Nils Busch-Petersen ist, gefühlt bereits seit der Deutschen Einheit, der Häuptling des Berliner und Brandenburger Handelsverbandes. Kaum jemand kennt sich selbst mit der Frühgeschichte der Kaufmannschaft so gut aus wie er. Jetzt hat er sich in den Räumen des Architekturpreises Berlin an die lange Holztafel im Kutscherhaus am Kurfürstendamm gesetzt, um die Krise des Handels auch einmal im Kontext einzuordnen. Dabei wurde schnell deutlich, dass es ein Pauschalkonzept nicht gibt. Die Städte sind sehr verschieden, die Regionen wirtschaftlich unterschiedlich potent.
Die Hauptstadt spielte in den Ausführungen Busch-Petersens natürlich eine prädominante Rolle. Anders als manch mittelalterliche Trutzburg inmitten eines Schutzgrabens ist Berlin an einem Handelsknoten und Marktplatz an einer geeigneten Schnittstelle zwischen Germanen und Slawen an der Spree entstanden. Die Archäologen sind aktuell in Alt-Cölln und rund um das Berliner Rote Rathaus dabei, den Müll aus Hunderten von Jahren zu durchstöbern. Die Höker, Krämer und später Detaillisten haben durch die Epochen mancherlei aufschlussreiche Spuren hinterlassen. Diese bringen in Erinnerung, dass der Wandel im Handel von jeher eine Konstante war - und ist.
Vom Krämerladen zum Kaufhaus - und nun alles nur noch online?
Die Fortentwicklung vom vertrauten Tante-Emma-Laden zu den (in beinahe allen Mittel- und Großstädten vertretenen) Mode-Filialisten. So wie etwa das Einsetzen der Selbstbedienung insbesondere bei Lebensmitteln. Nirgendwo wird es freilich deutlicher als bei den Warenhäusern Berlins - von Wertheim, Hermann Tietz (Hertie). N. Israel und bis zum KaDeWe Emil Jandorfs, die vor über 100 Jahren zunächst als bedrohliche Wettbewerber erachtet wurden und deshalb mit antisemitischen Argumenten bekämpft wurden - vor allem während der Nazi-Zeit. „Die Kaufhäuser waren sicherlich kein Selbstläufer“, erinnerte Busch-Petersen an bittere 30 Jahre Anfeindungen.
Bis sich ab den 1950er-Jahren das deutsche Bürgertum kommod in ihnen einzurichten und arrangieren begann, weil sie die Bequemlichkeit und Auswahl als Kundschaft zu schätzen lernte. Neuerdings wirken die Konsumtempel plötzlich allerdings wie aus der Zeit gefallen. Galeria Kaufhof, die letzte verbliebene Kaufhaus-Kette, muss reihenweise Standorte schließen. Nur das KaDeWe, das mittlerweile auf Luxus und Shopping-Tourismus setzt, kann mit nennenswerten Umsätzen glänzen und als metropolitane Attraktion und Berlin-Sehenswürdigkeit reüssieren.
Ansonsten sind die Einzelhändler in den über 80 Zentren und Sub-Zentren sowie und gut 70 Shopping-Centern und Malis „mit den Kopf unter Wasser“ und „mit dem Überlebenskampf beschäftigt“, so Busch-Petersen. Über schicke Kauferlebnisse oder neue Shopping-Konzepte in den polyzentrischen Stadtvierteln nachzudenken, falle da natürlich sehr schwer. Insbesondere im Schlüsselsegment DOB (also der Damen-Oberbekleidung) liegen die Umsätze immer noch bei minus 30 Prozent hinter dem Stand von 2019 zurück. „Wobei das schon vor Corona losging, wenn man ehrlich ist“, gestand Busch-Petersen ein. Amazon und andere Internet-Anbieter sind den Unternehmen zum Verhängnis geworden. Wobei obendrein die staatlich verordneten Lockdowns während der Covid-Pandemie „geradezu wie ein Konjunkturprogramm für den Online-Handel“ gewirkt hätten. „Ein Fünftel des Geschäfts ist seither weg. Und das lässt sich nicht mehr reparieren“, so der Vorsitzende des Handelsverbandes Berlin und Brandenburg e.V.
