Weltwirtschaft

Wird die heutige Technologie-Welle die Entwicklungsländer untergehen lassen?

Lesezeit: 7 min
25.08.2024 13:45  Aktualisiert: 25.08.2024 16:00
Wir stehen mitten in der vierten Industriellen Revolution, angetrieben von digitalen Technologien wie KI und dem Internet, die tiefgreifende Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft haben. Entwicklungsländer stehen dabei vor der Herausforderung, den Nutzen dieser Technologien zu maximieren, ohne die sozialen und wirtschaftlichen Risiken zu ignorieren. Geeignete Technologien könnten ihnen helfen, die digitale Transformation zu meistern und global wettbewerbsfähig zu bleiben.
Wird die heutige Technologie-Welle die Entwicklungsländer untergehen lassen?
Die Auswirkungen der technologischen Fortschritte auf Entwicklungsländer sind tiefgreifend, was dringende Fragen zur politischen Ausrichtung und der Eignung neuer Technologien aufwirft. (Foto: iStock.com, gorodenkoff)
Foto: gorodenkoff

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Wir erleben derzeit die vierte Industrielle Revolution, die weitgehend durch bahnbrechende digitale Technologien vorangetrieben wird. Einige davon – wie das Internet und die künstliche Intelligenz – konvergieren und verstärken einander gegenseitig, was weitreichende Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft hat. Für die Entwicklungsländer sind die Auswirkungen tiefgreifend, und es stellen sich daher dringende Fragen zu den Entscheidungen über den politischen Kurs und zur „Eignung“ der neuen Technologien.

Selbst wenn es scheint, als würden neue Technologien die Arbeitslosigkeit erhöhen und die Einkommensungleichheit vertiefen, kann kein Land sie einfach rundheraus ablehnen. Stattdessen müssen die politischen Entscheidungsträger den vielschichtigen und komplexen Charakter der Eignung (oder Ungeeignetheit) einer Technologie für die Entwicklung ihres Landes verstehen und sich dann um nuancierte Antworten bemühen, die darauf zielen, den Nutzen aus diesen Technologien zu maximieren und die Schäden zu minimieren.

In der Entwicklungsökonomie wird eine geeignete Technologie als Technologie definiert, die auf den psychosozialen und biophysischen Kontext an einem bestimmten Ort und in einem bestimmten Zeitraum zugeschnitten ist. Entwickelt werden derartige Instrumente unter Berücksichtigung der ökologischen, ethischen, kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aspekte der Gemeinschaften, für die sie bestimmt sind. Die Eignung einer Technologie für die Entwicklung kann sich somit in vielen Dimensionen manifestieren.

Beispielsweise eignen sich Technologien aus China und Indien im Vergleich zu Technologien aus Europa und den USA eher für die Bedingungen in den am wenigsten entwickelten Ländern. Zu den für Afrika jenseits der Sahara geeigneten Technologien gehören zum Beispiel Handpumpen, Arzneimittel, Mobiltelefone und die Solarenergie. Im Gegensatz dazu wären auf die Bedürfnisse der alternden japanischen Gesellschaft zugeschnittene Automatisierungstechnologien für einkommensschwache Länder mit einer großen Zahl junger Menschen, die Arbeit brauchen, nicht geeignet.

Die derzeitige Welle neuer digitaler Technologien lässt sich in drei Kategorien einteilen: erstens effizienzsteigernde Technologien wie KI und Roboter, zweitens konnektivitätssteigernde Technologien wie mit dem Internet verbundene Geräte (von Mobiltelefonen bis zum Internet der Dinge), digitale Plattformen und virtuelle Realität und drittens infrastrukturelle Technologien wie 5G, Cloud Computing und Big Data.

Die Anatomie der Eignung

Konzentrieren wir uns auf die Kategorien zur Steigerung der Effizienz und der Konnektivität, also auf Technologien, die von Unternehmen und einzelnen Nutzern direkt genutzt werden. Meine eigene Analyse ihrer Eignung ergibt ein komplexes Bild, das viele Dimensionen umfasst, darunter die wirtschaftliche, die technische, die soziale, die ökologische, die ethische und die kulturelle. In der kulturellen Dimension kann die Eignung einer Technologie zum Beispiel von den Erwartungen der jeweiligen Gesellschaft an die Privatsphäre des Einzelnen abhängen. Diese können sehr unterschiedlich sein: Die Erwartung an die Privatsphäre im Internet ist in China deutlich geringer als in der Europäischen Union (mit ihrem „Recht auf Vergessenwerden“).

