Wirtschaft

Wachsende Ungleichheit - ist Indiens Boom am Ende?

Ist Indien die neue Alternative zu China oder bloß ein Papiertiger? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Fakt ist: Der wirtschaftliche Boom unter Premier Narendra Modi ist beeindruckend. Doch um das Land tatsächlich zu einer der größten Wirtschaftsmächte der Welt zu machen, muss die Regierung ein drängendes Problem angehen: die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft.
13.07.2024 16:01
Lesezeit: 4 min
Wachsende Ungleichheit - ist Indiens Boom am Ende?
Obwohl der wirtschaftliche Aufschwung unter Premier Narendra Modi beeindruckend ist, muss die Regierung die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft bekämpfen, um Indien zu einer der größten Wirtschaftsmächte zu machen. (Foto:dpa) Foto: Ashish Vaishnav

Wirtschaft Indiens: Boom ohne Ende?

Im Vergleich zu China kann Indien in vielen Bereichen auftrumpfen: Eine junge Bevölkerung, gute Beziehungen zum Westen und ein wirtschaftliches Wachstum von sechs bis acht Prozent jährlich sprechen für die weltweit größte Demokratie. Auch der schwelende Handelskrieg zwischen China und dem Westen begünstigt die indische Volkswirtschaft, die von vielen Beobachtern als Alternative zu China betrachtet wird.

Die stabile Regierung des hindu-nationalistischen Premierministers Modi kann zudem das Investitionsklima weiter verbessern. Mit ehrgeizigen Initiativen schafft Modi es, insbesondere US-Investitionen in das Land zu lenken. Die indischen Löhne bieten dafür eine fruchtbare Grundlage, diese betragen etwa ein Drittel der Löhne in China und lediglich ein Vierzehntel der US-amerikanischen. Doch vornehmlich in diesem Lohngefälle lässt sich auch ein Faktor ablesen, der den indischen Boom beenden könnte, nämlich die Ungleichheit innerhalb der indischen Gesellschaft.

Demographie, Ausbildung und innere Spannungen: Droht der indische Traum zu platzen?

Die zunehmende Distanz des Westens von China setzt voraus, dass ein ebenso fähiger Partner gefunden wird. Der große Wunsch westlicher Volkswirtschaften dürfte ein verlässlicher, junger Akteur in Asien sein, der gewinnbringende Handelsbeziehungen ermöglicht, den westlichen Werten zumindest formal zustimmt und vor Krisen gefeit ist. All diese Voraussetzungen erfüllt Indien aber nur zum Schein.

Viele Kritiker vermuten: Indien ist nicht das neue China, da der Vergleich beider Volkswirtschaften hinkt und der Erfolgskurs Neu-Delhis jäh unterbrochen werden könnte. Folgende Gründe sprechen dafür:

1. Indiens demographische Situation ist nur scheinbar günstiger als die chinesische

Zwar konnte Indien China im April 2023 als bevölkerungsreichstes Land der Erde ablösen und weist bis heute eine höhere Fertilität auf. Doch hier bekommen die Frauen im Schnitt nur zwei Kinder, sodass die Bevölkerung wie die chinesische zu altern beginnt. Zudem ist die Frauenerwerbsquote Indiens deutlich niedriger als die chinesische: So gingen von 100 indischen Frauen nur knapp 33 einer Arbeit nach, während es 60 in China waren. Mit einer Gesamterwerbsquote von etwas mehr als 53,3 Prozent im Jahr 2023 lag Indien deutlich unter der chinesischen von 66,4 Prozent.

2. Indiens Arbeitskräfte sind nur bedingt gut ausgebildet

Indien wird schnell mit hervorragend ausgebildeten IT-Profis, ehrgeizigen Kleinunternehmern und einer starken Mittelschicht assoziiert. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Alphabetisierungsrate des Landes im Jahr 2022 lediglich bei 76 Prozent lag. In ruralen Gebieten Indiens ist die Qualifikation der Arbeitnehmer mitunter sehr niedrig, sodass es verfehlt wäre, dort den raschen Ausbau funktionaler Industriestandorte zu erwarten.

3. Indien bietet nur eine unzureichende Infrastruktur für eine weitere Industrialisierung

Im Vergleich zu China, das sein Hinterland konstant zu einer neuen Werkbank ausbaut, fehlt an vielen Stellen in Indien noch die nötige Infrastruktur für eine weitere Industrialisierung. Zwar mag die Schaffung von Produkten in Indien grundsätzlich günstiger sein als etwa in China, durch den unzureichenden Ausbau von Straßen und Häfen verteuert sich allerdings der Export enorm, sodass die Gesamtkosten mitunter höher ausfallen können.

