor der Skeptiker ein und betrachteten uns oft als Relikt des Kalten Krieges.

Das ist jedoch nicht mehr der Fall. Die deutschen Behörden, insbesondere im Militär und unter den führenden Sicherheitsforschern, scheinen ihre Wahrnehmung Russlands als Bedrohung europäischer Sicherheitsinteressen deutlich revidiert zu haben. Das steht in krassem Gegensatz zu meinen Beobachtungen vor 14 Jahren, als ich in der NATO diente und häufig mit deutschen Offizieren in verschiedenen Stabsfunktionen zusammenarbeitete.

DWN: Wie trägt die verstärkte militärische Zusammenarbeit zwischen Norwegen und Deutschland zur allgemeinen Sicherheitslage in Europa bei?

Strømmen: Kooperation und Integration stärken immer die Sicherheit und die Abschreckung. Je mehr man kooperieren kann, desto mehr kann man integrieren und Operationen durchführen.

DWN: Angesichts der jüngsten Spionage- und Sabotageakte Russlands in Deutschland scheint es jedoch, dass Deutschland weiterhin zu nachsichtig mit russischen Sicherheitsbedrohungen umgeht.

Strømmen: Die Reaktionen der deutschen Behörden auf diese Geschehnisse deuten auf ein höheres Maß an Ernsthaftigkeit hin, auch wenn Deutschland noch viel Spielraum für einen pro aktiveren Ansatz hat. Während der Wandel in der Wahrnehmung bemerkenswert ist, könnten die tatsächlich ergriffenen Maßnahmen noch verstärkt werden, um sicherzustellen, dass die deutsche Sicherheitspolitik robust genug ist, um komplexen Bedrohungen zu begegnen.

Ich halte es daher für entscheidend, dass Deutschland, möglicherweise in Partnerschaft mit Frankreich, eine führende Rolle bei der Wiederherstellung der strategischen Autonomie Europas übernimmt, die wir vor 50 oder 60 Jahren an die Vereinigten Staaten abgegeben haben. Dazu muss Deutschland jedoch seine bisherige Sicherheitspolitik überdenken und sich stärker in europäische Sicherheitsfragen einbringen, um den anhaltenden Bedrohungen wirksam begegnen zu können.

DWN: Welche konkreten Schritte sollte Deutschland unternehmen, um seine Sicherheitspolitik zu stärken?

Strømmen: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland gestattet, seine Streitkräfte nicht als nationale Verteidigungsstreitkräfte, sondern als voll integrierte NATO-Komponente wiederaufzubauen. Wodurch es die strategische Entscheidungsfindung den Vereinigten Staaten überließ und in hohem Maße von den US-amerikanischen Führungs-, Kontroll- und strategischen Fähigkeiten abhängig wurde. Diese Abhängigkeit hat die Fähigkeit Deutschlands zu eigenständigem strategischem Handeln eingeschränkt und tut dies auch weiterhin, obwohl der ursprüngliche Grund – die existenzielle Bedrohung durch die Sowjetunion – weggefallen ist.

Heute folgen Europas Sicherheit und internationale Politik weitgehend der von den Vereinigten Staaten vorgegebenen Richtung, was zu einer nahezu vollständigen Abhängigkeit von der amerikanischen Politik führt. Diese Abhängigkeit ist zunehmend unhaltbar, da sich die USA zunehmend auf die Bekämpfung Chinas konzentrieren und gleichzeitig mit innenpolitischer Instabilität und sich verändernden Perspektiven zu kämpfen haben. Das stellt die Zuverlässigkeit bestehender Sicherheitsgarantien in Frage, sofern keine strikte Ausrichtung an den US-Interessen beibehalten wird. Darüber hinaus ist es in einer multipolaren Welt mit sich rasch verändernden Sicherheitsherausforderungen und unterschiedlichen Bedrohungseinschätzungen zwischen den Nationen offensichtlich, dass Europa und die USA nicht immer die gleichen Perspektiven oder Interessen teilen.

DWN: Angesichts der Notwendigkeit für Europa, sich von der US-Dominanz in Sicherheitsangelegenheiten zu lösen und seine eigene strategische Autonomie zu verfolgen, welche spezifische Rolle sehen Sie für Deutschland?