Effizienzsteigernde Technologien versprechen durch Senkung der Arbeitskosten in der Produktion zwar eine höhere Produktivität, doch wissen wir, dass die Einführung von Industrierobotern und künstlicher Intelligenz auf breiter Front zu schwerwiegenden sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen in Bezug auf Beschäftigung und Einkommensungleichheit führen wird. Auch wenn wir noch keine Arbeitsplatzvernichtung großen Umfangs beobachten können, ist das Potenzial dafür sicherlich vorhanden. Darüber hinaus droht sich das Zeitfenster für die Industrialisierung der weniger entwickelten Länder durch die Fertigung zu schließen, wenn die Industrieländer Produktionskapazitäten, in denen eine Robotisierung möglich wird, nach Hause zurückholen.

KI und Industrieroboter erfordern zudem ein erhebliches Maß an Datenspeicherkapazitäten, Verarbeitungsleistung und analytischen Fähigkeiten – eine hohe Einstiegshürde, die die Entwicklungsländer daran hindern wird, diese Technologien rasch zu übernehmen und zu den Industrieländern aufzuschließen. Und der großflächige Einsatz von KI wird außerdem viele ethische Herausforderungen mit sich bringen, was bedeutet, dass die Uhr für die politischen Entscheidungsträger tickt, um Schutzmechanismen und andere Maßnahmen zur Schadensminimierung einzuführen.

Was die konnektivitätsfördernden Technologien betrifft, so liegen deren wirtschaftliche Vorteile in niedrigeren Zugangskosten und in Skaleneffekten. Durch Abbau von Zugangsbarrieren können diese Technologien dazu beitragen, marginalisierte Gemeinschaften in die Wertschöpfung einzubeziehen und ihren Zugang zu Finanz- und Bildungsressourcen und Informationen sowie zu Gesundheits- und anderen öffentlichen Dienstleistungen zu verbessern.

Auf der Angebotsseite können konnektivitätsfördernde Technologien Möglichkeiten für eine breite Übernahme durch Arbeitnehmer und Verbraucher schaffen. Ein vereinfachter und zeitnaher Zugang zu Informationen kann zu völlig neuen Modellen der Wertschöpfung führen. Zwar erfordern diese Instrumente eine digitale Infrastruktur und digitale Grundkenntnisse, aber die Schwelle ist niedriger als bei KI und Big Data.

Darüber hinaus bieten Innovationen wie das mobile Internet den Entwicklungsländern die Möglichkeit, die traditionellen kabelgebundenen Kommunikationstechnologien, die bisher nicht verfügbar waren oder deren großmaßstäbliche Einführung zu teuer und technisch schwierig war, zu überspringen. Aber natürlich werfen diese Technologien auch ethische Herausforderungen unter anderem in den Bereichen Cybersicherheit, soziale Stabilität, Datenschutz, öffentliches Vertrauen auf.

Neue Technologien schaffen immer auch neue Arbeits- und Konsummöglichkeiten. Um allerdings künftige Fertigungstrends zu ermitteln, sollten wir darauf achten, wo die verschiedenen Kategorien digitaler Technologien interagieren und sich gegenseitig verstärken. Die Art und Weise ihrer Verbreitung und Übernahme wird die nächste Phase technologiegestützter Produktivität bestimmen.

Zwei Szenarien zeichnen sich ab. Erstens könnten sich KI und Industrieroboter bald auf breiter Front durchsetzen. Falls das passiert, wird es zu einer stärkeren und schnelleren Rückverlagerung der Produktion in die Industrieländer und zu einer stärkeren Konzentration der Produktion in einer kleineren Zahl großer Produktionszentren und Länder kommen. Die verarbeitende Industrie wird weiterhin ein wichtiger Treiber des Einkommenswachstums und der Industrialisierung sein, aber sie wird nicht mehr der Hauptmotor für die Schaffung von Arbeitsplätzen sein. Die Einkommensunterschiede zwischen Ländern werden zunehmen.

Zweitens haben sich bisher nur wenige Kommentatoren mit dem transformativen und disruptiven Potenzial des 3D-Drucks auseinandergesetzt, der das Massenproduktionsmodell der Fertigung ersetzen könnte. Diese Technologie – die durch KI erheblich verbessert wird – hat inzwischen große Fortschritte gemacht und ist nun in der Lage, das traditionelle Fließband durch dezentralere und maßgeschneiderte, näher am Verbraucher angesiedelte Produktionssysteme zu ersetzen. Bei einer Fortsetzung der aktuellen Trends könnten wir eine dramatische Komprimierung der globalen Wertschöpfungskette auf eine einzige Maschine erleben.

