Politik

Milliardenfalle Bürgergeld: Staatsausgaben explodieren

Lesezeit: 4 min
12.06.2024 19:00  Aktualisiert: 11.06.2030 15:00
Das Bürgergeld wird für den Steuerzahler immer teurer: Die Zahl der Bürgergeldempfänger ist wieder angestiegen und damit auch die Ausgaben um mehrere Milliarden. Auch die Krankenkassen geraten immer mehr in eine finanzielle Schieflage. Arbeitsminister Heil steht unter Beschuss: Der „Job-Turbo“ funktioniert nicht, auch die eigenen Jobcenter üben Kritik. Politische Parolen das Bürgergeld abzuschaffen oder zu reformieren, stehen wieder hoch im Kurs. Doch wie lange kann und will sich die Bundesregierung diese üppige Sozialpolitik noch leisten? Und welche „verdeckten“ Kosten kommen noch auf die arbeitende Bevölkerung zu?

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Einen „Job-Turbo“ für die ukrainischen und anderen Geflüchteten hatte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vor etwa sieben Monaten vollmundig angekündigt. Doch in den ersten fünf Monaten dieses Jahres ist die Zahl der Bürgergeld-Empfänger gestiegen, nicht gesunken.

Rekord: über vier Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte

Die Zahl der Bürgergeld-Empfänger hat einen Höchststand erreicht: Im Mai bezogen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 4,021 Millionen erwerbsfähige Arbeitslose Bürgergeld. Das sind fast 200 000 mehr als zum Start im Januar 2023. Und 82 000 mehr als im Vorjahresmonat. Etwa die Hälfte sind Deutsche – die andere Hälfte sind Ausländer, die etwa aus der Ukraine und aus Syrien stammen. Nach letzten Daten sind nur rund 25 Prozent ukrainische Flüchtlinge in Arbeit. Damit liegt die Quote der beschäftigten Ukrainer nur minimal höher als im vergangenen Juli (24,1 Prozent).

Jobcenter: „Job-Turbo“ bürokratisches Monster

Auch die Personalräte der Jobcenter üben Kritik an Arbeitsminister Heil und der Art der Umsetzung des „Job-Turbo“. In einem Brief an ihn, an die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, und an Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistages, kritisieren sie unter anderem, dass die Einrichtungen auf Erfolg getrimmte Daten anlegen müssten und Integration so sogar noch behindert werde. Sie schreiben, ein „nervös herbeigeführter schöner“ Datensatz könne keine nachhaltige Sozial- und Arbeitsmarktintegration ersetzen. Heute gebe es irrationales „Schön malen“ bei der Dokumentation der Fälle. Die Jobcenter müssten mit dem Job-Turbo zu den ohnehin anfallenden, vielen Falldokumentationen und Statistiken weitere bürokratische Aufgaben erledigen: Allein elf weitere Auswertungen gebe es mit dem Instrument. Der Brief lag der Deutschen Presse-Agentur in Berlin vor, zunächst hatte der Spiegel darüber berichtet.

CDU-Politikerin Connemann: „Job-Turbo“ nur heiße Luft

Nun gibt es heftige Kritik von der Union. Der „Job-Turbo“ sei nur heiße Luft geblieben, sagt die CDU-Politikerin und Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), Gitta Connemann, gegenüber der Welt: „Statt Job-Turbo gibt es einen Flop-Turbo.“ Das würden die Zahlen zeigen, so Connemann. Seit Einführung des Bürgergeldes seien 200.000 Menschen zusätzlich ins Bürgergeld gekommen, „zeitgleich haben wir 1,6 Millionen offene Stellen“. Sie erklärt: „Da stimmt etwas vorne und hinten nicht. Die Integration in den Arbeitsmarkt findet nicht statt. Es fehlen am Ende die Sanktionen, die erforderlich wären.“ Die CDU-Politikerin sprach sich deshalb weiter dafür aus, das Bürgergeld bei einem Wahlsieg abzuschaffen und durch eine neue Grundsicherung zu ersetzen. „Wenn jemand arbeiten kann, dann muss er das“ – sonst würden die Leistungen gekürzt, erklärt Connemann der Welt.

