Weltwirtschaft

Erdgas: Hohe Preise trotz voller Speicher

Lesezeit: 4 min
08.09.2024 13:48
Europa bereitet sich in Sachen Energieversorgung auf den Winter vor. Die Gasspeicher sind voll und die Nachfrage sinkt. Dennoch liegen die Erdgaspreise auf einem Neunmonatshoch.
Erdgas: Hohe Preise trotz voller Speicher
Trotz voller Gasspeicher und sinkender Nachfrage liegen die Erdgaspreise auf einem Neunmonatshoch (Foto: dpa).
Foto: Jens Büttner

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Mit Beginn auch des diesjährigen europäischen Spätsommers richten sich die Blicke vor allem der hiesigen Versorgungsunternehmen, der energieintensiven Industrie und nicht zuletzt der Politik abermals zunehmend sorgenvoll auf den bevorstehenden Winter. Seit Beginn des Ukrainekrieges ist die zuvor umfassende Versorgung Westeuropas mit Erdgas aus russischer Produktion erheblich eingeschränkt, entsprechend groß ist die Angst vor Engpässen und ruinösen Preisspitzen vor allem in der nachfragestarken kalten Jahreszeit. Bislang traten die denkbaren Katastrophenszenarien nicht ein, dank milder Winter und neuer Lieferanten. Während Russlands Liefermenge in die europäische Union im Jahr 2019 mit 180 Mrd. Kubikmetern ihren Höhepunkt erreichte und sich danach bis Ende 2023 auf 28,3 Mrd. Kubikmetern ermäßigte, legten die Anteile Anderer kräftig zu. So haben die USA ihren Anteil am EU-Gasmarkt von 18,9 Mrd. Kubikmetern im Jahr 2021 zwei Jahre später auf 56,2 Mrd. Kubikmeter erhöht, Norwegen steigerte den seinen von 79,5 Mrd. Kubikmetern im Jahr 2021 bis 2023 auf 87,7 Mrd. Kubikmeter. Weitere Lieferanten waren nordafrikanische Länder, Großbritannien und Katar.

US-Preise unter Druck

Lässt man den Blick einmal kurz über den Tellerrand schweifen und wendet sich dem US-Erdgasmarkt zu, zeigt sich auf die Preise bezogen eine erstaunliche Diskrepanz zu dessen europäischem Pendant. Denn während diese in den USA seit Mitte Juni in der Spitze um mehr als 40 % nachgaben und sich bislang nur leicht erholten, zog der hiesige Benchmark-Kontrakt an der niederländischen Title Transfer Facility (TTF) kräftig an, und notiert derzeit auf einem Neunmonatshoch. Allein in den vergangenen zwei Monaten verteuerte sich europäisches Erdgas um gut 30 % und kostet aktuell mit rund 36 EUR/MWh 59 % mehr als zum vor einem halben Jahr markierten Tiefststand (22,65 EUR/MWh). Das ist umgerechnet mehr als fünf Mal so viel, wie US-Gas. Die dortige, für die Verbraucher günstige Situation, ist vor allem auf den sehr milden Winter 2023/24 zurückzuführen, der Abbau des dadurch vorhandenen riesigen Überschusses geht nur langsam voran. Derzeit liegen die Vorräte auf dem zweithöchsten Stand zu dieser Jahreszeit und 17 % über dem saisonalen 10-Jahresdurchschnitt. Interessanterweise ist die Versorgungslage in Europa ebenfalls bestens, die Kombination verschiedener Unwägbarkeiten sorgt hier jedoch für einen gehörigen Risikoaufschlag.

Speicher voll, Nachfrage niedrig

Was die Energieversorgung für den kommenden Winter betrifft, so scheint Europa bestens gerüstet. Dass die regionale Erdgasnachfrage mittlerweile auf ein Niveau abgesunken ist, welches so tief liegt, wie seit 40 Jahren nicht mehr, hilft natürlich, vor allem aber sind die hiesigen Gasspeicher prall gefüllt. So wurde das Füllstandsziel von europaweit 90 % bereits am 19. August, zehn Wochen vor dem offiziellen Stichtag am 01. November, erreicht, derzeit liegen die Kavernen bereits bei 92,6 % ihrer Gesamtkapazität. Deutschland, welches im niedersächsischen Rehden über Europas größten Erdgasspeicher verfügt, hat seine Einspeicherungen mit einem Füllstand von derzeit über 95 % beinahe abgeschlossen. Damit wird Europa sowohl dem kommenden Winter als auch einem möglichen Stopp der russischen Gaslieferungen über die Ukraine begegnen können. Dass die Preise nicht, ähnlich wie in den USA, kräftig einbrechen, hat mehrere Gründe.

Welche Risiken halten die Preise hoch?