Was ist zu tun?

Angesichts dieser Trends müssen sich die politischen Entscheidungsträger in den Entwicklungsländern auf vier Prioritäten konzentrieren. Die erste besteht in der Beschleunigung der Digitalisierung. Es ist seit langem klar, dass digitale Technologien potenziell so revolutionär sein können, wie es für eine frühere Generation der elektrische Strom war. Je eher die Entwicklungsländer sie einführen, desto größer sind ihre Chancen, mit den etablierten Instrumenten und Methoden Schritt zu halten oder sie sogar zu überspringen. Umgekehrt stellt die Ablehnung neuer Technologien so gut wie sicher, dass man weiter zurückfällt.

Die Entwicklungsländer sollten daher alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre Investitionen in die digitale Infrastruktur zu steigern. Das könnte bedeuten, dass sie Breitbandnetze installieren, 4G oder sogar 5G auf größere Gebiete jenseits der Großstädte ausdehnen, Einrichtungen für die Speicherung und Analyse von Big Data aufbauen, die digitalen Fähigkeiten der Arbeitskräfte entwickeln, kleine und mittlere Unternehmen bei ihrer eigenen digitalen Transformation unterstützen, Regulierungskapazitäten zur Überwachung der digitalen Entwicklung aufbauen und – wenn sich die Gelegenheit bietet – Roboter oder KI-gestützte Produktionskapazitäten für Branchen entwickeln, in denen das Land bisher keine Kapazitäten hat.

Hier ist Schnelligkeit gefragt, denn KI, Industrieroboter und 3D-Druck sind auf globaler Ebene noch nicht wirtschaftlich rentabel. Solange dies nicht der Fall ist, wird die Rückverlagerung der globalen Produktion und der Wertschöpfungsketten relativ langsam vonstatten gehen, und die Entwicklungsländer werden immer noch ein (schrumpfendes) Zeitfenster haben, um durch eine fertigungsbasierte Industrialisierung aufzuholen. Dabei handelt es sich jedoch um ein neues Modell der Industrialisierung, das sich grundlegend von dem Weg unterscheidet, den die Industrieländer und in jüngerer Zeit auch Länder wie Japan, Südkorea und China eingeschlagen haben.

Die neue Industrialisierung wird zwangsläufig auf der derzeitigen digitalen Revolution aufbauen. Eine in sich schlüssige Vision der Zukunft von Produktion und Arbeit wird ebenso in ihre Gestaltung einfließen wie unterschiedliche Aspekte der jeweiligen Entwicklungsstrategie der einzelnen Länder. Die Anforderungen an Infrastruktur, Produktionsprozesse und Geschäftsmodelle werden sich sämtlich von denen der traditionellen Industrialisierung unterscheiden. Um eine Chance zu haben, müssen die Entwicklungsländer bei der Gestaltung und Entwicklung ihrer industriellen Grundlagen und der für eine dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit erforderlichen Fähigkeiten all diese Variablen berücksichtigen.

Eine zweite Priorität besteht darin, die Entwicklungsmöglichkeiten eines digitalisierten Dienstleistungssektors zu nutzen. Eine Menge Forschungsergebnisse zeigen, dass das mobile Internet, digitale Plattformen und die Gig-Economy trotz aller mit ihnen verbundenen ordnungspolitischen Herausforderungen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung hatten. Länder, die sich diese Innovationen insbesondere in den infrastruktur- und konnektivitätsverbessernden Kategorien zu eigen gemacht haben, konnten die Reichweite bestehender Dienstleistungen und Produkte erweitern und einzelne Innovatoren insbesondere in marginalisierten Gemeinschaften stärken. Technologiegestützte unternehmerische Aktivitäten können eine Gesellschaft völlig verändern, da neue Marktteilnehmer auf dem aufbauen, was andere geschaffen haben.

Die Bemühungen zur Integration der digitalen Wirtschaft in die traditionelle Produktion und den Dienstleistungssektor werden außerdem die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen steigern und ihnen eine Ausweitung ihres Marktes ermöglichen. Darüber hinaus machen digitale Technologien einige bisher nicht handelbare Dienstleistungen handelbar, indem sie die Dienstleistungen von ihren Anbietern entkoppeln. Wir können das bereits in den Bereichen Bildung, Gesundheitsfürsorge, mobiles Banking und Videostreaming beobachten. Diese digitalisierten, besser handelbaren Dienstleistungen können dann zu einem wichtigen Motor für das Wirtschaftswachstum werden. Es gibt zwar noch immer eine Debatte über das Maß, in dem ein dienstleistungsorientiertes Wirtschaftsentwicklungsmodell funktionieren kann. Dennoch sind das Einkommenswachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Vorteile für Wohlstand und Selbstbestimmung, die mit digitalisierten Dienstleistungen einhergehen, für jedes Land wichtig.

