Mit einer herzlichen Umarmung begrüßte Indiens Premierminister Narendra Modi Volodymyr Selenskyj in Kiew. Er wolle zum Frieden für die Ukraine beitragen, versicherte Modi. Konkrete Vorschläge, wie er das tun wolle, machte er nicht. Doch umso öfter nahm er Selenskyj in den Arm und bekräftigte, Indien setze sich für eine schnelle und bleibende Befriedung des Konflikts ein. Derweil steigt Indien zum wichtigsten Importeur von russischem Rohöl auf und inszeniert sich auch in Moskau als treuer Freund. Wie passt das zusammen?
Modi erregt derzeit die Gemüter. Ähnlich wie sein ungarischer Amtskollege Viktor Orbán trat Modi sowohl mit Volodymyr Selenskyj als auch mit Wladimir Putin in Kontakt. In beiden Fällen inszenierte sich der konservative Politiker als gemäßigter Mittelsmann, der mit allen Beteiligten eine friedliche Lösung des Ukrainekonflikts suchen wollte. Doch warum interessiert sich Modi ausgerechnet für den Ukrainekrieg, mit dem Indien scheinbar nur wenig zu tun hat?
Modi: „Lösungen werden nicht auf dem Schlachtfeld gefunden“
Augenscheinlich geht es Modi um nichts weiter als eine schnelle Lösung des Konflikts. Es sei „herzzerreißend“, unschuldige Kinder sterben zu sehen, mahnte er in Moskau an. Er sei mit Putin, Selenskyj und US-Präsident Biden im steten Austausch, um „rasche, nachhaltige und friedliche Lösungen für den Konflikt“ zu finden. Dabei sei es besonders wichtig, Indiens „strategische und privilegierte Partnerschaft mit Russland“ zu vertiefen, aber auch mithilfe der USA den schwelenden Konflikt in Bangladesch zu befrieden. Es geht offenbar um mehr als nur um den Krieg in der Ukraine.
Auf X dokumentiert Modi jedes dieser Treffen auf Englisch. An Lob für sein Engagement mangelt es nicht, ebenso wenig wie an Kritik für seine ambivalente Haltung zu dem Konflikt. Denn nicht erst nach seinem Treffen mit Putin zweifelt der Westen an Indien als demokratischen Partner. Seit Beginn des Krieges taktiert Modi und bespielt sowohl den Westen als auch Russland und den Globalen Süden als potenzielle Partner; er nimmt am G7-Treffen teil, bleibt NATO-Treffen aber fern, er feiert Russland als treuen Partner, kritisiert Putin aber öffentlich für Kriegsverbrechen auf ukrainischem Boden, er wünscht zum Frieden in der Ukraine beizutragen, stärkt mit massiven Ölimporten aber Russlands Wirtschaft, statt diese zu sanktionieren. Wie ist diese doppelbödige Haltung zu erklären?
Indien: ein Vermittler zwischen Ost und West
Der Grund für diese auf den ersten Blick zwiespältige Haltung liegt in der besonderen Situation Indiens. Das mittlerweile bevölkerungsreichste Land der Erde gehört laut dem Politologen Herfried Münkler zu der Pentarchie, also den fünf großen Mächten, die die Welt beherrschen. Während die USA und Europa eine westliche, demokratische Allianz bilden, verstehen sich Russland und China als Vertreter des Globalen Südens, den sie mit autokratischen Mitteln anführen. Anders als vom Westen gewünscht, hat sich Indien nicht auf seine Seite geschlagen. Vielmehr übernimmt das Land eine Art Vermittlerrolle zwischen den vier verbleibenden Mächten.