Und dann noch der russische Abgriff auf die Ukraine mit der seither grassierenden Angst und Kauf-Zurückhaltung. Busch-Petersen: „Das hat das Konsum-Klima so sehr abgebremst, wie der deutsche Einzelhandel das noch nie zuvor erlebt hat.“ Denn die Frequenz in den Fußgängerzonen und Passagen ist durchaus wieder so hoch wie zuvor. Das führe nur leider nicht zu höheren Umsätzen, wie die von Shopping-Centern vorgenommene Auswertungen und Korrelation von Funkdaten und Online-Abrechnungen nahelegen würden. „Die Bürger sparen oder haben tatsächlich nicht mehr ausreichend Kaufkraft“, wusste ein Einkaufs-Zentren-Planer zu berichten.
Die den deutschen Innenstädten überall „krisengeschüttelte Räume“
Die Einkaufsstraße der deutschen Städte sind „krisengeschüttelte Räume“. Ohne „gute Ideen“ und „attraktive kulturelle Angebote“ wird es nicht mehr gehen in Zukunft, sekundierten denn auch die im Berliner Senat und an der Hochschule Cottbus für Stadtentwicklung zuständigen Vertreter und Stadtplaner sowie Hamburgs vom Ersten Bürgermeister anno 2022 ernannte Innenstadt-Koordinatorin, Prof. Elke Pahl-Weber. Sie wünschten sich mehrheitlich vor allem „besser geeignete Eigentümer“ in den Stadtzentren, die den erforderlichen Erholungsprozess des Einzelhandels nicht nur dulden, sondern aktiv unterstützen müssten. Zum Beispiel, indem sie die „Ansiedlung von Schulen, Hochschulen, Kultur- und Bildungseinrichtungen befördern“, statt dies zu verhindern. Indem sie „nicht weiter für Parkhäuser kämpfen“, sondern endlich erkennen und „akzeptieren, dass die Bürger den öffentlichen Nahverkehr in Innenstadtlagen befürworten“.
Ein anschauliches Beispiel aus Berlin hierfür ist beispielsweise der Vorschlag des Berliner Kultursenators Joe Chiallo (CDU), das beliebte Kaufhaus Galeries Lafayette an der zentralen Friedrichstraße in die zentrale Landesbibliothek des Landes Berlin zu verwandeln. Es schließt im kommenden Jahr, womit sich das gesamte und drei Jahrzehnte verfügte Bemühen, aus einer altehrwürdigen Berliner Varieté- und Kaschemmen-Meile eine Luxus-Einkaufsstraße zu machen auf ganzer Strecke gescheitert ist. Die gesamte unterirdische Friedrichstadt-Passage über drei Karrees ist bereits seit Jahren geschlossen - das nach weltstädtischen New Yorker Vorbildern einst von Investor Anno August Jagdfeld („Hotel Adlon“) konzipierte Quartier 206 noch weit länger.
Das Gegenbeispiel ist immer wieder der Feind jeglicher gut gemeinten Argumentation. In der Gesamtschau der aktuellen Probleme offenbarte sich in der Diskussion der selbsternannten Experten, dass sie vom Handel keinen blassen Schimmer haben. Architekten bauen zwar schöne Häuser, gute Quartiere sind zumeist historisch gewachsen und eben nicht am Reißbrett entstanden. „Die Innenstädte sind für Stadtplaner große weiße Flecken“, sagte Prof. Silke Weidner von der Brandenburgisch Technischen Universität Cottbus, und erntete prompt Widerspruch der versammelten Architektenschaft und des Vertreters der Berliner Bauverwaltung. Doch was sollen Einzelhändler von Attitüden - wie der Prof. Pahl-Webers - halten, die berichtete, dass die Intellektuellen ihrer Peer-Group anlässlich des 85. Geburtstages des Umweltschützers Ernst Ulrich von Weizsäcker über ihre Konsum-Scham philosophiert hätten. Dass man „den ganzen Krempel“ doch gar nicht wirklich brauche, so Pahl-Weber, und das Shopping „besser ganz einstellen“ solle.