Ein drittes großes Thema ist die Zukunft der Arbeit. Die verarbeitende Industrie wird zwar ein Motor des Einkommenswachstums bleiben, aber sie wird ein weit weniger starker Motor für die Schaffung von Arbeitsplätzen sein. Die Organisation der Beschäftigung wird in vielen Sektoren, insbesondere bei wissensintensiven Dienstleistungen, flexibler und dezentraler werden, da die Arbeit ortsfern erfolgt. Obwohl immer mehr Arbeiter aus den großen Produktionsbetrieben ausscheiden werden, werden konnektivitätsfördernde Technologien dazu beitragen, die Hindernisse für marginalisierte Gemeinschaften am unteren Ende der Pyramide zu verringern.

Auch hier gibt es eine Debatte darüber, ob diese Veränderungen insgesamt wünschenswert sind, denn die Arbeit in großen Produktionsbetrieben war lange Zeit eine Quelle finanzieller Stabilität und eine Basis für den sozialen Aufstieg. Freiberufliche und Fernarbeit werden mehr Selbstdisziplin, Selbstmotivation und Selbstorganisation erfordern. Allerdings werden diese Arbeitnehmer auch mehr Autonomie, Flexibilität und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben genießen. Mit der richtigen Ausbildung und Kompetenzentwicklung haben sie vielleicht mehr Freiheit, die Arbeit zu tun, die sie tun möchten. Falls das passiert, werden wir weitreichende disruptive Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sowie neue Produktions- und Konsummuster, Pendlerströme usw. erleben.

Der politische X-Faktor

Nicht zuletzt müssen die politischen Entscheidungsträger auch die potenziellen Schattenseiten der neuen Technologien im Auge behalten. Es wurde viel über die Einführung einer „Robotersteuer“ diskutiert, um die negativen Auswirkungen von KI und industrieller Automatisierung einzudämmen. Noch wichtiger sind jedoch politische Anreize, um den Fluss menschlicher und finanzieller Ressourcen von der Forschung und Entwicklung zur Innovation und Kommerzialisierung zu lenken. Eine Idee ist zum Beispiel die Einführung eines „Technologie-Eignungs-Score“, der sich auf Entscheidungen in den Bereichen F&E, Technologietransfer und Investitionen auswirken würde. Diese Art von Ex-ante-Ansatz wäre wirksamer als Ex-post-Steuern auf den Einsatz von KI und Robotern in der Produktion.

Einige mögen einwenden, dass die Förderung „geeigneter“ Technologien dazu führen könnte, dass Unternehmen, Sektoren oder Länder hinter den neuesten technologischen Stand zurückfallen. Jedoch sind geeignete Technologien nicht zwangsläufig weniger fortschrittlich. Mobiles Internet ist geeigneter für Entwicklungsländer, in denen es keine Internetleitungen gibt und die bei der Einrichtung einer solchen Infrastruktur mit wirtschaftlichen, technischen und geografischen Beschränkungen zu kämpfen haben. Ebenso lassen sich kleine landwirtschaftliche Maschinen auf bergigen Feldern leichter einsetzen, und Solarmodule sind ideal für abgelegene, wüstenartige oder tropische Regionen.

Die Politik der Regierungen und die internationale Zusammenarbeit sollten sich vor allem auf die Entwicklung der Infrastruktur, der Fähigkeiten und der Regulierungskapazitäten in der digitalen Wirtschaft konzentrieren. Dies sind die Voraussetzungen dafür, dass die Entwicklungsländer die erforderlichen Kompetenzen aufbauen und in der aktuellen Industriellen Revolution wettbewerbsfähig sein können. Der Weg, den die heutigen Industrieländer einst eingeschlagen haben, ist inzwischen versperrt. Das digitale Zeitalter erfordert ein neues Modernisierungsmodell.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2024.

www.project-syndicate.org

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Xiaolan Fu ist Gründungsdirektorin des Technology and Management Centre for Development, Gründerin von OxValue.AI und Professorin für Technologie und internationale Entwicklung an der Universität Oxford.



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