Liebe Leserinnen und Leser,
Unternehmer haben vorgeschlagen, das altehrwürdige Berliner Messegelände (Grüne Woche, Internationale Funkausstellung) in den Flughafen Tempelhof zu verlagern. Stattdessen könnten im Westen der Hauptstadt zigtausende Wohnungen in bester Lage entstehen, während im quirligen Zentrum ein neuer Publikumsmagnet geschaffen werden könnte, um Touristen, Städte-Reisende und Kongress-Besucher nach Berlin zu locken. Macht das Sinn und wem bringt das wirklich was?
Die verklärte Sehnsucht nach der Berliner Luft ist schon ein wenig in die Jahre gekommen. Man könnte sagen, seitdem es keine Loveparade mehr gibt und Hertha BSC zweitklassig spielt, ist in der Hauptstadt die Luft entwichen, um nicht gar zu sagen, dass der prall gefüllte Ballon geplatzt ist. Kein „Regierender Partymeister“ wie Klaus Wowereit (SPD) mehr, statt dessen Kai Wegner (CDU), ein leidlich charismatischer Mann ohne sonderliche Weitsicht. Immerhin verfolgt die örtliche Wirtschaft einen neuen Plan: Wie wäre es, wenn Berlin den alten leerstehenden Flughafen Tempelhof zu einem neuen Flaggschiff umgestaltet? Die DWN stellen die faszinierende Idee für ein Veranstaltungs-Hub vor.
Das Messegelände unter dem „Langen Lulatsch“ in ein Wohnquartier verwandeln?
Das altehrwürdige Messegelände unter dem Langen Lulatsch (für Ortsfremde: gemeint ist der Berliner Funkturm) mir nichts, dir nichts aufgeben? Eine Schnapsidee, würde der gebürtige Berliner sagen. Den alten Flughafen Tempelhof, weltberühmt und zum Mythos geworden zu Zeiten der Berliner Luftbrücke, weiterhin brach liegen lassen. Dämlich, findet der Icke-Berliner. Und nun?
Plätze tauschen vielleicht? Ein besseres Messe-Zentrum auf dem Flughafen-Areal errichten, die sanierungsbedürftigen Hallen in Charlottenburg schleifen und die wertvollen Grundstücke am schönen Westend Berlins in ein neues Wohnviertel verwandeln. Wer auch immer das ausgeheckt hat, könnte als Visionär gelten - oder als Rentner mit zu viel Freizeit verspottet werden. Reinhard Müller ist wohl ein bisschen von beidem zugleich. Wobei der Architekt, studierte Stadtplaner und umtriebige Projektentwickler listig von einem Dutzend Berliner Unternehmerpersönlichkeiten spricht, die er zwar namentlich nicht benennt, aber vorgeschoben hat, als er unlängst die von seiner Firma Euref AG angefertigten Pläne öffentlich vorgelegt hat (siehe Foto-Renderings).
Den Deutschen Wirtschaftsnachrichten hat Müller diese Woche verraten, dass er die Projektmappe längst in der Tasche hatte, als sich im Juni die versammelten Honoratioren der Stadt bei ihm am Gasometer in Berlin-Schöneberg auf dem Euref-Campus versammelt haben, um Müllers Mut und Weitblick zu würdigen und ihn zu beiläufig zu fragen, was er denn nun als nächstes vorhabe. Müllers Traum: Das bis zum Bau des Pentagons in den USA einst größte Gebäude der Welt endlich zu sanieren und eine neue Zukunft zu geben. Zumindest als Spiritus Rector oder auch Souffleur, wenn er es als Unternehmer diesmal auch strikt ablehnt, wie er händeringend beteuert, die persönliche Verantwortung zu übernehmen oder gar als Investor in die Haftung zu gehen.