Strømmen: Europa muss sich von amerikanischer Dominanz und unzuverlässigen Sicherheitsgarantien befreien, um sich eigenständig entfalten und eine seinen Interessen entsprechende Politik betreiben zu können. Andernfalls läuft es Gefahr, zum bloßen Mitläufer amerikanischer Interessen und Politiken zu werden. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, dass Deutschland als zentraler Akteur auftritt und die treibende Kraft hinter der europäischen strategischen Autonomie ist. Deutschland sollte eine Rolle spielen, die seiner Größe, seiner Wirtschaft und seiner Bedeutung in Europa entspricht, und zwar nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in harter sicherheitspolitischer Hinsicht.

Deutschland könnte in Partnerschaft mit Frankreich oder Italien zu einer Führungsmacht in Europa werden. Eine strategische Einheit, die in der Lage ist, globalen Mächten wie China und Russland entgegenzutreten oder sie auszubalancieren und sich sogar gegenüber den USA zu behaupten. Dazu müsste Deutschland allerdings seine bisherige Sicherheitspolitik grundlegend überdenken, seine militärischen Fähigkeiten ausbauen. Zudem müsste es ein höheres Maß an strategischer Autonomie erlangen, um gegebenenfalls auch unabhängig von der NATO handeln zu können.

DWN: Letzte Frage: Was können internationale Verbündete wie Deutschland aus Norwegens Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte mit Russland lernen?

Strømmen: Russland reagiert positiv auf ein geradliniges und pragmatisches Engagement und schätzt Ehrlichkeit und Transparenz, auch wenn die Standpunkte unterschiedlich sind. Sie erwidern dies oft auf die gleiche Weise, vor allem wenn die gegenseitigen Interessen übereinstimmen. Wenn ihre politische Agenda jedoch in erster Linie auf die Interessen der Großmächte und nicht auf die Förderung freundschaftlicher Beziehungen zu ihren Nachbarn ausgerichtet ist, neigt Russland dazu, die Geschichte so zu gestalten, dass sie mit umfassenderen strategischen Zielen übereinstimmt, die weit über die Interessen kleinerer Staaten hinausgehen. Darüber hinaus ist, wie einige der neueren NATO-Mitglieder vielleicht nicht immer verstehen, Respekt eine Grundvoraussetzung für die Förderung friedlicher Koexistenz. Russland reagiert nicht gut auf Beleidigungen, Drohungen oder Anschuldigungen.

Russland als gleichwertigen Partner anzusprechen und gleichzeitig eine harte Haltung einzunehmen, fördert produktive Diskussionen, insbesondere wenn gemeinsame Interessen wie Fischerei und nördliche Seewege auf dem Spiel stehen. Die norwegische Erfahrung zeigt, dass es trotz unterschiedlicher Ansätze möglich ist, mit Russland ins Gespräch zu kommen, wenn man gemeinsame Interessen erkennt. Als strategischer Akteur handelt Russland nicht irrational, sondern nach eigenen strategischen Überlegungen und strategischem Denken. Wichtig ist, eine gemeinsame Basis zu finden und Dialog statt Konfrontation zu suchen.

Gleichzeitig sollte man Russland niemals erlauben, Konflikte bilateral auszutragen, da es sich dadurch einen erheblichen Vorteil verschafft und Situationen rücksichtslos ausnutzen kann. Die Unterstützung durch starke Verbündete ist daher unerlässlich, um den gegenseitigen Respekt aufrechtzuerhalten und einen effektiven und sinnvollen Dialog zu gewährleisten.

DWN: Herr Strømmen, vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person:

Tor Ivar Strømmen (geb. 1972) ist Marinehistoriker, -forscher und -stratege, der sich auf die Theorie der Seemacht im Kontext von Küsten- und Kleinstaaten spezialisiert hat. Als Kommandeur der norwegischen Marine verfügt er über mehr als 15 Jahre Einsatzerfahrung, einschließlich NATO-Ausbildung bei der Royal Navy und der US Navy. Derzeit ist Strømmen Dozent an der Königlich Norwegischen Marineakademie und aktiv an nationalen und internationalen Forschungsprojekten beteiligt. Er ist ein anerkannter Experte für maritime und strategische Angelegenheiten.


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