4. Die politische Stabilität Indiens könnte kippen

Indessen werden die jüngsten Parlamentswahlen Indiens als Pyrrhussieg Narendra Modis und seiner rechtsgerichteten Bharatiya Janata Party (BJP) bezeichnet. So muss der amtierende Premier mit diversen Oppositionsparteien zusammenarbeiten, die den zuweilen autoritären und hindu-nationalistischen Ambitionen Modis einen Strich durch die Rechnung machen könnten. Es stellt sich die Frage, ob Modi auch dieses Klima beherrscht und er es schafft, sozialen Frieden im Land trotz der jüngsten Machtverschiebungen zu schaffen.

5. Das Korruptionsniveau Indiens bleibt erschreckend hoch

Indien gilt als das Land mit der höchsten Bestechungsrate in Asien, sodass persönliche Beziehungen zu lokalen Stakeholdern unabdingbar sind, um erfolgreiche Geschäfte zu machen. Um zu einer stabilen Wirtschaftsmacht zu werden, muss die indische Regierung diesen Missstand umgehend verändern, was ihr nach den enttäuschenden Wahlergebnissen durchaus schwer fallen könnte. Entsprechend argwöhnisch sind potenzielle Partner auch, wenn indische Politiker urplötzlich protektionistische Maßnahmen ausrufen und extreme Hürden für ausländische Direktinvestitionen schaffen.

6. Indiens größtes Problem bleibt die Ungleichheit seiner Bevölkerung

Das jedoch größte Problem des aufstrebenden Landes stellt die soziale Ungleichheit dar, die sich schon allein aus den vorangegangenen Missständen ergibt. Während eine extrem autoritäre Führungsriege Chinas Bevölkerung zwar in Unfreiheit drängte, ihr dafür aber Wohlstand einbrachte, schaffte es die stürmische indische Demokratie nicht, ihrer heterogenen Bevölkerung zu mehr Gleichheit zu verhelfen.

Nicht umsonst präsentieren sich die amtierende wie auch die Oppositionsparteien als Vertreter der einfachen Leute, ohne es jedoch zu sein. Denn die Ungleichheit innerhalb der indischen Gesellschaft nimmt weiter zu, und ein beachtlicher Teil der Bevölkerung kann von dem wirtschaftlichen Aufschwung des Landes nicht profitieren. So spricht das Wall Street Journal von einer Dichotomie aus schwacher Konsumnachfrage bei starkem Wachstum des BIP innerhalb der indischen Wirtschaft. Laut dem World Inequality Lab wuchsen die Einkommensunterschiede während der letzten 20 Jahre erheblich, die Top 10 Prozent des Landes besitzen etwa 57,7 Prozent des gesamten Einkommens, während es in China nur etwa 43,4 Prozent sind.

Somit gehört Indien zu den Ländern mit den größten Einkommensunterschieden weltweit und ist in etwa vergleichbar mit Südafrika. Gründe hierfür liegen in der oben erwähnten schwachen Infrastruktur: Indien schafft es nicht, seine in der Landwirtschaft arbeitende Bevölkerung in die verarbeitende Industrie zu verlagern. Dringend notwendige Agrar- und Arbeitsreformen scheitern an politischen Widerständen, die sich infolge der Machtverschiebungen noch verschärfen könnten.

Schlimmer noch: Das vorhandene Prekariat wird nicht nur nicht ausgebildet, sondern auch in unhaltbare Arbeitsverhältnisse gezwängt. So berichteten die DWN kürzlich von desaströsen Arbeitsbedingungen in der asiatischen und vornehmlich indischen Industrieproduktion, die mit moderner Sklaverei gleichgesetzt werden könnten. Auf Grundlage solcher ausbeuterischer Verhältnisse können zwar kurzfristig lukrative Deals geschaffen werden, eine gesunde und stabile Wirtschaftsmacht braucht aber nachhaltige und menschenwürdige Konzepte.

Eine riesige Chance und ein noch größeres Risiko

Somit schafft es Indien bislang nicht, den rasanten Aufstieg Chinas nachzuahmen. Die Anpassung der Frauenerwerbsquote, die Schaffung einer modernen Infrastruktur und eines inklusiven Bildungssystems sowie die Verlagerung der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung hin zur verarbeitenden Industrie sind die größten Baustellen, die das Land derzeit zu bewältigen hat.

Gelingen ihm diese historischen Aufgaben nicht, könnte der derzeitige Boom ein rasches Ende finden. Westliche Akteure wie Deutschland wären in diesem Fall besser beraten, sich an zuverlässigere Partner wie Vietnam zu halten, um ihre Abhängigkeit von China zu verringern.

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Virgil Zólyom, Jahrgang 1992, lebt in Meißen und arbeitet dort als freier Autor. Sein besonderes Interesse gilt geopolitischen Entwicklungen in Europa und Russland. Aber auch alltagsnahe Themen wie Existenzgründung, Sport und Weinbau fließen in seine Arbeit ein.

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