Lindner will Bürgergeld – Update mit schärferen Sanktionen

Auch der Finanzminister Lindner will das Bürgergeld in seiner jetzigen Form abschaffen, obwohl die FDP maßgeblich am Hartz-IV-Nachfolger und der Umsetzung des jetzigen Bürgergelds beteiligt war. Jetzt gibt es einen neuen „12-Punkte-Plan“ zur Beschleunigung der Wirtschaftswende, der die Sanktionen für „Verweigerer“ verschärfen soll. „Wer seinen Mitwirkungspflichten im Bürgergeld nicht nachkommt und beispielsweise zumutbare Arbeit ohne gewichtigen Grund ablehnt, sollte mit einer sofortigen Leistungskürzung von 30 Prozent rechnen müssen“, fordern die Liberalen. Bei schärferen Sanktionen müsse der verfassungsrechtliche Spielraum bis hin zu „einer vollständigen Streichung von Leistungen“ ausgenutzt werden. Bisher können Jobcenter den vollständigen Regelsatz nur streichen, wenn Leistungsempfänger innerhalb von zwölf Monaten zwei zumutbare Jobangebote ablehnen.

Hochrechnung: Bürgergeld könnte zehn Milliarden Euro teurer werden

Eine mögliche Kostenexplosion dürfte zusätzlich zum Wahlergebnis der Europawahl das Verhältnis von SPD, FDP und der grünen Partei belasten. Zumal schwierige Haushaltsverhandlungen anstehen und die Kosten für die Finanzierung des Bürgergeldes noch teuer werden, als von der Regierung geplant:

Zum 1. Januar 2024 wurde der Anstieg der Regelsätze (zwölf Prozent) wirksam. Folge: zwölf Prozent Mehrkosten. Bereits 2023 stiegen die Regelsätze. Im Januar und Februar 2024 lagen die Kosten für die Stütze (Regelsätze) und Unterbringung (Miete, Heizung etc.) bereits bei jeweils 3,9 Milliarden Euro! Das geht aus Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervor. Hochgerechnet auf das Gesamtjahr ergeben sich daraus Kosten von 47 Milliarden Euro. Das wären fast zehn Milliarden Euro mehr, als Sozialminister Hubertus Heil veranschlagt – und so viel wie nie. Der Etat für 2024 sieht insgesamt „nur“ 37,6 Milliarden Euro Ausgaben vor.

Dazu sagte der CDU-Chefhaushälter Christian Haase (56) zu BILD: „Zehn Milliarden Euro Mehrausgaben sind nicht akzeptabel. Minister Heil und sein penetrantes Ignorieren der Kostenprobleme sind das größte Risiko für die Haushalte 2024 und 2025.“ Er habe bereits im Herbst gewarnt, dass die Kosten aus dem Ruder laufen, so Haase.

Heils Ministerium weist die Sorgen und Kritik zurück. „Hochrechnungen auf der Basis etwaiger in zwei Wintermonaten erhobener Zahlen sind keinesfalls seriös“, so eine Sprecherin zu BILD.

Verdeckte Kosten: Bürgergeld macht auch die Krankenkassen teuer

Ein weiteres Problem für den Bundeshaushalt werden die ebenfalls steigenden Gesundheitskosten. Bürgergeldbezieher sind bei den gesetzlichen Krankenkassen mitversichert. Die Bundesregierung zahlt für sie pro Kopf und Monat eine Pauschale in Höhe von 119,60 Euro in die Kassen ein. Der Aufwand für die medizinische Behandlung ist damit aber nicht gedeckt. So entstehen den Kassen pro Jahr ein Defizit von mehreren Milliarden, die der Staat begleichen muss. Stattdessen bezahlt der Beitragszahler die Kosten. Deshalb stieg zu Jahresbeginn der Zusatzbeitrag für die gesetzlichen Krankenkassen. Eine höhere Krankenkassen-Pauschale für die Kassen lehnt die Bundesregierung ab. „Auf Grund der angespannten Haushaltslage und der Vorgaben der Schuldenbremse.“ So schreibt es die Bundesregierung im Mai in ihrer Antwort auf eine Anfrage der AfD-Fraktion im Bundestag.

Kurz gesagt: Die Bundesregierung weigert sich, die Kosten für Bürgergeld-Empfänger ausreichend zu ersetzen und bittet stattdessen die arbeitende Bevölkerung zur Kasse. Die Kosten für das Bürgergeld werden weiter steigen. Eine Reform ist unausweichlich, weil die Milliardenschwere Schieflage auf dem Rücken der Beitragszahler ausgetragen wird.

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Mirell Bellmann schreibt als Redakteurin bei den DWN über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zuvor arbeitete sie für Servus TV und den Deutschen Bundestag.


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