Wichtigster Preistreiber für den blauen Brennstoff bleibt die Entwicklung des Ukraine-Kriegs. Zwar sind die russischen Erdgaslieferungen in die EU in den letzten Jahren massiv gesunken, nichtsdestotrotz bezieht Europa immer noch Gas aus Russland, welches über eine Pipeline durch das ukrainische Kriegsgebiet fließt. Selbst heute, mehr als drei Jahre nach dem Einmarsch Russlands, sind Österreich, die Slowakei, Ungarn und Italien immer noch in hohem Maße auf die Gaslieferungen aus Moskau angewiesen. Die Gefahr, dass diese russischen Gaslieferungen in Kürze eingestellt werden könnten versetzte den Markt in Aufruhr. Kurz vor Ablauf einer entscheidenden Erdgastransportvereinbarung über ukrainische Pipelines von Russland nach Europa, die im vergangenen Jahr immer noch 15 Mrd. m³ Erdgas gen Westen beförderten, stieg das Risiko eines plötzlichen Lieferstopps zusätzlich erheblich an, nachdem die Ukraine überraschend in die russische Region eingedrungen war, in der sich eine wichtige Verdichterstation befindet. Die Spannungen ließen die europäischen Preise mitten in der normalerweise nachfragearmen Sommersaison in die Höhe schnellen. Zwar fließt über diese Route nur etwa 5% des europäischen Bedarfs, dennoch bleibt die Nervosität angesichts derartiger Erschütterungen hoch. Sollte dieses Gas wegfallen, sie es durch eine „regulären“ vertragsbedingten Lieferstopp oder durch die Folgen von Kriegshandlungen, scheinen die derzeitigen europäischen Gasvorräte nicht auszureichen.

Ein deutlicher Hinweis darauf, dass Europa seine Energiekrise noch nicht überwunden hat, ist, dass die aktuellen Preise zwar viel niedriger sind als 2022, aber immer noch doppelt so hoch wie in der Vorkriegszeit. So ist der Verbrauch in Europa seit Beginn der Gaskrise im Jahr 2021 erheblich zurückgegangen, zum einen, da die hohen Preise die energieintensive Industrie belasten und darüber hinaus, weil politische Entscheidungen die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien massiv förderten. Eine Studie der Columbia University in New York kam nun zu der Einschätzung, dass die europäische Nachfrage in diesem Jahr auf den niedrigsten Stand seit 1984 fallen dürfte. Damit wäre der Verbrauch auf einem Tiefpunkt angelangt, von dem aus ein weiterer Rückgang mehr und mehr unwahrscheinlich wird. Das „Risiko“ einer sich wieder belebenden Industrietätigkeit mit drastisch anziehender Nachfrage ist ein Argument für stabile Erdgaspreise.

Des Weiteren ist der Erdgasmarkt dafür bekannt, sehr sensibel auf Wetterereignisse zu reagieren. Nicht umsonst trägt der Kontrakt der US-Terminbörse NYMEX, welcher in der Übergangsphase vom Winter zum Frühjahr verfällt, den sehr bildlichen Beinamen „Widow Maker“, da dessen oftmals wilden und sehr schnellen Sprünge durchaus existenzvernichtende Ausmaße annehmen können. Während nun in den letzten zwei Jahren das El-Niño-Phänomen, welches dazu beitrug, die globalen Temperaturen in die Höhe zu treiben und half, die Auswirkungen der Energiekrise auf dem Kontinent zu verringern, schwächt sich dieses nun schnell ab. Meteorologen gehen davon aus, dass der entgegengesetzte Wettertrend, La Niña genannt, wahrscheinlich ab Oktober oder November vorherrschen wird. In diesem Fall könnte Europa ein kühlerer Winter mit deutlich höherem Heizbedarf bevorstehen.

Europa steht im Wettbewerb

Angesichts der sehr komfortablen Versorgungslage besteht kein Grund zur Panik, wenn alles gut geht, hat Europa genügend Gas, was die Preise zum Jahresende hin wieder sinken lassen könnte. Allerdings ist die Lage fragiler, als es der bloße Blick auf die Speicherstände suggeriert. Das Preisgeschehen an den Großhandelsmärkten trägt den bestehenden Risiken Rechnung.

Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass die schnelle Speicherbefüllung nur deshalb gelang, weil der vergangenen Winter ungewöhnlich mild war und Europa deshalb schon mit höheren Füllständen in die diesjährige Einspeichersaison gestartet ist. Ohne dieses Wetterglück wäre diese Leistung nicht möglich gewesen, schließlich unterlag Europa in diese Sommer im Wettbewerb um Flüssiggasimporte der asiatischen Konkurrenz: 15 % bis 25 % lagen die hiesigen Importmengen unter den entsprechenden Werten der beiden Vorjahre. Ob die Vielzahl an LNG-Tankern, die in den letzten beiden Wintern als schwimmende Lagertanks vor den europäischen Küsten lagen in diesem Jahr ebenfalls zur Verfügung stehen ist zudem unsicher. Auch um sie herrscht Wettbewerb, und momentan begünstigt die Preisdifferenz zwischen den asiatischen und europäischen LNG-Märkten eher die Fahrt gen Osten als nach Westen. Perspektivisch erfordert vor allem der steigende Wettbewerbsdruck kluge Versorgungsstrategien. Sich auf das Wetter zu verlassen könnte eines Tages schief gehen.

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Markus Grüne (49) ist langjähriger professioneller Börsenhändler in den Bereichen Aktien, Derivate und Rohstoffe. Seit 2019 arbeitet er als freier Finanzmarkt-Journalist, wobei er unter anderem eigene Börsenbriefe und Marktanalysen mit Fokus auf Rohstoffe publiziert. 


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