Der Spiritus Rector möchte diesmal nicht Verantwortung, sondern den Stein ins Wasser werfen
Nicht, dass Reinhard Müller glaubt, es handele sich um eine solche Mammutaufgabe, deren Ausgang der 71-Jährige nicht mehr erlebt. Im Gegenteil: Nach Müllers Einschätzung könnten die neuen Messehallen auf dem Vorfeld des Abfertigungsgebäudes durchaus modular eingekauft, kurzfristig aufgestellt und in absehbarer Zeit bespielt werden, ohne dass man darüber jahrelang mit den Genehmigungsbehörden verhandeln oder streiten müsste. Allein auf den eisernen Willen komme es an, auf den politischen Wagemut, etwas Neues anzupacken und für die große Stadt große neue Visionen zu entwickeln. Das ist wohl etwas zu kurz gekommen - aus seiner Sicht.
Tatsächlich hat Müller fleißig weitergebaut und gewerkelt in den vergangenen gut 15 Jahren, während Berlin sich noch dem Ruf der Party-Metropole hingab und sich selbst genug war. Für Eingeweihte ist der Durchbruch wohl anno 2011 erfolgt, als Fernseh-Moderator Günther Jauch (einst 2005 laut Emnid-Institut noch vor Steffi Graf zum „beliebtesten Deutschen“ gekürt) den Gasometer mit seiner Talkshow zur Politbühne der Republik machte und ein randständiges, Jahrzehnte lang unbeachtet gebliebenes Industriegelände mit seinen zeitlosen Backsteinbauten auf den Berliner Stadtplan gehievt und womöglich sogar auf der Landkarte Deutschlands markiert hat.
Nach einer behutsamen Entwicklung ist das Großvorhaben nun abgeschlossen und nicht nur als Tech-Campus für Bahn AG, Fraunhofer-Institut und diverse Bundesverbände für nachhaltige Energien, Mobilität und Zukunftswirtschaft, sondern inzwischen ein gemeinschaftlicher Ort der Synergie mit gut 7000 Arbeitsplätzen. Müller zufolge „ohne Subventionen“ durch die Euref AG errichtet, dafür aber mit reichlich Beharrungsvermögen des Firmengründers entstanden.
Wie reagiert die Stadt auf den kühnen Vorschlag? „Die Linken sind dagegen, gott sei Dank. Die Grünen geben sich mal wieder abwartend.“ In den Reihen der Berliner Koalition changiere die Stimmung derweil zwischen Neugier, Begeisterung und Verständnislosigkeit.
Da helfen nur noch Zahlen und Fakten. Die jüngste Messe-Bilanz etwa, die alles andere als vorteilhaft ausfällt für das Land Berlin. Die rückläufige Entwicklung bei den Berlin-Besuchern - minus drei Millionen seit dem Vor-Corona-Peak. Hotellerie, Gastronomie, Veranstaltungswirtschaft, Kongresswesen müssten alle jubilierend vorweg laufen. Doch das passiert wohl erst, wenn eine Führungsfigur den Berliner Staffelstab von Ernst Reuter und Willy Brandt im Keller des Rathauses wiederfindet und ihn (wie einst im Vorfeld der Olympia-Bewerbung für die Spiele anno 2000) wie eine Fackel entfacht und ins Ziel trägt.
Der Unternehmer und ehemalige IHK-Präsident Werner Gegenbauer wäre so ein Typ, der es immer wieder versucht hat mit Olympia- und anderen Großereignissen - mal ergebnisoffen, aber nie gänzlich erfolglos. Nicht von ungefähr, gehört Gegenbauer auch diesmal wieder zum Kreise der Initiatoren hinter Reinhard Müller - der einzige der sich unterdessen gleichfalls öffentlich bekannt hat. Müller und Gegenbauer haben beide halt nichts zu verlieren oder mehr großartig zu gewinnen. Sie haben einfach Bock, „zu gestalten, nicht einfach nur zu verwalten“, wie Müller im Gespräch vieldeutig sagte.
Über Zahlen und Geld wurde übrigens noch gar nicht gesprochen, bisher im Roten Rathaus. Erst mal ergebnisoffen drüber sprechen, so die amtierende Landespolitik .Das Projekt prangt noch seit kurzem auf dem Reißbrett Berlins. Man darf nur hoffen, dass sich wirklich jemand einen Ruck gibt. Sonst droht die Hauptstadt womöglich wieder in jene Zeiten zurückzufallen, als die Metropole als Pleitier und Bittsteller zu bundesweiter Verruchtheit als modernes Babylon-Berlin gelangt ist.