Was nach zynischem Opportunismus klingt, dürfte in Neu-Delhi als alternativlose Realpolitik betrachtet werden. Denn Indien ist nicht das neue China, der wirtschaftliche Boom hat einen jähen Abbruch erfahren. Innere Konflikte der indischen Gesellschaft werden zudem überschattet von Spannungen mit den Atommächten Pakistan und China, aber auch von dem schwelenden Konflikt im Nachbarland Bangladesch. Somit reicht es nicht, dass Neu-Delhi seine Beziehungen zu Japan und den USA vertieft, es muss auch in der eurasischen Landmasse nach Freunden suchen. Ein solcher Freund ist Russland.
So dankte Modi Putin öffentlich für die großzügigen Öllieferungen nach Indien. Diese hätten das Land vor schlimmen Konsequenzen der Inflation bewahrt. Sie wecken aber auch die Angst vor Sekundärsanktionen vonseiten westlicher Partner. So ist Indien mittlerweile der größte Importeur russischen Öls und finanziert Moskau in einem erheblichen Maße. Zwar muss Moskau sein Öl zu Discountpreisen an das Land verkaufen, doch durch die Masse der Verkäufe können die Verluste kleingehalten werden. Alleine im Juli kaufte Indien Rohöl im Wert von 2,6 Milliarden Euro aus Russland ein. Ebenfalls nicht zu verachten sind die enormen Waffenexporte Russlands nach Indien: Als wichtigster Versorger Indiens mit militärischem Material spielt Moskau auch für Neu-Delhis Verteidigungskräfte eine tragende Rolle.
Derweil versucht Modi, die Wogen zu glätten und zwischen dem Westen und Russland zu vermitteln. Um eine erstarkende Allianz zwischen China und Russland zu entwirren, gibt man sich freundlich und versucht, die engen Verbindungen mit Moskau aufrechtzuerhalten. Gleichwohl versucht Modi, ein Höchstmaß an Flexibilität zu demonstrieren: So vereinbarte er mit Polens Premierminister Donald Tusk engere Kooperationen in der Verteidigungsindustrie, gab bereits im Frühjahr 2024 an, nach Alternativen zu russischem Öl zu suchen und traf sich persönlich mit US-Präsident Biden, um seine Bindung zu den USA zu verdeutlichen.
Wirtschaft und Strategie: Sind Indisch-Deutsche Beziehungen in Gefahr?
Die Beziehungen zwischen Indien und Deutschland könnten in dieser geopolitischen Gemengelage gefährdet werden. Derzeit geben nahezu 60 Prozent aller deutschen Unternehmen mit Bindungen zu Indien an, ihre Investitionen in das Land zu erhöhen. Ein potenzielles Freihandelsabkommen mit der EU wird insbesondere von deutscher Seite vorangetrieben und könnte die Handelsbeziehungen zusätzlich vertiefen. Modi und Bundeskanzler Olaf Scholz trafen sich im Juni 2024 und bekräftigten, ihre Partnerschaft in der Erforschung von KI und der Revolutionierung der Energiewirtschaft vertiefen zu wollen.
Doch das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Indien sinkt nach vorläufigen Höchstwerten in den Jahren 2022-2023 wieder. Gespräche über ein mögliches Freihandelsabkommen laufen schon seit 2007 und könnten, ähnlich dem Assoziierungsabkommen EU-Mercosur, abklingen. Grund für diese Annahme sind erste Sekundärsanktionen vonseiten der USA gegen Indien. So hatte der US-Zoll- und Grenzschutz am 27. August die Lieferung elektronischer Geräte aus Indien im Wert von fast 39 Millionen Euro zurückgehalten, die mutmaßlich von uigurischen Zwangsarbeitern hergestellt worden waren.
Diese Verflechtungen Indiens mit China und Russland könnte sich auch für deutsche Partner wie GermanSolar oder Mercedes-Benz India, zwei der wichtigsten deutschen Unternehmen im Land, als schwierig erweisen. Ob Indien sich als quasi-neutraler Vermittler weiterhin positionieren und von günstigen Verteidigungskooperationen und Handelsbeziehungen profitieren kann, ist derzeit mehr als fraglich.