Die jüngste Entscheidung der Europäischen Union (EU), die Zölle auf Getreide- und Ölsaatenimporte aus Russland und Belarus drastisch zu erhöhen, ist mehr als nur eine handelsstrategische Maßnahme: Sie ist ein klares politisches Signal und ein wirtschaftliches Druckmittel im Rahmen der EU-Sanktionspolitik im anhaltenden Krieg gegen die Ukraine.
Die EU hatte bereits höhere Zölle auf russisches Getreide beschlossen. Dies geschah im März 2022 als Teil eines umfassenden Pakets von Sanktionen, die als Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine verhängt wurden.
Die aktuellen Zölle, die ab dem 1. Juli auf Hartweizen, Roggen und Gerste erhoben werden, sollen einerseits den europäischen Agrarsektor vor Dumpingpreisen schützen und andererseits die Finanzierungsquellen für den Krieg in der Ukraine einschränken.
Politische und wirtschaftliche Implikationen
EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis geht davon aus, dass die neuen Zölle auch dazu dienen, den europäischen Markt vor destabilisierenden Einflüssen zu bewahren. Russische Agrarprodukte, die zu äußerst niedrigen Preisen auf den EU-Markt drängen, könnten die Preise für einheimische Erzeuger drücken und so die ohnehin angespannte Lage im Agrarsektor verschärfen. Diese Maßnahme hat somit nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Dimensionen.
Laut einer Studie des Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel) könnten diese Zölle die russischen Exporte in die EU um bis zu 60 Prozent reduzieren. Dies würde nicht nur die russischen Einnahmen erheblich beeinträchtigen, sondern auch den Druck auf den russischen Staatshaushalt erhöhen.
Auswirkungen auf die EU-Landwirtschaft
Die neuen Zölle könnten langfristig sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Landwirte haben. Einerseits könnten höhere Preise für importiertes Getreide einheimische Landwirte schützen und deren Einnahmen stabilisieren. Andererseits könnten höhere Produktionskosten und potenziell steigende Preise für Futtermittel die europäische Landwirtschaft belasten.
Laut einem Bericht des „European Council of Young Farmers“ (CEJA) könnte dies zu einer weiteren Konsolidierung der landwirtschaftlichen Betriebe führen. Dabei könnten kleinere Betriebe Schwierigkeiten haben, wettbewerbsfähig zu bleiben.
Transparenz und rechtliche Grundlagen
Die EU zieht damit eine rote Linie: Russland soll nicht länger von den Märkten profitieren, die es selbst durch aggressive Politik destabilisiert. Diese Entscheidung steht im Einklang mit den Sanktionen, die bereits gegen Russland verhängt wurden, und zielt darauf ab, die finanziellen Möglichkeiten des Kremls weiter einzuschränken.
Besonders bemerkenswert ist, dass die EU eine Sicherheitsklausel der Verträge der Welthandelsorganisation (WTO) nutzt, um diese Zölle zu rechtfertigen. Diese Klausel erlaubt es WTO-Mitgliedern, Maßnahmen zu ergreifen, wenn diese zur Sicherung wesentlicher Sicherheitsinteressen notwendig sind.
Durch den Rückgriff auf diese Klausel zeigt die EU, dass sie ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland auf ein neues, rechtlich fundiertes Fundament stellt. Dies ist eine deutliche Ansage, dass Handelsbeziehungen nicht über fundamentalen Sicherheitsinteressen stehen.
Globale Auswirkungen und Kritik
Es gibt jedoch auch kritische Stimmen, die davor warnen, dass diese Zölle negative Auswirkungen auf die globale Ernährungssicherheit haben könnten. Gerade in ärmeren Ländern könnten sich durch höhere Preise für russische Getreideprodukte die Ernährungsprobleme verschärfen.
Laut einer Analyse der „Food and Agriculture Organization“ (FAO) könnten die höheren Zölle die globalen Getreidepreise um bis zu 15 Prozent ansteigen lassen. Dies könnte besonders Länder in Nordafrika und im Nahen Osten treffen, die stark von Getreideimporten abhängig sind.
Was die Experten meinen
Einige Experten sehen die Zölle als notwendige Maßnahme zur Unterstützung der Ukraine und zur Sicherung der Stabilität des europäischen Agrarsektors. Andrea Montanino vom Atlantic Council betont, dass solche Maßnahmen notwendig sind, um den Druck auf Russland zu erhöhen und die Ukraine zu unterstützen.
Andere Experten, wie Martin Qaim vom Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) in Bonn, warnen jedoch vor den möglichen negativen Folgen für die globale Ernährungssicherheit und fordern eine sorgfältige Abwägung der Maßnahmen.
Die EU versucht, diese Bedenken zu zerstreuen, indem sie betont, dass die Lieferungen an Drittländer nicht beeinträchtigt würden. Dennoch bleibt ein gewisses Risiko bestehen, dass sich die Marktverwerfungen letztlich auch auf den globalen Süden auswirken könnten.
Reaktionen und Maßnahmen
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte der EU wiederholt vorgeworfen, zu nachlässig im Umgang mit russischen Agrarimporten zu sein. Diese Kritik wurde auch von europäischen Bauernverbänden unterstützt, die seit Monaten gegen die niedrigen Preise für russische Agrarprodukte protestieren. Die neuen Zölle sind daher auch ein Versuch, den heimischen Agrarsektor zu schützen und zugleich die Solidarität mit der Ukraine zu demonstrieren.
Parallel dazu hat die Hamburger Reederei Hapag-Lloyd die Wiederaufnahme des Seehandels mit der Ukraine bekanntgegeben, trotz der weiterhin angespannten Sicherheitslage in der Schwarzmeerregion. Dies zeigt, dass es inmitten des Krieges auch Versuche gibt, die wirtschaftlichen Verbindungen zur Ukraine aufrechtzuerhalten und zu stärken. Kiews eigener Korridor für sichere Schiffspassagen hat sich als effektiv erwiesen, auch wenn die Exportmengen noch weit hinter den Vorkriegszahlen zurückbleiben.
Perspektiven noch unklar
Die Entscheidung der EU verdeutlicht, dass Handelspolitik und Geopolitik untrennbar miteinander verbunden sind. Die höheren Zölle auf russische Agrarimporte sind ein weiteres Puzzlestück in der umfassenden Strategie, Russland wirtschaftlich zu isolieren und die Ukraine in ihrem Kampf um Souveränität und wirtschaftliche Stabilität zu unterstützen.
Gleichzeitig sind einige Fakten alarmierend: Wie aus Zahlen des Statistikamts Eurostat hervorgeht, wurde in den Vorkriegsjahren 2020 und 2021 Getreide jeweils für knapp 120 Millionen Euro und gut 290 Millionen Euro aus Russland in die EU importiert. 2022 waren es rund 325 Millionen Euro und ein Jahr später fast 440 Millionen Euro. Diese Zahlen verdeutlichen die zunehmende Abhängigkeit der EU von russischen Getreideimporten und die Notwendigkeit, durch Zölle gegenzusteuern.
Wie effektiv solche Zölle sein werden und welche langfristigen Auswirkungen sie auf den globalen Agrarmarkt haben werden, wird sich künftig herausstellen. Klar ist, dass die EU wirtschaftliche Härten in Kauf nehmen will, um Russland unter Druck zu setzen.