Das war natürlich der größte mögliche Kontrast zu ihren eigenen empirischen Erkenntnissen im schnieken Hamburg, „wo die Geschäfte wie geschnitten Brot laufen“, wie Pahl-Weber wörtlich behauptete. Warum? Weil in der mondänen Hamburger Neustadt das Geld locker sitzt und besondere Shopping-Angebote auf zahlungskräftige Kundschaft treffen. „Doch wer kann sich in Deutschland maßgefertigte Schuhe oder Designer-Brillen und vom Goldschmied gefertigten individuellen Schmuck wirklich leisten?“ Diese aufgeworfene Frage blieb unbeantwortet.
Handwerker-Passage lockt Kundschaft - doch meist Zuschauer statt Käufer
Natürlich kann das „Konzept einer Handwerker-Passage“ hinein in einen romantischen Hamburger Altstadt-Hinterhof den Kunden ein besonderes Kauf-Erlebnis bescheren. Doch die Gretchenfrage ist, ob das so auch in den Thüringer Mittelstädten gilt oder gar den alten Industrie-Ortschaften im Ruhrpott. „In Leipzig ist es untersagt, die Schaufenster von leerstehenden Geschäften zuzukleben, wusste immerhin Reiner Nagel, Vorstand der Bundesstiftung für Baukultur zu berichten. Das sei infolge einer für die dortige Innenstadt eigens gefassten Gestaltungssatzung ordnungsrechtlich strafbewährt und helfe insofern wenigstens, den wachsenden Leerstand in einst allerbesten städtischen Einkaufsstraßen zu kaschieren.
Was beim notwendigen Transformations-Prozess helfen könnte, sind offenkundig „City-Manager, Intendanten oder Kümmerer“ statt den herkömmlichen Stadtkämmerern, die ganz unkonventionell Genehmigungsverfahren erleichtern oder abkürzen können. Sie würden Events anstoßen und womöglich dazu beitragen, dass ein Anachronismus wie die Ladenöffnungszeiten endlich fallen, die „nur einseitig den Online-Wettbewerb mit Amazon und neuerdings den chinesischen Versandhändlern Temu und Shein befördern“. „Wer nicht nicht Augen verschließt“, warnte Busch-Petersen, „erkennt die Gefahr, wie gerade (über den griechischen Hafen in Piräus und den Fracht-Flughafen von Lüttich) der europäische Markt mit zwei Milliarden Versandpäckchen geflutet wird.“
Wie lässt sich die Utopie einer Shopping-freundlichen Innenstadt verwirklichen, die sich resistent gegen den Online-Versand behaupten kann? „Durch Klasse statt Masse“, so lautet eine Erkenntnis. Wobei der laut Busch-Petersen „30-prozentige Umsatzeinbruch bei Bio-Lebensmitteln“ in Frage stellt, ob „Geiz nicht immer noch in erster Linie geil“ ist in Deutschland? Die Erfahrungen der Geschäftswelt sieht halt doch anders aus als die Bilder in Konzept-Mappen.
Der Immobilien-Experte und Makler Rupert Reinhardt meinte, „New York beweist, wie ein paar im Stadtbild aufgestellte Strandliegen die Laufrichtung und Aufenthaltsqualität in unseren Städten verändern könnte“. Dort könne man im Übrigen auch noch „nach einem Konzert oder einer Oper in der New Yorker Met gleich um die Ecke in einem Kaufhaus oder Mail noch die Platte oder CD dazu käuflich erwerben“, sagte er. Tatsächlich ist wohl das Kulturkaufhaus Dussmann an der Friedrichstraße in Berlin das einzige Erfolgsprojekt, das dort in den vergangenen 25 Jahren alle Widrigkeiten überstanden hat und als Magnet wirkt. In Hamburg ist es womöglich das Manufactum-Konzept.